Hedonismus?

Wozu denn das???

 

Hedonismus [griech.], von Aristipp begr. ethische Auffassung, daß die LUST Ziel und sittl. Maßstab des menschlichen Handelns sei (sinnl. oder geistige Genussfähigkeit als Tugend)

Schön wäre die Welt, wenn wir uns einfach nur relaxt zurücklehnen könnten, um geile Partys zu feiern. Leider ist der menschliche Verstand aber ein gar wunderliches Ding, welches zahlreiche Zeitgenossen dazu veranlaßt, nichts mehr zu fürchten als entfesselte Sinnlichkeit.


Diese Abscheu vor der Lust ist aber keineswegs neu, sondern beinahe so alt wie die ganze verrückte Bande,die sich Menschheit nennt. Von einem fernen Stern aus betrachtet, so Friedrich Nietzsche im vorletzten Jahrhundert, würde diese absonderliche Unlust an der Lust wahrscheinlich zu dem Schluß verführen, "die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel wehtäten als möglich, aus Vergnügen am Weh-tun - wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen."


Kaum irgendwo ist der Haß auf die sinnliche Natur des Menschen heute ausgeprägter anzutreffen, als in den ländlichen Gefilden westlich des Großen Teiches. Dort hat sich, berichtet die Autorin Daphne Patai, mittlerweile eine regelrechte "Belästigungsindustrie" etabliert. Was die "sexuelle Belästigung" ist, der die "feministischen" Betreiberinnen dieses Geschäftszweigs nachstellen, bleibt indes sehr vage definiert: "Sexuelle Belästigung kann so subtil wie ein Blick sein oder so offensichtlich wie eine Vergewaltigung." Als sicherstes Kriterium gilt das Unbehagen der mutmaßlichen Belästigten. Eine derartige begriffliche Unschärfe ist allerdings typisch für alle Hexenjäger, denn so läßt sich am Ende noch jeder Widersacher des Teufelspaktes überführen.


Unter den neuzeitlichen HexenjägerInnen ragt besonders Andrea Dworkin hervor, die auch hierzulande durch ihre pornofeindlichen Pamphlete einen gewissen Bekanntheitsgrad genießt. Ihrer Meinung nach ist die Ursache für die Unterdrückung der Frau nichts anderes als der heterosexuelle Koitus. Als Weg zur Freiheit empfiehlt sie ihren "unterdrückten" Geschlechtsgenossinnen deshalb Enthaltsamkeit -ganz nach dem Vorbild mittelalterlicher Klosterfrauen.

In den USA und dem in dieser Hinsicht nicht minder bekloppten Kanada zeigen derlei Verrücktheiten bereits Wirkung. An manchen amerikanischen Schulen haben die Eltern ein Klagerecht gegen die Schulbetreiber, wenn sich ihre Sprößlinge sexuell belästigt fühlen. Im kanadischen Winnipeg erließ eine Schule jüngst ein Kußverbot, eine weitere kanadische Schule verbot gleich jede Form von körperlicher Berührung. Begründung: Die Schule ist ein Arbeitsplatz und bei der Arbeit herrscht eben absolutes Lustverbot. An US-Universitäten überwachen sogenannte "Frauenbeauftragte" akribisch das Privatleben von Studenten und Dozenten. Firmen, die keine Fälle von sexueller Belästigung nachweisen können, erhalten vielfach keine öffentlichen Aufträge, weil man ihnen Vertuschung unterstellt.


Nun könnte man über derlei Narreteien belustigt mit dem Kopf schütteln. Leider ist es aber so, daß die tumben Bundestags-Teutonen seit jeher nachahmen wollen, was ihnen der Ferne Westen als modern auftischt. Herta Däubler-Gmelin, unsere Bundesjustizministerin, arbeitet bereits an einem Anti-Porno-Gesetz, das maßgeblich von Alice Schwarzer & damit mittelbar auch von Frau Dworkin beeinflußt ist. Eine solche Lex-Schwarzer könnte nicht nur den munteren Filmchen von Thaurs Innovative ProdAction ein Ende bereiten, sondern auch meinen/deinen/euren/unseren Lustbarkeiten. Was ihr/du/ich/wir für unser exhibitionistisches Privatvergüngen halten, könnte dann, als öffentliche Pornodarbietung eingestuft, strafbar werden.

Das wahrhaftig kein Unfug zu blöd ist, um nicht doch Gesetzeskraft zu erlangen, zeigt warnend das Beispiel Schwedens. Dort wurde unlängst der Erwerb sexueller Dienstleistungen, d.h. der Besuch von Prostituierten, unter
Strafe gestellt. Wenig später warnte die schwedische Presse in einer konzertierten Aktion davor, daß die schwedische Demokratie durch das Wirken der organisierten Kriminalität gefährdet sei. Wahrscheinlich hat in Schweden seit letztem Jahr besonders das Erpresserhandwerk einen goldenen Boden.

 

Eine neue Sicht der Körperkultur

Üblicherweise bekleidet der Mensch seinen Körper im Gegensatz zum Tier, und der Grund
dafür ist nicht allein der Schutz vor Kälte.
Selbst in der liberalsten Kultur bestimmt zumindest die Bedeckung der Geschlechtsteile
den eigentlichen Ausgangspunkt des Anziehverhaltens.
Die Bekleidungsnorm wird also größtenteils von einem Schutzmechanismus bestimmt,
der eventuellen Übergriffen vorbeugen will
(eigentlich ja wohl ein gesellschaftliches Armutszeugnis! ):
das "Eigentliche" sollte bedeckt bleiben; Koketterie & Anspielungen, was sein könnte
( ohne sich etwas zu vergeben), bilden den Höhepunkt des bisherigen Balzungsverhaltens
in der Öffentlichkeit.

