Geschichte der O
Vorwort
DAS GLÜCK IN DER SKLAVEREI
Ein Aufstand auf Barbados
Ein seltsamer Aufstand forderte im Lauf des Jahres 1838 auf der friedlichen
Insel Barbados blutige Opfer. Etwa zweihundert Schwarze, Männer und Frauen,
sämtlich durch die März-Erlasse in Freiheit gesetzt, suchten eines Morgens
ihren früheren Herrn auf, einen gewissen Glenelg, und baten ihn, sie wieder als
Sklaven anzunehmen. Eine Klageschrift, verfaßt von einem Anabaptisten-Pastor,
wurde vorgelegt und verlesen. Dann begann die Diskussion. Aber Glenelg wollte
sich, aus Zaghaftigkeit, Unsicherheit oder einfach aus Furcht vor dem Gesetz,
nicht überzeugen lassen. Worauf die Schwarzen ihm zunächst gütlich zusetzten,
ihn dann mit seiner ganzen Familie massakrierten, und noch am gleichen Abend
wieder in ihre Hütten zogen, ihre Palaver und gewohnten Arbeiten und Riten
wieder aufnahmen. Die ganze Sache konnte durch das Eingreifen des Gouverneurs
MacGregor schnell unterdrückt werden, und die Befreiung nahm ihren Fortgang.
Die Klageschrift übrigens wurde nie aufgefunden.
Ich denke manchmal an diese Schrift. Wahrscheinlich enthielt sie, neben
berechtigten Einwänden gegen die Organisation der Arbeitshäuser (workhouses),
die Ablösung der Prügelstrafe durch die Gefängnisstrafe, und das Krankheitsverbot
für "Lehrlinge" - so nannte man die neuen, freien Arbeiter -
zumindest in Umrissen eine Rechtfertigung der Sklaverei. Zum Beispiel die
Bemerkung, daß wir nur für die Freiheiten empfänglich sind, die andere Menschen
in eine entsprechende Knechtschaft werfen. Es gibt niemanden, der sich nicht
freuen würde, frei zu atmen. Doch wenn ich mir zum Beispiel die Freiheit nehme,
bis zwei Uhr morgens lustig Banjo zu spielen, so verliert mein Nachbar die
Freiheit, mich nicht bis zwei Uhr morgens Banjo spielen zu hören. Wenn ich es
fertigbringe, nichts zu tun, so muß mein Nachbar für zwei arbeiten. Zudem ist
bekannt, daß totaler Freiheitsdrang unweigerlich schon bald nicht minder totale
Konflikte und Kriege nach sich zieht. Dazu kommt noch, daß, kraft der Dialektik,
der Sklave sowieso einmal zum Herrn wird, es wäre falsch, diese
naturgesetzliche Entwicklung forcieren zu wollen. Ferner: sich ganz dem Willen
eines anderen ergeben (wie dies Liebende und Mystiker tun), ermangelt nicht der
Größe und schafft seine eigenen Freuden, so die Freude, sich - endlich! -
befreit zu wissen von den eigenen Neigungen, Interessen und Komplexen. Kurz,
diese kleine Schrift würde heute, mehr noch als vor hundert Jahren, als Häresie
gelten: als gefährliches Buch.
Hier handelt es sich um eine andere Art von gefährlichem Buch, genau gesagt, um
ein Erotikum.
I Bündig wie ein Brief
Übrigens, warum nennt man diese Bücher gefährlich! Das ist zumindest unklug.
Als hätte man es - wir alle fühlen uns ja gemeinhin recht mutig - geradezu
darauf angelegt, daß wir sie lesen und uns so der Gefahr aussetzen. Es hat
schon seinen Grund, wenn die Geographischen Gesellschaften ihren Mitgliedern
nahelegen, in ihren Reiseberichten den Akzent nicht auf die bestandenen
Gefahren zu legen. Nicht aus Bescheidenheit, sondern um niemanden in Versuchung
zu führen (man bedenke nur die Leicht-Fertigkeit der Kriege). Doch welche
Gefahren?
Eine zumindest besteht, und ich sehe sie von meinem Standpunkt aus sehr
deutlich. Eine geringfügige Gefahr. Die gehört ganz offensichtlich zu den
Büchern, die ihren Leser prägen - die ihn nicht ganz so zurücklassen, wie sie
ihn vorfanden - oder ihn sogar völlig verändern: die von dem Einfluß, den sie
ausüben, auf wunderliche Weise selbst erfaßt werden und sich mit dem Leser
wandeln. Nach ein paar Jahren sind sie nicht mehr die gleichen Bücher. So daß
die ersten Kritiken bald schon ein bißchen töricht wirken. Aber sei's drum, ein
Kritiker sollte niemals zögern, sich lächerlich zu machen. Am besten gestehe
ich sogleich ein, daß ich mich hier auf fremdem Gelände bewege. Ich taste mich
durch die Geschichte der O wie durch ein Märchen - die Märchen sind bekanntlich
die erotischen Romane der Kinder -, wie durch eines jener Märchenschlösser, die
gänzlich verlassen scheinen, in [8] denen jedoch die Sessel unter ihren Hüllen
und die Taburetts und die Himmelbetten sorglich abgestaubt und die Peitschen
und Reitstöcke ohnehin, sozusagen von Natur aus, blitzblank sind. Nicht die
Spur von Rost an den Ketten, kein Schmutzhauch an den buntfarbenen Glasscheiben.
Sooft ich an O denke, kommt mir spontan ein Wort in den Sinn: das Wort Anstand.
Ein Wort, das zu schwierig zu begründen wäre. Lassen wir es also. Und dieser
Wind, der unaufhörlich bläst, der durch alle Gemächer streicht. Es weht auch in
O ein undefinierbarer Geist, rein und heftig, ohne Pause, ohne Beimischung. Ein
entschiedener Geist, der vor nichts scheut, weder vor Seufzer noch Greuel,
weder vor Ekstase noch Ekel. Wenn ich ehrlich sein soll, mein Geschmack geht
zumeist in eine andere Richtung: ich mag die Werke, deren Autor gezögert hat;
bei denen eine gewisse Befangenheit verrät, daß das Sujet ihn zunächst
eingeschüchtert hat; daß er bezweifelt hat, ob er jemals damit zurechtkommen
würde. Die Geschichte der O dagegen ist von Anfang bis Ende durchgeführt wie
ein bravouröses Gefecht. Man denkt eher an eine Rede, als an einen gewöhnlichen
Herzenserguß; eher an einen Brief, als an ein Tagebuch. Doch an wen ist der
Brief gerichtet! Doch wen will die Rede überzeugen! Wen soll ich danach fragen!
Ich weiß nicht einmal wer Sie sind.
Daß Sie eine Frau sind, bezweifle ich kaum. Nicht so sehr wegen der Details,
bei denen Sie so gern verweilen, den grünseidenen Kleidern, den Wespentaillen
und Röcken, die sich hochrollen lassen (wie Haarsträhnen auf einen Lockenwickler).
Vielmehr: weil O, in dem Augenblick, als Rene sie wieder ihren [9] Peinigern
überläßt, noch klar genug denkt, um festzustellen, daß die Pantoffeln ihres
Geliebten abgetreten sind, er muß sich neue kaufen. So etwas scheint mir kaum
vorstellbar. Darauf wäre ein Mann niemals gekommen, und wenn, so hätte er es
nicht zu sagen gewagt.
Und doch stellt O, auf ihre Weise, ein männliches Ideal dar, jedenfalls ein
Männerideal. Endlich eine Frau, die es zugibt! Die was zugibt! Das, wogegen die
Frauen sich allezeit gewehrt haben (und niemals heftiger, als heute). Das, was
die Männer aller Zeiten ihnen vorgeworfen haben: daß sie immer nur ihrem Blut
gehorchen; daß alles an ihnen Sexus ist, sogar der Verstand. Daß man sie
unaufhörlich füttern müßte, unaufhörlich waschen und schminken, unaufhörlich
prügeln. Daß sie einfach einen guten Herren brauchen, und zwar einen, der sich
hütet vor seiner Güte: denn sobald wir unsere Güte zeigen, beziehen sie daraus
allen Elan, alle Freude, alle Leichtigkeit, die sie brauchen, um sich von
anderen lieben zu lassen. Kurz, daß man die Peitsche mitnehmen muß, wenn man zu
ihnen geht. Es gibt wenige Männer, die nie davon träumten, eine Justine zu
besitzen. Doch keine einzige Frau hat bisher, soviel ich weiß, davon geträumt,
eine Justine zu sein. Jedenfalls nicht laut davon geträumt, mit soviel Stolz
auf Klagen und Tränen, soviel stürmischer Gewalttätigkeit, soviel Leidensgier
und soviel Willenskraft, die sich bis zum Bersten spannt. Eine Frau, sicher,
aber eine Frau, die etwas von einem Ritter, von einem Kreuzfahrer hat. Als
trügen Sie beide Naturen in sich oder als wäre der Adressat des Briefes Ihnen
in jedem Augenblick so gegenwärtig, daß Sie seine Neigungen [10] und seine
Stimme annehmen. Aber welche Frau, und wer sind Sie?
Wie dem auch sei, die Geschichte der O kommt von weither. Ich spüre darin vor
allem diese Ruhe und den Abstand, den eine Erzählung gewinnt, wenn ihr Autor
sie lange mit sich herumgetragen hat. Wer ist Pauline Réage? Einfach eine
Träumerin, wie es viele gibt? (Es genügt, sagt man, auf sein Herz zu hören.
Hier ist ein Herz, das vor nichts zurückschreckt.) Eine Dame mit Erfahrung, die
das alles selbst erlebt hat? Die es erlebt hat, und sich wundert, daß ein
Abenteuer, das so gut begann - oder zumindest so ernsthaft: mit Askese und
Züchtigung - schlecht ausgeht und in einer ziemlich zweifelhaften Buße endet,
denn schließlich, darüber sind wir uns einig, bleibt O in dieser Art Bordell,
wohin die Liebe sie gebracht hat-, sie bleibt dort, und hat es dabei garnicht
so schlecht. Dennoch, auch hierbei:
II Ein unerbittlicher Anstand
Auch mich überrascht dieses Ende. Sie werden mir nicht ausreden können, daß es
nicht das wirkliche Ende ist. Daß Ihre Heldin in Wirklichkeit (wenn ich so
sagen darf) bei Sir Stephen durchsetzt, sterben zu dürfen. Daß er ihre Eisen
erst abnimmt, wenn sie tot ist. Aber es wurde noch nicht alles ausgesprochen,
und diese Biene - ich meine Pauline Réage - hat einen Teil ihres Honigs für
sich behalten. Wer weiß, vielleicht hat [11] sie, dieses eine Mal, einer
Autorenüberlegung nachgegeben: eines Tages die Fortsetzung von Os Abenteuern zu
schreiben. Auch ist dieses Ende so naheliegend, daß man es nicht zu schreiben
brauchte. Wir finden es mühelos selbst. Wir finden es, und es setzt uns ein
bißchen zu. Aber Sie, wie haben Sie es gefunden - und wie lautet die Lösung
dieses Abenteuers! Ich muß darauf zurückkommen, weil ich überzeugt bin, daß
diese Taburetts und Sprossenbetten und sogar die Ketten, sobald man diese
Lösung gefunden hätte, sich von selbst erklärten, daß diese große,
geheimnisvolle Gestalt, dieses hintergründige Phantom, sich dann zwischen
diesen Dingen bewegen könnte.
Ich muß dabei an all das Unerklärliche, Unerträgliche denken, das die männliche
Begierde auszeichnet. Es gibt Steine, in denen der Wind singt, die sich
plötzlich bewegen oder anfangen, Seufzer auszustoßen oder Musik zu machen wie
eine Mandoline. Die Leute kommen von weither, um sie zu sehen. Dennoch möchte m
an zunächst am liebsten die Flucht ergreifen, auch wenn man die Musik noch so
sehr liebt. Sollte die Rolle der erotischen (oder wenn Sie so wollen, der
gefährlichen) Bücher darin bestehen, uns aufzuklären? Uns dieserhalb zu
beruhigen, wie ein Beichtvater es tut? Ich weiß wohl, daß man sich im
allgemeinen daran gewöhnt. Und die Männer machen sich auch nicht sehr lange
Gedanken deswegen. Sie werden damit fertig, indem sie sagen, daß sie, die
Frauen, selbst damit angefangen haben. Sie lügen, und, wenn man so sagen darf,
die Beweise dafür liegen auf der Hand: klar, allzu klar.
Auch die Frauen lügen, wird man mir entgegenhalten [12]. Stimmt, aber bei ihnen
fällt es nicht so auf. Sie können immer nein sagen. Welcher Anstand! Daher
kommt zweifellos auch die Meinung, daß sie das schönere Geschlecht seien, daß
die Schönheit weiblich sei. Schöner, davon bin ich nicht überzeugt. Aber
zurückhaltender auf jeden Fall, unauffälliger, und auch das ist eine Form der
Schönheit. So denke ich nun schon zum zweiten Mol an den Begriff Anstand im
Zusammenhang mit einem Buch, in dem davon kaum die Rede ist ...
Aber stimmt es, daß davon kaum die Rede ist! Ich denke nicht an den faden und
verlogenen Anstand, der sich damit begnügt, sich zu verstellen; der vor dem
Stein flieht und leugnet, gesehen zu haben, wie er sich bewegte. Hier haben wir
eine andere Art von Anstand, unbeugsam und zu Züchtigungen schnell bereit; der
das Fleisch zutiefst demütigt, um ihm seine ursprüngliche Unschuld
zurückzugeben, es mit Gewalt zurückzuversetzen in die Tage, als die Begierde
noch nicht lautgeworden war, der Fels noch nicht gesungen hatte. Ein Anstand,
dem man besser nicht ausgeliefert sein sollte. Denn, um ihm Genüge zu tun,
müssen Hände auf dem Rücken gefesselt, Knie gespreizt, Leiber ausgespannt,
Schweiß und Tränen vergossen werden.