Das Ideal als Stätte sexuell-bewußter Begegnungsmöglichkeiten
wäre die Umkehrung dieses auf Schutzverhalten aufgebauten Dress-Codes: anstatt die
Geschlechtsteile zu schützen, könnte Kleidung eingesetzt werden, um sie zu präsentieren.
Erst, indem das "Geheime" öffentlich kommuniziert wird, kann authentisches Verhalten eintreten.
Dasselbe gilt für den psychischen Bereich: die "Verkleidung" des Wesentlichen muß offengelegt
werden
("Was will ich hier ?"), dementsprechendes Verhalten ist vonnöten.

Damit dies alles passieren kann, und zudem möglichst auf eine Art & Weise,
daß es dem eigenen Lust-Ideal entspricht, könnte sich der einzelne Gast zum Thema machen,
die Handhabung der "Öffnung oder Schließung des "EIGENEN PERSÖNLICHEN RAUMS
zur rechten Zeit", als sprirituelle Herausforderung anzunehmen.


Die Erfahrung zeigte, daß eine splitternackte, aber selbstbewußte Frau, weit weniger dumm angemacht wird
als der Unschuldsengel in Schlabberklamotten, weil die psychische Anforderung an den Mann als Mann
wesentlich größer ist
(kein Aufwandsvergleich zur Häschen-Jagd !) .

 

In diesem Sinne:

Rosenstolz!

Maskensex!

 

Zärtlichkeit und Treue
von August E. Hohler




Utopische Gedanken über Liebe, Ehe und Eifersucht ...sowie über Frieden und
Krieg

Die Ehe ist in der Krise, die Zweierbeziehung überfordert, das
Zärtlichkeitsmanko in der Welt enorm, die Feindseligkeit zwischen den
Menschen lebensgefährlich: Müssen wir da nicht, um die Chancen für
Friedfertigkeit und Wohlbefinden zu erhöhen, eingefahrene Denkbahnen
verlassen, zum Beispiel eingefleischtes Besitzdenken überwinden und uns um
einen neuen Begriff von Treue bemühen? Um eine Treue, die sich nicht
notwendigerweise als sexuelle Treue versteht, sondern als Vertrauen, das aus
der Zärtlichkeit und Freiheit wächst, die wir als Liebende einander
schenken?

August E. Hohlers "utopische Gedanken" sind eine Weiterführung und
Vertiefung seiner vielbeachteten Überlegungen, die im Oktober 1978 unter dem
Titel "Wir leben. Leben wir? Und wozu?" erschienen und die sich unter der
Überschrift "Auf der Suche nach dem Sinn unseres Lebens" auch in seinem Buch
"Wozu das alles?"
(Ex Libris Verlag, 3. Auflage 1981) finden. Einander
halten in Zärtlichkeit, einander lassen in Freiheit als Utopie geglückter
zwischenmenschlicher Beziehungen?


Einander halten...
Meine Mutter war über achtzig, ich über vierzig, als ich eines Tages
ungewohnterweise (denn St. Galler sind trockene, "brötige" Leute) meinen Arm
um ihre Schultern legte und sie ein wenig an mich zog, ein wenig an mich
drückte - ohne ersichtlichen Anlass, aus einer aufwallenden Zuneigung heraus
oder vielleicht eher in dem halbbewussten Bedürfnis, zu ihren Lebzeiten
etwas zu tun, was wir lebenslang verpasst hatten. Die Wirkung war
erstaunlich und wunderbar: die Mutter, diese alte, ganz unsinnliche Frau,
wie ich gemeint hatte, wurde über und über rot in ihrem jetzt plötzlich
zaghaft strahlenden Gesicht: rot vor Verlegenheit und Scham, rot aber auch
aus Freude und, ja, aus Vergnügen und Lust: ihr Körper, zu dem ich nie eine
Beziehung hatte, weil er gar keine zu erlauben schien, antwortete dankbar
zustimmend, fast ohne dass sie es merkte.

Diese Sekunden der Zärtlichkeit, wortlos, denn da war nichts zu sagen,
unsere Körper sagten alles (und unser Körper, wenn wir ihn gewähren lassen,
weiss Bescheid), diese paar stummen Sekunden wogen oder hoben Jahre und
Jahrzehnte fruchtloser Streitereien auf, wie sie zwischen, sagen wir,
konservativen Eltern und abtrünnigen Kindern seit je üblich sind; diese
Augenblicke der Zärtlichkeit räumten weg, was uns trennte, und legten frei,
was verstellt auch immer dagewesen war: Liebe, Dankbarkeit, Einverständnis,
Wärme. Schmelzprozess im Tiegel des Lebens, unvergesslich.