Es sieht aus, als sagte ich grauenvolle Dinge. Mag sein, aber heute ist das
Grauen unser tägliches Brot -und vielleicht sind die gefährlichen Bücher nur
die Bücher, die uns unserer natürlichen Bedrohung wieder ausliefern. Welcher
Liebende wäre nicht entsetzt, wenn er einen Augenblick lang die Tragweite des
Schwures ermessen würde, mit dem er sich, keineswegs leichtfertig, für das
ganze Leben bindet. Welche [13] Liebende, wenn sie eine Sekunde lang wägte, was
die Worte: "ich habe die Liebe nicht gekannt, eh ich dich kennenlernte ...
mein Herz hat nie gesprochen, eh ich dich traf" besagen, Worte, die sich
ihr auf die Lippen drängen. Oder auch das vernünftigere - vernünftig? -:
"Ich möchte mich bestrafen für jede Stunde, die ich ohne dich glücklich
war." Jetzt wird sie beim Wort genommen. Jetzt bekommt sie, wenn ich so
sagen darf, was sie bestellt hat.
Es fehlt daher nicht an Folterungen in der Geschichte der O. Es fehlt nicht an
Peitschenhieben, es fehlt nicht einmal die Brandmarkung mit glühendem Eisen,
garnicht zu reden vom Halsring und der öffentlichen Zurschaustellung. Beinah
ebensoviele Foltern, wie es im Leben des Wüstenheiligen Gebete gibt. Nicht
weniger sorgfältig abgestuft, und wie numeriert - durch kleine Steinchen
voneinander getrennt. Es sind nicht immer vergnügte, will sagen, mit Vergnügen
verabreichte Foltern. René weigert sich, sie zuzufügen; und wenn Sir Stephen
sie vollzieht, so tut er es, wie man eine Pflicht erfüllt. Ganz offensichtlich
finden beide Männer keinen Spaß daran. Sie sind keine Sadisten. Ja, alles geht
so vor sich, als hätte O allein von Anfang an verlangt, daß man sie züchtige,
ihren letzten Widerstand breche.
An dieser Stelle wird irgendein Dummkopf von Masochismus schwatzen. Von mir
aus, aber das hat weiter nichts zu sagen, als daß einem echten Mysterium ein
falsches zugesellt wird, ein reines Sprach-Klischee. Was
<b>heißt</b> Masochismus? Daß der Schmerz zugleich eine Lust ist;
und das Leiden eine Freude? Möglich. Es handelt sich dabei um Behauptungen, wie
sie bei den [14] Metaphysikern im Schwange sind - so sagen sie zum Beispiel
auch, jede Anwesenheit sei eine Abwesenheit; und jedes Wort ein Schweigen - und
ich leugne keineswegs (wenn ich sie auch nicht immer verstehe), daß diese
Behauptungen ihren Sinn haben mögen, zumindest ihren Nutzen. Aber einen Nutzen,
der sich auf keinen Fall aus der bloßen Beobachtung des Falles ziehen läßt, -
der mithin nicht Sache des Arztes oder des einfachen Psychologen und schon gar
nicht Sache des Dummkopfs ist. - Nein, sagt man mir, es handelt sich zwar um
einen Schmerz, den jedoch der Masochist in Lust <b>verwandeln</b>
kann; um Leiden, dem er, mittels eines nur ihm bekannten alchemistischen
Verfahrens, reine Freude abgewinnt. Welch frohe Botschaft! Somit hätten die
Menschen endlich gefunden, was sie so emsig suchten, in der Medizin, in der
Moral, in den Philosophien und Religionen: das Mittel, den Schmerz zu vermeiden
oder zumindest ihn zu überwinden: ihn zu begreifen (und sei es nur, indem sie
in ihm die Auswirkung unserer Dummheit oder unserer Fehler sehen). Besser noch,
sie hätten dieses Mittel immer schon gekannt, denn schließlich gibt es
Masochisten nicht erst seit gestern. Und daher wundere ich mich, daß man ihnen
nicht die größten Ehren erwiesen hat-, daß man nicht versucht hat, hinter ihr
Geheimnis zu kommen. Daß man sie nicht in Paläste geholt und dort in Käfige
gesperrt hat, um sie besser beobachten zu können.
Vielleicht stellen die Menschen sich niemals Fragen, die nicht schon längst
beantwortet sind. Vielleicht genügte es, wenn man sie miteinander in Kontakt
bringen, sie ihrer Einsamkeit entreißen würde (als gäbe es ein einziges
menschliches Streben, das nicht reine [15] Schimäre wäre). Nun, hier haben wir
wenigstens den Käfig, und in dem Käfig haben wir diese junge Frau. Wir brauchen
ihr nur zuzuhören.
III Ein seltsamer Liebesbrief
Sie sagt: "Du bist zu Unrecht erstaunt. Betrachte Deine Liebe genauer. Sie
wäre entsetzt, wenn sie begreifen würde, daß ich eine Frau bin und lebe. Du
wirst die heißen Quellen Deines Blutes nicht zum Versiegen bringen, indem Du
sie vergißt."
"Deine Eifersucht täuscht Dich nicht. Sicher, Du gibst mir Glück und
Gesundheit und ein tausendfältiges Leben. Aber ich kann nicht verhindern, daß
dieses Glück sich sofort gegen Dich kehrt. Auch der Stein singt lauter, wenn
das Blut frei strömt und der Körper entspannt ist. Laß mich doch in diesem
Käfig und gib mir kaum Nahrung, wenn Du es wagst. Alles, was mich der Krankheit
und dem Tod näher bringt, macht mich treu. Und nur dann, wenn Du mir Schmerzen
zufügst, bin ich nicht gefährdet. Du hättest Dich nicht bereitfinden dürfen,
für mich ein Gott zu sein, wenn die Pflichten der Götter Dir Angst machen,
jeder weiß, daß SIE nicht weichherzig sind. Du hast mich schon weinen sehen.
Nun mußt Du noch Geschmack an meinen Tränen finden. Ist mein Hals nicht reizend,
wenn er sich gegen meinen Willen bäumt und an einem Schrei erstickt, den ich
zurückhalte. Es ist nur zu wahr, daß man die Peitsche nicht vergessen darf,
wenn man [16] zu uns geht. Und bei manchen bedürfte es sogar der
neunschwänzigen Katze."
Sie fügt sofort hinzu: "Welch dummer Scherz. Aber Du begreifst auch
nichts. Wenn ich Dich nicht wirklich lieben würde, glaubst Du, daß ich dann
wagte, so zu Dir zu sprechen und meinesgleichen zu verraten!"
Und sagt dann: "Meine Phantasie, meine flüchtigen Träume, werden dauernd
zum Verräter an Dir. Nimm mir die Kraft. Befreie mich von diesen Träumen.