Übertreibe ich? Ich glaube es nicht. Es genügt, ein Kindlein in den Armen
seiner Mutter oder seines Vaters zu beobachten, seinen zufriedenen Ausdruck,
wenn es gestillt oder gestreichelt wird, um zu sehen, dass Zärtlichkeit
offenbar das Erdreich ist, auf dem Geborgenheit, Lebendigkeit,
Beziehungsstärke, Selbstvertrauen wachsen. Zärtlichkeit hat mit den Augen,
mit den Händen, mit der Haut, mit dem Mund zu tun. Was macht eine glückliche
Mutter? Sie muss ihr Kindlein immerzu ansehen, immerzu streicheln, immerzu
mit ihm reden. Was machen Verliebte? Genau das gleiche. Der unbeschreibbare
Moment, in dem zwei Menschen einander erkennen und zu Verliebten, Geliebten
werden, verwandelt diese Menschen in eigentümlicher und gewissermassen
eintöniger Weise: plötzlich haben sie ein unbezähmbares Bedürfnis, einander
zu halten, einander in die Augen zu blicken, einander alles mitzuteilen.
Verliebtheit als Dammbruch, der die Grenzen meiner Individualität überspült
und dessen einströmende Wasser mich lebendig, empfänglich, aber auch wehrlos
machen; das Bedürfnis nach Nähe, wechselseitiger Annahme und Bestätigung,
nach Ver-einigung, Einswerdung, Verschmelzung als natürliche Folge. Einander
halten, Halt geben in der Wehrlosigkeit des Dammbruchs.

Beschreibe ich eine Idylle? Die Welt sieht nicht idyllisch aus. Ich
beschreibe Selbstverständliches, aber das Selbstverständliche ist selten.
Und der katastrophale Mangel an Zärtlichkeit in der Welt sollte uns nicht
wundern: da sie entspannt und glücklich, anteilnehmend und friedfertig
macht, wäre ihre Ausbreitung subversiv, revolutionär. Zärtliche Menschen
sind schlechte Soldaten, unwillige Anpasser und zurückhaltende Konsumenten,
also keine Leute, die unsere Gesellschaftsordnung braucht.
Systemstabilisierend sind vielmehr aggressive, kriegerische Gesinnung (die
sich bei uns unter vielen Mänteln verbirgt) und offen am Tage liegende
Konsumwut. Sie werden gemästet von den Frustrationen derer, die bei
materiellem Wohlstand seelisch darben, und das sind die meisten von uns. Es
ist eine traurige Tatsache, dass die physische Hungersnot, unter der zwei
Drittel der Erdbevölkerung leiden, ihr Gegenstück in der psychischen
Hungersnot der Reichen und Überzivilisierten hat, und es ist verheerend,
dass unserem Zärtlichkeitsmanko unser Manko an Solidarität mit den Armen
dieser Welt entspricht.

Einander halten in Zärtlichkeit: darauf kommt es an. Aber nicht nur darauf.
Das Kindlein wird grösser und strebt, obwohl es immer wieder in ihre Arme
zurückkehrt, von der Mutter weg, will auf eigenen Füssen stehen. Wir müssen
es lassen. Die Verliebten, wenn sie wachsen wollen, überwinden die
Weltverengung ihrer Verliebtheit in der weltoffenen Freiheit ihrer Liebe.
Sie müssen einander lassen. Das ist schwer, vielleicht schwerer als alles
andere im Leben, und es kann sehr weh tun. Aber Treue, dies vorweg, ist, wo
zwei einander nicht lassen, ein kümmerlicher Ersatz für Freiheit und keine
Gewähr für Dauer.

"Loo mi sii!" sagt das Mädchen zu seinem Vater, der Schüler zu seinem
Mitschüler, der Mann zu seiner Frau oder Freundin, "lass mich sein!" Eine
Aufforderung mit klarer Aussage: Lass mich in Ruhe, im Frieden, stör,
bedrängt mich nicht, komm mir nicht zu nah, lass mich los... Aber die
gängige Redensart geht genau besehen tiefer, hinunter in die Wurzel des
Menschseins überhaupt. LASS MICH SEIN: das ist unsere Urbitte, das
Wichtigste, was wir verlangen, das Beste, was wir bekommen können. Lass mich
sein - das heisst: Gewähre mir meinen Platz in der Welt, lass mich gelten,
lass mich atmen, leben, lass mich so sein, wie ich bin, akzeptiere, dass ich
so und nicht anders bin. "Du bist du, und ich bin ich... Kontakt ist die
Anerkennung von Unterschieden", hat Fritz Perls, der Begründer der
Gestalt-Psychologie, gesagt.

Einander lassen: es klingt einfach, einleuchtend, und liegt doch quer zu
unserer ganzen Kultur, in der wir aufs Vereinnahmen, Festhalten, Besitzen,
Verfügen - aufs Haben, nicht aufs Sein - getrimmt werden, einer des anderen
Eigentum und Beute, in der Ehe zum Beispiel. Rilkes Vers "Wir haben, wo wir
lieben, ja nur dies: einander lassen..." meint vieles: einander sein lassen,
wie gesagt, ohne sich vom andern ein Bild zu machen und ihn/sie nach diesem
Bilde ständig ummodeln zu wollen: einander loslassen - denn wenn wir uns
unentwegt festhalten, buchstäblich und im übertragenen Sinn: wie können wir
da aufeinander zugehen? Einander lassen, einander sein lassen, einander
loslassen - überhaupt loslassen: ein Kind, einen Besitz, ein Ziel -,
einander gehen lassen: gehen lassen in der schlichtesten und in der
weitestreichenden Bedeutung und dazwischen in allen Variationen.