Liefere mich aus. Sorge dafür, daß ich nicht einmal die Zeit habe, daran zu
denken, daß ich Dir untreu bin. Doch laß mich zuerst mit Deiner Nummer
zeichnen. Wenn ich die Spur Deiner Peitsche trage oder Deine Kette oder diese
Ringe an meinen Lippen, dann muß allen klar sein, daß ich Dir gehöre. Solange
man mich in Deinem Namen schlägt und mich schändet, bin ich nur, was Du denkst,
was Du wünschst, was Du begehrst. Und genau das wolltest Du, glaube ich. Ich
liebe Dich, und deshalb will ich es auch."
"Wenn ich endgültig aufgehört habe, ich selbst zu sein, wenn mein Mund und
mein Leib und meine Brüste nicht mehr mir gehören, dann werde ich zu einem
Wesen aus einer anderen Welt, wo alles einen anderen Sinn hat. Eines Tages weiß
ich vielleicht nichts mehr von mir. Was ist mir von nun an die Lust, was sind
mir die Liebkosungen so vieler Männer, Deiner Abgesandten, die ich nicht
unterscheiden - nicht mit Dir vergleichen kann?"
So spricht sie. Ich höre ihr zu und merke sehr wohl, daß sie nicht lügt. Ich
versuche ihr zu folgen (die Prostitution hat mir lange zu schaffen gemacht). Es
ist schließlich möglich, daß die lodernde Tunika der [17] Mythologien nicht
eine simple Allegorie ist; noch die kultische Prostitution eine Kuriosität der
Geschichte. Es ist möglich, daß die Refrains der Liebeslieder und die "ich
bin sterblich in dich verliebt" keine simplen Metaphern sind. Noch, was
die Huren zu ihren Auserwählten sagen: "Ich bin verrückt nach dir, mach
mit mir, was du willst." (Merkwürdig, wenn wir uns von einem Gefühl
befreien wollen, das uns verwirrt, dann sprechen wir dieses Gefühl den Ganoven
zu, den Prostituierten.) Es ist möglich, daß Heloise, als sie an Abälard
schrieb: "Ich werde Dein Freudenmädchen sein", nicht einfach nur eine
hübsche Phrase machen wollte. Sicher ist die Geschichte der O der heftigste
Liebesbrief, den ein Mann je erhalten hat.
Ich erinnere mich an jenen Holländer, der so lange auf den Meeren herumirren
muß, bis er ein Mädchen findet, das bereit ist, ihr Leben zu verlieren, um
seines zu retten; und an den Ritter Guigemar, der, um von seinen Wunden zu
genesen, auf eine Frau wartet, die für ihn leidet "wie nie eine Frau
gelitten hat". Natürlich ist die Geschichte der O länger als ein
Liebeslied und ausführlicher als ein einfacher Brief. Vielleicht mußte man auch
weiter dazu ausholen. Vielleicht war es noch nie so schwierig, auch nur zu
begreifen, was die Jungen und Mädchen von der Straße sagen: wahrscheinlich das
gleiche, wie die Sklaven von Barbados. Wir leben in einer Zeit, in der die
einfachsten Wahrheiten sich uns nur dann nackt (wie O) präsentieren können,
wenn sie eine Käuzchenmaske aufhaben.
Denn völlig normale und selbst vernunftbegabte Leute sprechen gern von der
Liebe als von einem spielerischen Gefühl, das man nicht ernst nehmen muß. [18]
Man sagt, daß es viel Vergnügen verschafft, und daß der Kontakt zweier
Epidermen nicht ganz ohne Reiz ist. Man sagt, daß der Reiz oder das Vergnügen
sich dem voll erschließen, der es versteht, der Liebe ihren willkürlichen
Charme, ihre Kapriziosität, eben ihre natürliche Freiheit zu bewahren. Von mir
aus, wenn es Menschen verschiedenen (oder auch gleichen) Geschlechts so leicht
fällt, einander Lust zu verschaffen, dann sollen sie sich nur ja nicht
genieren. Nur ein oder zwei Wörtchen geben mir dabei zu denken: das Wort Liebe
und auch das Wort Freiheit. Natürlich trifft das Gegenteil zu. Liebe bedeutet
Abhängigkeit - nicht nur in ihrem Vergnügen, in ihrer Existenz und in dem, was
vor der Existenz kommt: in dem Wunsch, zu existieren - von fünfzig wunderlichen
Dingen: von zwei Lippen (und von der Grimasse oder dem Lächeln, zu dem sie sich
verziehen), von einer Schulter (von der Art, wie sie sich hebt oder senkt), von
zwei Augen (von einem Blick, der ein wenig weicher, ein wenig härter ist),
schließlich von einem ganzen fremden Körper, mit dem Geist oder der Seele, die
in ihm sind - von einem Körper, der in jedem Augenblick strahlender als die
Sonne werden kann, eisiger als eine Schneefläche. Es ist keine Freude, das
alles an sich zu erfahren, dagegen kommen Ihre Martern mir lächerlich vor. Man
zittert, wenn dieser Körper sich bückt, um das Band eines kleinen Schuhs zu
knüpfen, und es scheint, daß jeder einem ansieht, wie man zittert. Lieber die
Peitsche und die Ringe im Fleisch! Was die Freiheit anlangt ... Jeder Mann oder
jede Frau, die sie an sich erfahren haben, dürften sich dagegen auflehnen, sie
mit Schimpf und Greuel bedrohen. Sicher, es fehlt nicht an Greuel in der [19]
Geschichte der O. Aber manchmal scheint es mir, daß hier nicht so sehr eine
junge Frau als vielmehr eine Idee, eine Meinung gefoltert wird.
Die Wahrheit über den Aufstand
Merkwürdig, die Idee vom Glück in der Sklaverei nimmt sich heutzutage wie neu
aus. In der Familie hat das Oberhaupt kaum mehr das Recht, über Leben und Tod
zu entscheiden, in den Schulen und in der Ehe ist die körperliche Züchtigung
verpönt, und Männer, die man in früheren Jahrhunderten stolz auf öffentlichen
Plätzen enthauptet hat, läßt man heute jämmerlich in Kellern verfaulen. Wir
martern nur noch anonym, und Leute, die es nicht verdienen. Deshalb sind diese
Martern auch tausendmal grausamer, der Krieg röstet auf einen Schlag die
gesamte Bevölkerung einer Stadt. Die exzessive Nachgiebigkeit des Vaters, des
Lehrers oder des Liebhabers wird mit Bombenteppichen und Napalm und
Atomexplosionen bezahlt. Alles geht vor sich, als existiere in der Welt ein
geheimes Gleichgewicht der Gewalttaten, an denen wir den Geschmack verloren
haben, ja, deren Sinn wir nicht mehr erkennen können. Und ich bin gar nicht
böse, daß eine Frau diesen Geschmack und diesen Sinn wiedergefunden hat. Ich
wundere mich nicht einmal darüber.
Ehrlich gesagt, ich habe über die Frauen nicht so viele bestimmte Ansichten,
wie dies bei Männern im allgemeinen der Fall ist. Ich bin überrascht, daß es
sie gibt (die Frauen). Mehr als überrascht: vage verwundert. Weshalb sie mir
vielleicht wunderbar erscheinen, [20] ich beneide sie fast dauernd. Was erregt
nun meinen Neid?
Manchmal sehne ich mich nach meiner Kindheit zurück. Dabei gilt aber meine
Sehnsucht ganz und gar nicht den Überraschungen und Offenbarungen, von denen
die Dichter sprechen. Nein. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ich für die
ganze Erde verantwortlich war. Abwechselnd Boxweltmeister oder Koch,
politischer Redner (jawohl), General, Dieb und sogar Rothaut, Baum oder Fels.
Man wird einwenden, daß es sich um ein Spiel handelte. Sicher, für Sie, die
Erwachsenen, aber für mich nicht, ganz und gar nicht. Damals war ich Herr des
Universums, mit allen Sorgen und Gefahren, die diese Herrschaft mit sich
bringt: damals war ich universell. Genau darauf will ich hinaus.
Die Frauen besitzen die Gabe, ihr ganzes Leben lang den Kindern zu gleichen,
die wir waren. Eine Frau versteht sich auf tausend Dinge, die uns fremd sind.
Fast immer kann sie nähen. Sie kann kochen. Sie weiß, wie man ein Zimmer
einrichtet und welche Stile sich untereinander vertragen (ich sage nicht, daß
sie alles perfekt macht, aber ich war auch keine perfekte Rothaut). Sie kann
noch mehr. Sie kann mit Hunden und Katzen umgehen; sie spricht mit diesen
Halbverrückten, den Kindern, die wir unter uns dulden: sie lehrt sie die
Kosmologie und gute Manieren, die Hygiene und die Märchen, ja, manchmal sogar
das Klavierspielen. Kurz, wir träumen von Jugend an vergeblich von einem Mann,
der alle Männer zugleich wäre. Dagegen scheint es, daß es jeder Frau möglich
ist, alle Frauen (und alle Männer) zugleich zu sein. Aber es kommt noch
merkwürdiger.[21]
Man hört heutzutage oft sagen, daß es genüge, alles zu begreifen, um alles zu
verzeihen. Nun, ich war immer der Ansicht, daß bei den Frauen - so universell
sie auch sein mögen - das Gegenteil zutrifft. Ich hatte eine Menge Freunde, die
mich so nahmen, wie ich bin, und die ich meinerseits so nahm, wie sie waren -
ohne den geringsten Wunsch, uns gegenseitig zu verändern. Ich freute mich sogar
- und auch sie freuten sich -, daß jeder von uns so sehr er selbst war. Aber es
gibt keine Frau, die nicht versuchte, den Mann, den sie liebt, zu ändern, und
sich damit. Als löge das Sprichwort, als genüge es, alles zu verstehen, um gar
nichts zu verzeihen.
Nein, Pauline Reage verzeiht sich so gut wie nichts. Und ich frage mich sogar,
ob sie nicht ein klein wenig übertreibt; ob ihresgleichen, die Frauen, ihr
wirklich so gleichen, wie sie annimmt. Aber mehr als ein Mann wird wohl zu gern
mit ihr einer Meinung sein.
Muß man bedauern, daß die Klageschrift verlorenging? Ich fürchte, ehrlich
gesagt, daß der ehrenwerte Anabaptist, der sie verfaßte, diese Schrift in ihrem
apologetischen Teil mit ziemlich abgedroschenen Gemeinplätzen spickte: zum
Beispiel, daß es immer Sklaven geben werde (was stimmt); daß es immer die
gleichen sein würden (worüber sich streiten läßt); daß man sich mit seinem
Stand abfinden und eine Zeit, die man dem Spiel, der Meditation und den
üblichen Vergnügungen widmen könnte, nicht mit Klagen vertun solle. Aber ich
glaube, er hat nicht die Wahrheit gesagt, nämlich, daß Glenelgs Sklaven in
ihren Herrn verliebt waren, daß sie ohne ihn nicht leben konnten. Im Grunde die
gleiche Wahrheit, die uns in der Geschichte [22]der O die Bündigkeit und den
unfaßbaren Anstand spüren läßt, den fanatischen Sturmwind, der dauernd bläst.
Jean Paulhan von der Académie
Française.
Geschichte der O
I DIE LIEBENDEN VON ROISSY
Ihr Geliebter führt O eines Tages in einem Stadtviertel spazieren, das sie
sonst nie betreten, im Parc Monsouris, im Parc Monceau. An der Ecke des Parks,
einer Straßenkreuzung, wo niemals Taxis stehen, sehen sie, nachdem sie im Park
spazierengegangen und Seite an Seite am Rand einer Rasenfläche gesessen waren,
einen Wagen mit Zähluhr, der einem Taxi gleicht. "Steig ein", sagt
er. Sie steigt ein. Der Abend ist nicht mehr fern, und es ist Herbst. Sie ist
gekleidet wie immer. Schuhe mit hohen Absätzen, ein Kostüm mit Plisseerock,
Seidenbluse, keinen Hut. Aber lange Handschuhe, die über die Ärmel des Kostüms
gezogen sind, und sie trägt in ihrer ledernen Handtasche ihre Papiere, Puder
und Lippenstift. Das Taxi fährt geräuschlos an, ohne daß der Mann etwas zum
Chauffeur gesagt hätte. Er schließt die Schiebevorhänge rechts und links an den
Scheiben und hinten am Rückfenster; sie hat ihre Handschuhe ausgezogen, weil
sie glaubt, er wolle sie küssen oder sie solle ihn streicheln. Aber er sagt:
"Du kannst dich nicht rühren, gib deine Tasche her." Sie gibt die
Tasche, er legt sie außerhalb ihrer Reichweite und fährt fort: "Und du
hast zu viel an. Mach die Strumpfhalter auf, rolle deine Strümpfe bis zum Knie:
hier hast du Strumpfbänder." Es geht nicht ganz leicht, das Taxi fährt
schneller, und sie fürchtet, der Chauffeur könne sich umdrehen. Schließlich
sind die Strümpfe [24] gerollt, und es stört sie, die Beine nackt und frei
unter der Seide ihres Hemds zu spüren. Außerdem rutschen die ausgehakten
Strumpfhalter hoch. "Nimm den Gürtel ab, sagt er, und zieh den Slip
aus." Das geht einfach, man braucht nur mit den Händen hinter die Hüften
fassen und sich ein bißchen hochstemmen. Er nimmt ihr Gürtel und Slip aus der
Hand, legt sie in die Tasche und sagt dann: "Du darfst dich nicht auf dein
Hemd und auf den Rock setzen, du mußt beides hochziehen und dich direkt auf die
Bank setzen." Die Bank ist mit Kunstleder bezogen, es ist glitschig und
kalt, man schaudert, wenn man es an den Schenkeln spürt. Dann befiehlt er ihr:
"Zieh jetzt deine Handschuhe wieder an." Das Taxi fährt noch immer,
und sie wagt nicht zu fragen, warum René sich nicht rührt und nichts mehr sagt,
noch was es für ihn bedeuten kann, daß sie reglos und stumm, so entblößt und so
ausgesetzt, so wohl behandschuht, in einem schwarzen Wagen sitzt und nicht
weiß, wohin sie fährt. Er hat ihr nichts befohlen und nichts verboten, doch sie
wagt weder die Beine überzuschlagen noch die Knie zu schließen. Sie hat die
beiden behandschuhten Hände rechts und links auf den Sitz gestützt.