Lässt der Mann seine Frau gelegentlich allein ins Kino gehen, wenn sie
möchte? Lässt sie ihn einmal allein in die Ferien gehen, wenn er möchte?
Darf er, darf sie Freunde und Freundinnen haben, die nicht gemeinsame
Freunde sind, und lassen sie einander allein zu ihnen gehen? Billigen sie
einander Liebesbeziehungen ausserhalb der Ehe oder Partnerschaft zu, ohne
mit Verbot, Abbruch der Beziehungen oder Mord zu drohen? Lassen sie
einander, im Falle des Scheiterns, ohne Groll ziehen und können vielleicht
doch gute Freunde, gemeinsam sorgende Eltern ihrer Kinder bleiben?

Mit solchen Fragen kommt Angst ins Spiel, Verlustangst, Einsamkeitsangst,
Unlust, Eifersucht; die meisten von uns haben wenig Vertrauen in die
Freiheit und scheuen ihre Risiken, die unbestreitbar sind. Dabei wissen wir
natürlich, dass Selbstverwirklichung, die heute von Frauen wie Männern
angestrebt wird, nur möglich ist, wenn wir einander Raum gewähren, Freiheit
lassen; aber dieses Wissen trägt nicht weit.

Tiefer ist die Einsicht, dass ich einen geliebten Menschen am besten
"halte", wenn ich ihn "loslasse", dass wechselseitige Freiheit die
verlässlichste Gewähr für wirkliche Verbundenheit bietet, die einzige: indem
wir einander Entscheidungsmöglichkeiten zubilligen, können wir aus eigenem
Antrieb zusammenbleiben oder zurückkehren. Das schreibt sich leicht, ist
hart zu glauben und schwer zu praktizieren. Nicht das Loslassen, sondern das
Festhalten haben wir gelernt, nicht die Lässigkeit, sondern den Krampf. Und
doch ist das Loslassen, wie ja der Ausdruck sagt, das Ende einer Anstrengung
und macht Energien frei, die im Festhalten blockiert sind: macht meine Hände
frei.

Einander halten in Zärtlichkeit, einander lassen in Freiheit: wie geht das
zusammen?

"Zärtlichkeit ist eine Existenzform", hat Jean-Paul Sartre gesagt, und da es
dieser unzimperliche, militante Philosoph sagte, können wir daraus
schliessen, dass er unter Zärtlichkeit nichts Lauwarmes, Schwächliches,
sogenannt Unmännliches verstand, dass Zärtlichkeit und Auseinandersetzung
einander nicht ausschliessen, sondern vielmehr bedingen, indem, wie wir
wissen, Intimität sehr oft überhaupt erst nach fairem, vielleicht hartem
Kampf möglich wird und in gereinigter Atmosphäre doppelt köstlich schmeckt,
indem, anderseits, aufstellende Intimität den Weg zur fruchtbaren
Auseinandersetzung ebnet. Entscheidend im zärtlichen und kämpfenden Umgang
ist die Offenheit der Partner; sie kann verhindern, dass sich
unmerklich-unaufhaltsam jenes ätzende Gift des Ungesagten, Unbereinigten
anhäuft, das so viele Beziehungen zersetzt und ruiniert.

Offener Umgang verhindert Giftbildung, nicht aber Schmerz. "Zärtlichkeit"
kommt von "zart", und "zart", wenn wir den etymologischen Wörterbüchern
trauen dürfen, geht zurück auf persisch-indogermanische Ausdrücke, die
"Schmerz" bedeuten. Wortgeschichtlich bezeichnet "zart", erstaunlich genug,
einen Verfeinerungsprozess, der mit Schmerz verbunden ist...

"Zärtlichkeit ist eine Existenzform", das heisst, eine Grundhaltung des
In-der-Welt-Seins, die auch dem Stein, dem Tier, dem Baum gilt, und im
geliebten Menschen aller Kreatur. Ist damit das Urteil über die
Zweierbeziehung gesprochen? Das glaube ich kaum. Noch immer glaube und
vermute ich, dass die besondere Verbindung zu einem besonderen Menschen
einem Grundbedürfnis entspricht - wenn auch (wir kommen darauf zurück)
diesese Grundbedüfnis nach Geborgenheit, Heimat, Wärme möglicherweise in
einem weiteren Kreis liebend verbundener Menschen zuverlässiger gestillt
werden kann. Aber ganz lassen sich Zärtlichkeit als Existenzform und
Zweierbeziehung mit striktem Ausschliesslichkeitsanspruch nicht vereinbaren.
Die Zweierbeziehung erstickt an ihrer Auschliesslichkeit; wenn wir einander
nur halten und nicht lassen, wenn die besondere Zuwendung zu einem
bestimmten Menschen bedeutet, dass ich mich gewissermassen von allen anderen
abwende, dann wird die ersehnte Geborgenheit zum Gefängnis und Grab, die
Heimat zur Hölle.

Die Zweierbeziehung im Sinne der strikt monogamen Einehe oder Partnerschaft
ist eine unter vielen möglichen Formen des Zusammenlebens, nicht aus der
Natur des Menschen ableitbar, ethnologisch-historisch gesehen keine Regel,
sondern die Ausnahme in der Vielfalt der Kulturen, und sie scheitert immer
wieder, immer mehr, weil sie eine unrealistische Überforderung darstellt. Es
fragt sich sehr, ob der romantisierte Mythos von der einmaligen,
einzigartigen Liebe, menschheitsgeschichtlich jung und vermutlich bereits am
Verblassen, überhaupt ein Ideal oder nicht vielmehr ein Unglück und im Grund
liebesfeindlich ist. Die Partner einer Zweierbeziehung sind in doppelter
Weise überfordert: sie bürden einander zuviel auf, und sie dürfen sich
selber nicht treu sein.