"Voilà", sagt er plötzlich. Voilà: das Taxi hält in einer schönen
Allee, unter einem Baum - es sind Platanen - vor einem kleinen Palais, ähnlich
den kleinen Palais am Faubourg Saint-Germain, das man zwischen Hof und Garten
mehr ahnt als sieht. Die Straßenlaternen sind ein Stück entfernt, es ist dunkel
im Wagen, und draußen regnet es. "Halt still", sagt René. "Halt
ganz still." Er streckt die Hand nach dem Kragen ihrer Bluse aus, öffnet
die Schleife, dann die Knöpfe. Sie beugt den Oberkörper ein wenig vor, sie
glaubt, er wolle ihre Brüste [25] streicheln. Nein. Er tastet nur, faßt und
durchschneidet mit einem Taschenmesser die Träger des Büstenhalters und zieht
ihn ihr aus. Unter der Bluse, die er wieder geschlossen hat, sind jetzt ihre
Brüste frei und nackt, wie ihr Leib nackt und frei ist von Taille bis zu den
Knien.
"Hör zu", sagt er. "Es ist soweit. Ich lasse dich jetzt allein.
Du steigst aus und klingelst an der Tür. Du folgst der Person, die dir öffnet,
du tust alles, was man von dir verlangt. Wenn du nicht sofort hineingehst, wird
man dich holen, wenn du nicht sofort gehorchst, wird man dich zwingen zu
gehorchen. Deine Tasche? Nein, du brauchst deine Tasche nicht mehr. Du bist
weiter nichts als das Mädchen, das ich anliefere. Doch, doch, ich werde dort
sein. Geh!"
Eine andere Version des gleichen Anfangs war brutaler und simpler: die junge
Frau war, ebenso gekleidet, von ihrem Geliebten und einem seiner Freunde, den
sie nicht kannte, im Wagen mitgenommen worden. Der Unbekannte saß am Steuer,
der Geliebte neben der jungen Frau, und diesmal sprach der Freund, der
Unbekannte, und erklärte der jungen Frau, daß ihr Geliebter den Auftrag habe,
sie vorzubereiten, daß er ihr die Hände auf den Rücken binden werde, oberhalb
der Handschuhe, ihre Strümpfe aushaken und herunterrollen, ihr den
Strumpfgürtel ausziehen, den Slip und den Büstenhalter, und ihr die Augen
verbinden werde. Daß sie dann im Schloß abgeliefert werde. Wo man sie jeweils
anweisen werde, was sie zu tun habe. Nachdem sie wie besprochen entkleidet und
gefesselt worden war, half man ihr nach einer halbstündigen Fahrt aus dem
Wagen, führte sie einige Stufen hinauf, dann mit [26] verbundenen Augen durch
ein paar Türen, und als die Binde abgenommen wurde, fand sie sich allein in
einem dunklen Zimmer, wo man sie eine halbe Stunde warten ließ oder eine Stunde
oder zwei, ich weiß nicht, wie lange, aber es war eine Ewigkeit. Als dann
endlich die Tür geöffnet wurde und das Licht anging, sah sie, daß sie in einem
ganz gewöhnlichen und behaglichen Raum gewartet hatte, der dennoch eigenartig
war: mit einem dicken Teppich auf dem Boden, aber ohne ein Möbelstück, rundum
Wandschränke. Zwei Frauen hatten die Tür geöffnet, zwei junge und hübsche
Frauen, gekleidet wie hübsche Zofen des achtzehnten Jahrhunderts: mit langen,
leichten und gebauschten Röcken, die die Füße bedeckten, mit engen Miedern, die
den Busen hochschoben und vorne geschnürt oder gehakt waren, und mit Spitzen am
Ausschnitt und an den halblangen Ärmeln. Augen und Mund geschminkt. Jede trug
ein enges Halsband und enge Armbänder um die Handgelenke.
Ich weiß nun, daß sie O die Hände losbanden, die noch immer hinter ihrem Rücken
gefesselt waren, und ihr sagten, daß sie sich ausziehen müsse und daß man sie
baden und schminken werde. Sie wurde also entkleidet und ihre Kleider wurden in
einem der Wandschränke verwahrt. Sie durfte sich nicht allein baden, sie wurde
frisiert wie beim Friseur, indem man sie in einem dieser großen Sessel Platz
nehmen ließ, die beim Kopfwaschen nach hinten gekippt und wieder gerade
gestellt werden, wenn man, nach dem Einlegen, unter der Trockenhaube sitzt. Das
dauert immer mindestens eine Stunde. Es hat tatsächlich über eine Stunde
gedauert, sie war nackt auf diesem Stuhl gesessen, und man [27] verbot ihr, die
Beine überzuschlagen oder die Knie zu schließen. Und da sie vor einem großen
Spiegel saß, der die Wandfläche von oben bis unten bedeckte und von keiner
Konsole unterbrochen wurde, sah sie sich, weit klaffend, so oft ihr Blick den
Spiegel traf.
Als sie fertig geschminkt war, die Lider leicht umschattet, den Mund sehr rot,
Spitze und Hof der Brüste rosig, den Rand der Schamlippen rötlich, den Flaum
der Achselhöhlen und des Schoßes, die Furche zwischen den Schenkeln und die
Furche unter den Brüsten und die Handflächen lange mit Parfüm bestäubt, wurde
sie in einen Raum geführt, wo ein dreiteiliger Spiegel und ein vierter Spiegel
an der Wand dafür sorgten, daß sie sich genau sehen konnte. Sie wurde
angewiesen, sich auf den Puff in der Mitte zwischen den Spiegeln zu setzen und
zu warten. Der Puff war mit schwarzem Pelz bezogen, der sie ein bißchen stach,
und der Teppich war schwarz, die Wände rot. Sie hatte rote Pantöffelchen an den
Füßen. An einer Wand des kleinen Boudoirs war ein großes Fenster, das auf einen
schönen dunklen Park hinausging. Es hatte zu regnen aufgehört, die Bäume
bewegten sich im Wind, der Mond lief hoch oben zwischen den Wolken hin. Ich
weiß nicht, wie lange sie in dem roten Boudoir gewartet hat, auch nicht, ob sie
wirklich allein war, wie sie annahm, oder ob jemand sie durch eine verborgene
Öffnung in der Wand beobachtete. Dagegen weiß ich, daß eine der beiden Frauen,
als sie wiederkamen, ein Maßband trug, die andere ein Körbchen. Ein Mann
begleitete sie; er trug ein langes violettes Gewand mit Ärmeln, die oben weit
und am Handgelenk eng waren, das Gewand öffnete sich beim Gehen von der Taille
an. Man sah, daß er darunter eine [28] Art anliegender Strumpfhosen trug, die
Beine und Schenkel bedeckten, das Geschlecht jedoch freiließen. Dieses Geschlecht
sah O als erstes beim ersten Schritt des Mannes, dann die Peitsche aus
Lederschnüren, die im Gürtel steckte, dann, daß der Mann eine schwarze Kapuze
übers Gesicht gezogen hatte - ein Netz aus schwarzem Tüll verbarg sogar die
Augen -, und schließlich, daß er auch Handschuhe trug, ebenfalls schwarz und
aus feinem Ziegenleder. Er sagte ihr, sie solle sitzenbleiben, dutzte sie
dabei, und befahl den Frauen, sich zu beeilen. Die mit dem Zentimeterband nahm
nun von Os Hals und Gelenken die Maße, die zwar klein, aber doch gängig waren.
Es war leicht, in dem Korb, den die andere Frau trug, ein passendes Halsband
und Armreifen zu finden. Sie waren folgendermaßen gearbeitet: aus mehreren
Lederschichten (jede Schicht sehr dünn, das Ganze nicht mehr als einen Finger
dick), mit einem Schnappverschluß, der automatisch einklickte wie ein
Vorhängeschloß, wenn man ihn zumachte, und nur mit einem kleinen Schlüssel
wieder zu öffnen war. An der dem Verschluß genau gegenüberliegenden Stelle, in
der Mitte der Lederschichten und beinah ohne Spiel, war ein Metallring
angebracht, der es erlaubte, das Armband irgendwo zu befestigen, wenn man das
wollte, denn es schloß, wenn es auch gerade so viel Spielraum gab, um keine
Verletzung zu bewirken, zu eng am Gelenk an, und das Halsband zu eng um den
Hals, als daß man einen noch so dünnen Riemen hätte durchziehen können. Man
befestigte nun Halsband und Armreifen an Hals und Gelenken, dann befahl der
Mann ihr, aufzustehen. Er setzte sich auf ihren Platz auf den Pelzpuff und zog
sie [29] zwischen seine Knie, ließ die behandschuhte Hand zwischen ihre
Schenkel und über ihre Brüste gleiten und erklärte ihr, daß sie noch an diesem
Abend vorgeführt werden solle, nach dem Essen, das sie allein einnehmen werde.
Sie nahm es wirklich allein ein, noch immer nackt, in einer Art Kabine, in die
eine unsichtbare Hand ihr die Speisen durch einen Schalter zuschob. Nach dem
Essen kamen die beiden Frauen und holten sie ab. Im Boudoir schlossen sie
gemeinsam die beiden Ringe ihrer Armreifen hinter ihrem Rücken zusammen, legten
ihr einen langen Umhang um die Schultern, der an ihrem Halsband befestigt wurde
und der sie ganz bedeckte, sich jedoch beim Gehen öffnete; sie konnte ihn ja
nicht zusammenhalten, weil ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Sie durchschritten
ein Vorzimmer, zwei Salons, und kamen in die Bibliothek, wo vier Männer beim
Kaffee saßen. Sie trugen die gleichen wallenden Gewänder, wie der erste, aber
keine Masken. Doch O hatte nicht Zeit, ihre Gesichter zu sehen und
festzustellen, ob ihr Geliebter unter ihnen sei (er war unter ihnen), denn
einer der Vier richtete den Strahl einer Lampe auf sie, die sie blendete. Alle
Anwesenden verhielten sich regungslos, die beiden Frauen rechts und links von
ihr und die Männer vor ihr, die sie musterten. Dann erlosch die Lampe; die
Frauen entfernten sich. Man hatte O aufs neue die Augen verbunden. Nun mußte
sie näherkommen, sie schwankte ein bißchen und spürte, daß sie vor dem
Kaminfeuer stand, an dem die vier Männer saßen: sie fühlte die Hitze, sie hörte
die Scheite leise in der Stille knistern. Sie stand mit dem Gesicht zum Feuer.
Zwei Hände hoben ihren Umhang hoch, zwei weitere glitten an ihren Hüften [30]
entlang, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die Armreifen festgemacht
waren: sie trugen keine Handschuhe und eine von ihnen drang von beiden Seiten
zugleich in sie ein, so abrupt, daß sie aufschrie. Ein Mann lachte. Ein anderer
sagte: "Drehen Sie sich um, damit man die Brüste und den Leib sieht."
Sie mußte sich umdrehen, und die Hitze des Feuers schlug jetzt an ihre Lenden.
Eine Hand ergriff eine ihrer Brüste, ein Mund packte die Spitze der anderen.
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und taumelte nach rückwärts; sie wurde
aufgefangen, von welchem Arm? während jemand ihre Beine öffnete und sanft die
Lippen auseinanderzog; Haare strichen über die Innenseite ihrer Schenkel. Sie
hörte jemanden sagen, man müsse sie niederknien lassen. Was auch geschah. Das
Knien tat ihr sehr weh, zumal man ihr verbot, die Knie zu schließen und ihre
Hände so auf den Rücken gebunden waren, daß sie sich vorbeugen mußte. Nun
erlaubte man ihr, sich zurücksinken zu lassen, bis sie fast auf den Fersen saß,
wie es die Nonnen tun. "Sie haben sie nie angebunden? -Nein, nie. - Auch
nicht gepeitscht? - Auch das nie. Sie wissen ja ..." Diese Antworten kamen
von ihrem Geliebten. "Ich weiß, sagte die andere Stimme. Wenn man sie nur
gelegentlich anbindet, wenn man sie nur ein bißchen peitscht, könnte sie
Geschmack daran finden, und das wäre falsch. Man muß über den Punkt hinausgehen,
wo es ihr Spaß macht, man muß sie zum Weinen bringen." Einer der Männer
befahl O jetzt, aufzustehen, er wollte gerade ihre Hände losbinden, zweifellos,
damit man sie an einen Pfosten oder eine Mauer fesseln könnte, als ein anderer
protestierte, er wolle sie zuerst nehmen und zwar sofort - so daß man sie
wieder [31] niederknien ließ, aber diesmal mußte sie, noch immer mit den Händen
auf dem Rücken, den Oberkörper auf den Puff legen und die Hüften hochrecken.
Der Mann packte mit beiden Händen ihre Hüften und drang in ihren Leib ein. Er
überließ seinen Platz einem zweiten. Der dritte wollte sich an der engsten
Stelle einen Weg bahnen und ging so brutal vor, daß sie aufschrie. Als er von
ihr abließ, glitt sie, stöhnend und tränennaß unter ihrer Augenbinde, zu Boden:
nur um zu spüren, daß Knie sich gegen ihr Gesicht preßten und auch ihr Mund
nicht verschont würde. Schließlich blieb sie, hilflos auf dem Rücken, in ihrem
Purpurmantel vor dem Feuer liegen. Sie hörte, wie Gläser gefüllt und
ausgetrunken, wie Sessel gerückt wurden. Im Kamin wurde Holz nachgelegt.