Sie bürden einander zuviel auf: Wenn die Idealvorstellung von mir verlangt,
dass ich dem andern "alles" bin, "ganz" mich gebe, "jederzeit" und "für
immer", sind Enttäuschung und Ernüchterung vorprogrammiert, allmähliche
Verödung oder plötzlicher Kurzschluss unvermeidlich, denn ich kann die
übermässigen, eigentlich un-menschlichen Erwartungen nicht erfüllen. Die
zweite Überforderung besteht darin, dass die Partner einer Beziehung mit
Ausschliesslichkeitsanspruch sich selbst nicht treu sein dürfen. Die
Wahrheit ist, dass Menschen einander gefallen. Die Wahrheit ist, dass ich
mehr als einen Menschen lieben kann, nacheinander, auch miteinander. Die
Wahrheit ist, dass mein erotischer und sexueller Appetit, wenn ich ehrlich
bin, jeden Tag und allenthalben angeregt werden kann.

Wenn ich nicht ehrlich bin, wenn ich das Offenkundige bestreite, meine
Bedürfnisse, Gefühle, Gelüste leugne (ihnen im geheimen aber wohl nach
Möglichkeit dennoch nachgebe), kommt zur Überforderung die Lüge, und da uns
die Wahrheit frei macht, wie in der Schrift zu lesen ist, bewirkt die Lüge
das Gegenteil: Unfreiheit, in der Zärtlichkeit und Liebe erlöschen wie die
Kerze unter Glas.

Der ausschliessende Charakter strikter Zweierbeziehungen beginnt längst vor
der Sexualität. Es gibt Menschen, die dem Frieden beziehungsweise der Treue
zuliebe ihre Blicke, ihr Hände, ihre Haltung, ihre Bücher, ihr Gedanken, ihr
Freunde und am Ende sich selbst opfern. Das ist schlimm genug. Aber trotz
aller sexuellen Revolution und freimütigen Praxis scheint die kritische
Frage für viele noch immer zu lauten, ob zwei ausserhalb der Ehe oder
Partnerschaft miteinander geschlafen haben. Der Beischlaf als kritische
Grenze und Treuetest, noch immer, vielleicht wieder vermehrt: muss das sein,
warum ist das so?

Das führt uns zur Befassung mit dem Stellenwert dessen, was wir Treue
nennen, und mit dem Stellenwert der Sexualität.

Alles Lebendige ist schön, alles Lebendige kann weh tun. Zärtlichkeit als
Existenzform, als Grundhaltung, als zwischenmenschliches Klima macht uns
lebendig, weich, empfänglich, auch verletzlich. Treue als unbedingte
Forderung und eisernes Prinzip tötet uns ab, mach uns hart, abweisend,
rechthaberisch. Aber indem ich die sexuelle Treue als Prinzip in Frage
stelle, erhebe ich nicht Untreue, Treulosigkeit zum Prinzip. Menschen sind
verschieden, und unter Treue können wir Verschiedenes verstehen. Es kommt
nicht darauf an, sie über Bord zu werfen - ebenso wenig wie die
Geborgenheit -; es kommt darauf an, glaube ich, ihr einen weiteren und
tieferen, lebens- und menschenfreundlichen Sinn zu geben. Menschen sind
verschieden; wem sexuelle Treue kein Problem, sondern ein Bedürfnis ist, der
braucht sich wahrhaftig nicht zum Seitensprung zu zwingen (die einfältigste
und gefährlichste Wirkung der sogenannten Sexwelle besteht darin, dass sie
Leute, die eigentlich ganz zufrieden wären, einer Art Leistungsdruck
aussetzt, der sie verunsichert statt glücklicher macht).

Aber für die meisten Menschen ist sexuelle Treue, mindestens zeitweise, ein
Problem. Wer ehrlich ist, wird zugeben, dass er nicht so sehr aus
Überzeugung treu ist (wenn er es ist), sondern aus Mangel an Mut und
Gelegenheit, aus Angst vor Folgen und Weiterungen, vielleicht aus Rücksicht
auf den Partner, der andere Anschauungen hat. Solche Rücksicht ist wichtig
und unerlässlich, aber auf die Dauer keine Lösung. In Ehen oder
Partnerschaften, die nur noch aus Rücksichten und Versagungen aus Rücksicht
bestehen, ist "allmählich alles aus Porzellan", wie es bei Martin Walser in
seinem Stück "Die Zimmerschlacht" heisst: zerbrechlich, dünn, unheimlich,
und erst recht in einer Gruppe von Menschen, in Haus-, Wohn-, Produktions-
und Lebensgemeinschaften. Und dieses Problem, das viel Unsicherheit mit sich
bringt, erfordert entsprechende Beziehungsarbeit, auch Schmerzarbeit, auch
Trauerarbeit.

Sexuelle Treue als gegenseitige Eigentumsgarantie, von der her Untreue zur
Eigentumsverletzung, zu Einbruch und Diebstahl wird, lässt solche Arbeit
nicht zu. Die Kalten Krieger der Liebe, wie ich sie einmal nennen möchte,
denen Konsequenz über alles geht, die den Partner sofort vor das ultimative
Entweder-Oder stellen - er oder ich, sie oder ich -, die "klare
Verhältnisse" fordern, "reinen Tisch" machen und haufenweise Tischtücher
zerschneiden - was verteidigen sie, was verteidigen wir denn? Die Treue? Die
Liebe? Einen Besitz? Die Weite oder die Enge? Wachsendes oder verdorrendes
Leben? Sie/wir, das ist gewiss, kämpfen so jedenfalls mit untauglichen
Mitteln um den geliebten Menschen. Treue: soweit der Begriff nach Vaterland,
Heldentum, Krieg schmeckt, ist er mir unsympathisch; "treu bis in den Tod",
"treu zur Fahne", "in Treue fest", das klingt nicht gut in meinen Ohren,
klingt nach jener konsequenten Männlichkeit, welche mit dem Kopf durch die
Wand will und um der angeblichen Gerechtigkeit willen allemal die Welt
zugrundegehen lässt. Treue: soweit sie den geliebten Menschen als Besitz
unter Verschluss legt, also zum Gegenstand macht, ist sie unwürdig. Sexuelle
Treue: soweit sie natürlichen Bedürfnissen und der Zärtlichkeit als
Existenzform zuwiderläuft, ist sie, meine ich, unmöglich und unnötig.

Gibt es einen anderen, weiteren, tieferen Begriff von Treue? Ich glaube
schon. Nicht die Sexualität wäre dann das Kriterium, sondern das Vertrauen,
das aus Zärtlichkeit und Freiheit wächst; einander zärtlich halten, einander
freilassen: das ist die Voraussetzung, um zueinander zu halten in einer
Treue, Verbundenheit und Verlässlichkeit, die Stürme und Schmerzen
überdauert und vielleicht sogar sich freuen kann an der Liebesfreude des
andern. Wenn wir aufhören, einander zu gehören, können wir besser zueinander
gehören. Und wenn wir aufhören, die Sexualität so entsetzlich wichtig zu
nehmen, kann sie schöner werden und das Problem der Treue entschärfen.

Am Tag, an dem die Mehrheit der Menschen erkannt hat, dass es natürlicher
ist, wenn wir einander lieben, als wenn wir es nicht tun oder einander
hassen, an dem Tage wird die Welt, falls sie noch steht, gerettet sein. Es
ist natürlicher, einander anzusehen, als wegzusehen. Es ist natürlicher,
miteinander zu reden, als stumm zu bleiben. Es ist natürlicher, einander zu
berühren, als unberührt zu sein. Es ist natürlicher, einander zu wärmen, als
einander kalt zu lassen. Es ist natürlicher, sich zu vereinigen, also
miteinander zu schlafen, als getrennt zu bleiben. Wenn so die Sexualität in
ein lebendiges Leben freundlichen Kontakts eingebettet ist, wenn sie die
mögliche Fortsetzung des zwischenmenschlichen Gesprächs mit andern Mitteln
wird, dann verliert sie an bedrohlicher Wichtigkeit, um dafür an
unbefangener Schönheit, an Reiz und Köstlichkeit zu gewinnen. Und wenn wir
einander auf diese Weise wirklich halten, dann können wir uns auch wieder
lassen: füreinander sein, ohne einander zu haben.

Dies ist kein Text, der ausdrücklich von Emanzipation handelt, er setzt sie
gleichsam voraus. Wenn ich den Aufbruch der Frauen in der Welt, vielleicht
das folgenreichste Ereignis der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, richtig
verstehe, so geht es nicht darum, dass Frauen werden wie Männer, dass also
das Potential an Männlichkeit überflüssigerweise noch vermehrt wird, sondern
ganz im Gegenteil darum, dass die Frauen ihrer eigenen Kraft und Stärke
innewerden und vertrauen, dass sie das Potential an Weiblichkeit in der Welt
vermehren und dadurch (man kann nur hoffen) die lebensgefährlich gewordene
Dominanz und Einseitigkeit erobernder Männlichkeit überwinden: dass
"Ehrfurcht vor dem Leben" sich gegen die Mächte der Vernichtung durchsetzt.

Zum Potential an Weiblichkeit gehört in besonderer Weise die Zärtlichkeit
als Existenzform, und aufgewertete Zärtlichkeit bewirkt grundlegende
Veränderungen in unserem intimsten Bereich, in der Sexualität, die
ihrerseits globale Entwicklungen widerspiegelt.

Die grundlegende Veränderung besteht darin, dass Sexualität unter
Gleichwertigen, Ebenbürtigen, Mündigen nicht als Eroberung und Unterordnung,
sondern als Begegnung und freiwillige Hingabe stattfindet. Zärtlichkeit gilt
immer dem ganzen Menschen - streichelt ihn von Kopf bis Fuss -; sie ist
insofern wichtiger, umfassender als Sexualität, diese nur ein Teil von ihr.
Der traditionelle Mann, gewohnt, mit seinem eindringenden Penis direkt ans
Ziel zu gelangen, ohne Umwege, wie er meint, hat Mühe mit dieser
Veränderung, ist ratlos gegenüber der streikenden, sich verweigernden Frau,
die den Beischlaf als solchen relativ unwichtig und erst dann schön findet,
wenn sie als ganzer Mensch zum Blühen gebracht wird. Die Lektion
Zärtlichkeit ist der schwierigste, notwendigste, lohnendste Teil männlicher
Emanzipation - lohnend, weil viel Einbildung, Imponiergehabe, Leistungszwang
und Versagensangst sich als entbehrlich erweist, und weil sie alles ein
bisschen normaler, ein bisschen unwichtiger und sehr viel schöner macht.

Zärtlichkeit, die nicht besitzen will, sondern gelten lässt, ist gegen
niemanden gerichtet; einander zu gefallen, kann durchaus genügen;
körperliche Freuden, sexuelle, sind ein eigenständiger Wert und brauchen -
bräuchten - nicht zu Ehekrise und Eifersuchtsdrama zu führen.

... Wenn, wie in der Schweiz geschehen, 1979 fast ein Drittel weniger Ehen
geschlossen wurden als zehn Jahre zuvor, während die Scheidungen im gleichen
Zeitraum um Dreiviertel zunahmen, kann das kein Zufall mehr sein; dafür wie
für das ständige Anwachsen amtlich-kirchlich nicht abgesegneter Formen des
Zusammenlebens gibt es viele Gründe. Abgesehen von der freien
Zweierbeziehung, welche fast die gleichen Probleme birgt wie die Ehe, ausser
dass Auflösung und Wechsel leichterfallen, sind zwei scheinbar
gegensätzliche Tendenzen besonders aufschlussreich: die Tendenz, allein zu
leben, und die Tendenz, sich in Gruppen zusammenzuschliessen. Beides braucht
nicht für immer zu sein, kann auch alternieren; in beiden Fällen, darum sind
sie nur scheinbare Gegensätze, geht es mit unterschiedlicher Akzentuierung
um die bekömmliche Mischung von Distanz und Nähe, Freiheit und Geborgenheit,
Halten und Lassen; beiden, den Allein- und den Zusammenlebenden, ist die
traditionelle Ehe und Kleinfamilie zu eng. Die berufstätige Frau zumal, auf
eigenen Füssen stehend, weil wirtschaftlich unabhängig, ist auf die
Zweierbeziehung mit dem verdienenden Mann nicht mehr angewiesen;
Geborgenheit scheint sie, so oder so, leichter zu finden als er.

Und die Kinder? Aber die Kinder? Es darf bezweifelt werden, dass die Ehe als
überforderte Zweierbeziehung, die isolierte Kleinfamilie, in der faktisch
meist nur die Mutter als Bezugsperson übrigbleibt, dass also das Ghetto der
Ausschliesslichkeit dem Kind ideale Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Es
bietet sie nicht. Wenn Kinder auch mit andern Müttern und Vätern, mit andern
Mädchen und Buben regelmässige Kontakte und gefühlsmässige Bindungen haben,
etwa in einer Haus- oder Wohngemeinschaft, gedeihen sie besser, leichter,
unbefangener; und die Mutter-Kind-Beziehung, entlastet vom Übermass
exklusiver Ansprüche, kann um so herzlicher werden. Ja, es scheint, dass
kleine Kinder dort, wo Menschen die Zärtlichkeit als Existenzform ernst zu
nehmen versuchen - was übrigens nicht ernst sein muss, sondern heiter und
erholsam sein kann -, mit den Problemen der Eifersucht leichter fertig
werden als ihre Eltern.

Wenn wir einander halten in Zärtlichkeit, einander lassen in Freiheit; wenn
wir Treue nicht mehr vom Sexuellen her definieren, sondern als ein
verlässliches Zueinandergehören in Zärtlichkeit und Freiheit verstehen; wenn
Sexualität weniger wichtig und dafür schöner, selbstverständlicher wird,
weniger mit Eroberung und Besitz zu tun hat als Ausdruck der Lebensfreude
ist: liegen dann die Qualen der Eifersucht hinter mir? Theoretisch ja;
vielleicht; nicht unbedingt; möglicherweise überhaupt nicht. Ich weiss, dass
ich eifersüchtig bin; aber ich weiss auch, dass die Augenblicke, in denen
ich meine Eifersucht überwand, zu den glücklichsten im Leben gehörten,
glücklich wie jene, in denen geliebte Menschen in meiner Liebe, die ja im
Grund immer eine Liebe ist, für eine Weile ununterscheidbar werden. Ich
sehe, dass die meisten Menschen eifersüchtig sind, aber nicht alle, jene zum
Beispiel nicht oder weniger, die sich zwar freuen an schönen Dingen, ohne
doch ihr Herz an äusseren Besitz zu hängen, jene zum Beispiel, die in ihrer
Kindheit, vielleicht in einer grossen Familie, genügend Streicheleinheiten
bekommen haben, um eine Selbstsicherheit zu entwickeln, die auch mit der
Angst vor dem Vergleich, vor der Konkurrenz, vor Verlust und Einsamkeit
fertig zu werden vermag.

Eifersucht muss nicht sein, ist keine Naturerscheinung, kommt in manchen
Kulturen nicht vor. Gut zu wissen; doch was hilft's? Hier kommt sie vor, tut
weh oder macht rasend oder beides zusammen, und wir müssen uns mit ihr
auseinandersetzen. Lebendiges Leben, in dem wir die Grenzen unserer
Individualität öffnen und überschreiten, ist ohne Schmerz nicht zu haben,
das Loslassen in unserer Kultur des Festhaltens und Besitzens schwer zu
lernen. Wollen wir nicht besser die Fahnen einziehen? Aber wer einmal auf
den Geschmack des Lebens und Liebens ohne Parzellen, Stacheldrahtverhaue und
Minenfelder gekommen ist, wird am Ende lieber die Schwierigkeiten der Freude
als die Öde der Freudlosigkeit auf sich nehmen, sogar quälende Unsicherheit
einer schalen, faden Sicherheit vorziehen.

Die Ehe als überforderte Zweierbeziehung hat ihre gewissermassen logische
Entsprechung und ihr fatales Gegenstück in der Ehescheidung, die ihrerseits
vielfach eine Überforderung ist, nicht selten mehr Probleme schafft als löst
und so neue Beziehungen im Keim vergiftet. Die Ausschliesslichkeit des
Einander-Gehörens und die Endgültigkeit des Einander-Verlassens passen in
ihrer konsequenten Härte zusammen, verletzen aber elementare Bedürfnisse des
Menschen, die auf Entfaltung und Dauer gerichtet sind, und schneiden damit
ins Fleisch des lebendigen Lebens. Dem kurzgeschlossenen Treuebegriff
entspricht der Kurzschluss der radikalen Trennung, die häufig als sogenannte
"einzige Lösung" nur übrigbleibt, weil die Öffnung und Durchlüftung der Ehe
missglückte oder nicht einmal in Betracht gezogen wurde.

Es gibt gewiss viele Leute, die einander besser nicht geheiratet hätten;
aber es gibt auch solche, die, einmal verheiratet, besser beisammen bleiben
würden, denen das Risiko des Teilens bekömmlicher wäre als das Risiko des
Trennens. Verbinden ist lebensfreundlicher als scheiden, Beziehungsschmerzen
in der Ehe auszutragen hilfreicher als nach ihrer Auflösung. Der Ehebruch
braucht, wie erfahrene Psychologen und auch Theologen wissen, die Ehe nicht
zu brechen, er kann sie aufbrechen zu einer Weite, in der die Partner freier
atmen und einander, jenseits des Besitzdenkens, tiefer lieben lernen. Aber
ohne Schmerzarbeit geschieht das nicht.

Nun tritt ja freilich der "Ehebruch" als offizeller Scheidungsgrund immer
mehr zurück, und das scheint auf eine abnehmende Bedeutung der sexuellen
Treue schliessen zu lassen. 1969 wurden rund 6000 Ehen in der Schweiz
geschieden, 1978 10'500; die Zahl der Scheidungen wegen "Ehebruch" blieb bei
1500 annähernd stationär, ist also verhältnismässig stark rückläufig,
während die Scheidungen wegen "Ehezerrüttung" im gleichen Zeitraum von 4300
um mehr als das Doppelte auf 8900 zunahmen.

Aber erstens spielen sexuelle Probleme auch bei "Zerrüttung" nach wie vor
eine grosse Rolle, und zweitens ist das "Einander halten" und "Einander
lassen", an dem zerrüttete Ehen scheitern, nicht immer und unbedingt und
bestimmt nicht nur eine Frage der Sexualität, sondern der Lebenseinstellung
überhaupt. Ist die Ehe ein Wall, eine Festung, welche die Beteiligten die
traurige Sicherheit von Nachtschattengewächsen bietet, so wird sich
blühendes Leben ausserhalb ihrer Mauern entfalten wollen. Ist sie es nicht,
ist sie offen für Luft, Licht und Wärme, offen für andere Menschen, so
verliert die Wendung, dass hier etwas "gebrochen" wird, ihren Sinn. Und dann
werden die Beteiligten die Inkonsequenzen des Lebens, auch wenn sie weh tun,
der Konsequenz rabiater Schnitte, die abtöten, vorziehen: lieber miteinander
oder in einer grösseren Gruppe von Leuten arbeiten, als erbittert
voneinander gehen.

Dies sind utopische Gedanken. Nicht Lösungen und Rezepte bieten sie an,
sondern Möglichkeiten, die, weil sie lebens- und menschenfreundlich sind,
Wirklichkeit werden möchten, Möglichkeiten, die, weil sie die Menschen
befreien, entspannen, befriedigen, die Chancen des Friedens auf der Welt
erhöhen (was bitter nötig ist).

Die Utopie ist ein lebendiges Leben, in dem Geborgenheit in mir selbst und
unter den Mitmenschen, in dem Freiheit für mich und die andern aus der
Zärtlichkeit als Existenzform wächst, ein lebendiges Leben, in dem die Liebe
zweier Menschen sich nicht abkapselt, sondern der Gemeinschaft öffnet, ein
lebendiges Leben, in dem nicht kalte Treue die Menschen zu Besitztümern
hinter Stacheldraht erniedrigt, sondern freimütige Sexualität als Ausdruck
der Lebensfreude und Zuneigung sich ohne Leistungsdruck und ohne
Sanktionsdrohungen äussern darf.

Die Utopie ist ein lebendiges Leben, in dem wir uns lieber streicheln als
schlagen, lieber umarmen als fertigmachen, in dem die Zärtlichkeit als
Existenzform Eis schmilzt und Grenzen niederlegt, in dem sie vielleicht
sogar eine neue Art der Liebe und Geborgenheit in einer Gemeinschaft von
Menschen stiftet, die einander halten und einander lassen, und deren Treue
auch die Stürme und Schmerzen und Konflikte, die es immer unter uns geben
wird, in neuer Verbundenheit und Verlässlichkeit überdauert.

Der Mensch ist nicht auf Feindseligkeit, Hass und Krieg angelegt, sondern,
wenn wir ihn zärtlich halten und frei gewähren lassen, auf Freundlichkeit,
Liebe und Frieden.

Aber die Zeiten wirklichen Friedens sind bis jetzt ebenso Ausnahmen wie die
Oasen gelebter Liebe. Und wenn sich das nicht ändert, werden wir daran
ersticken, wird die Welt daran zugrunde gehen.

Die Utopie ist, dass die Liebe zur Regel wird.