Plötzlich nahm man ihr die Augenbinde ab. Der große Raum mit den Büchern an den
Wänden war schwach erleuchtet durch eine Lampe auf einer Konsole und durch den
Schein des Feuers, das wieder aufflammte. Zwei Männer standen und rauchten. Ein
dritter saß, eine Peitsche auf den Knien, und der vierte, der sich über sie
beugte und ihre Brust streichelte, war ihr Geliebter. Aber alle vier hatten sie
genommen, und sie hatte ihn nicht von den anderen unterscheiden können. Man
erklärte ihr, daß es immer so sein werde, so lange sie sich im Schloß aufhalte,
daß sie die Gesichter der Männer nicht sehen werde, die sie vergewaltigen oder
foltern würden, niemals jedoch bei Nacht, und daß sie niemals wissen werde, wer
ihr das Schlimmste angetan hatte. Desgleichen wenn sie gepeitscht würde, nur
wolle man dann, daß sie sehen könne, wie sie gepeitscht wurde, daß sie also zum
ersten Mal keine Augenbinde tragen werde, daß die Männer dagegen ihre [32]
Masken anlegen würden und sie sie nicht unterscheiden könne. Ihr Geliebter
hatte sie aufgehoben und in ihrem roten Umhang auf die Armlehne eines Sessels
an der Kaminecke gesetzt, damit sie hören sollte, was man ihr zu sagen hatte
und sehen sollte, was man ihr zeigen wollte. Sie hatte noch immer die Hände auf
dem Rücken. Man zeigte ihr den Reitstock, der schwarz war, lang und dünn, aus
feinem Bambus, mit Leder bezogen, wie man sie in den Auslagen der großen
Ledergeschäfte sieht; die Lederpeitsche, die der erste der Männer, den sie
gesehen hatte, im Gürtel trug, sie war lang, bestand aus sechs Riemen mit je
einem Knoten am Ende; dann eine dritte Peitsche aus sehr dünnen Schnüren, die
an den Enden mehrere Knoten trugen und ganz steif waren, als hätte man sie in
Wasser eingeweicht, was auch der Fall war, wie sie feststellen konnte, denn man
berührte damit ihren Schoß und spreizte ihre Schenkel, damit sie besser fühlen
könne, wie feucht und kalt die Schnüre sich auf der zarten Haut der Innenseite
anfühlten. Blieben noch auf der Konsole stählerne Ketten und Schlüssel. An
einer Wand der Bibliothek lief in halber Höhe eine Galerie, die von zwei Säulen
getragen wurde. In eine Säule war ein Haken eingelassen, in einer Höhe, die ein
Mann auf Zehenspitzen mit gestrecktem Arm erreichen konnte. Man sagte O, die
ihr Geliebter in die Arme genommen hatte, eine Hand unter ihren Schultern und
die andere, die sie verbrannte, zwischen ihren Schenkeln, um sie zum Nachgeben
zu zwingen, man sagte ihr, daß man ihre gefesselten Hände nur löse, um sie
sogleich, mittels der Armreifen und einer der Stahlketten, an diesen Pfeiler zu
binden. Daß aber nur die Hände über ihrem Kopf festgehalten würden, sie sich
[33] aber sonst frei bewegen könne und die Schläge kommen sähe. Daß man im
allgemeinen nur Hüften und Schenkel peitsche, also von der Taille bis zu den
Knien, genauso, wie sie im Wagen, der sie hierhergebracht hatte, vorbereitet
worden sei, als sie sich nackt hatte auf die Bank setzen müssen. Daß jedoch
einer der vier anwesenden Männer vielleicht Lust haben werde, ihre Schenkel mit
dem Reitstock zu zeichnen, was schöne, lange und tiefe Striemen gebe, die man
lange sehen werde. Es werde ihr nicht alles zugleich angetan werden, sie werde
schreien können, soviel sie wolle, sich winden und weinen. Man werde sie Atem
schöpfen lassen, aber weitermachen, sobald sie wieder Kräfte gesammelt habe,
wobei die Wirkung nicht nach ihren Schreien oder Tränen beurteilt werde,
sondern nach den mehr oder minder lebhaften und anhaltenden Spuren, die die
Peitschen auf ihrer Haut zurücklassen würden. Man wies sie darauf hin, daß
diese Methode, die Wirkung der Schläge zu beurteilen, nicht nur gerecht sei und
alle Versuche der Opfer, durch übertriebenes Stöhnen Mitleid zu wecken, nichtig
mache, sondern darüber hinaus auch erlaube, die Peitsche außerhalb des
Schlosses anzuwenden, im Park, was häufig geschehe, oder in irgendeiner Wohnung
oder einem beliebigen Hotelzimmer, vorausgesetzt natürlich, daß man einen
Knebel verwende (den man ihr sogleich zeigte), der nur den Tränen freien Lauf
läßt, aber alle Schreie erstickt und kaum ein Stöhnen erlaubt. An diesem Abend
jedoch sollte der Knebel nicht verwendet werden, im Gegenteil. Sie wollten O
brüllen hören, und so schnell wie möglich. Der Stolz, den sie darein setzte,
sich zu beherrschen und zu schweigen, hielt nicht lange an: sie [34] hörten sie
sogar betteln, man möge sie losbinden, einen Augenblick einhalten, nur einen
einzigen. Sie wand sich so konvulsivisch, um dem Biß der Lederriemen zu
entgehen, daß sie sich vor dem Pfosten beinah um die eigene Achse drehte, denn
die Kette, die sie fesselte, war lang und daher nicht ganz straff. Die Folge
war, daß ihr Bauch und die Vorderseite der Schenkel und die Seiten beinah
ebenso ihr Teil abbekamen, wie die Lenden. Man entschloß sich nun, einen
Augenblick aufzuhören und erst wieder anzufangen, nachdem ein Strick um ihre
Taille und zugleich um den Pfosten geschlungen worden war. Da man den Strick
fest anzog, damit der Körper in der Mitte gut am Pfosten anlag, war der
Oberkörper notwendig ein wenig zur Seite gebeugt, so daß auf der anderen Seite
das Hinterteil stärker hervortrat. Von nun an verirrten die Hiebe sich nicht
mehr, es sei denn mit Absicht. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie ihr
Geliebter sie ausgeliefert hatte, hätte O sich denken können, daß ein Appell an
sein Mitleid die beste Methode sein würde, seine Grausamkeit zu verdoppeln, daß
er größtes Vergnügen daran finden würde, ihr diese unzweifelhaften Beweise
seiner Macht zu entreißen oder entreißen zu lassen. Tatsächlich war er
derjenige, der als erster bemerkte, daß die Lederpeitsche, unter der sie zuerst
gestöhnt hatte, sie weit weniger zeichnete, als die eingeweichte Schnur der
neunschwänzigen Katze und der Reitstock, und daher erlaube, die Qual zu
verlängern und mehrmals von neuem anzufangen, fast unverzüglich, wenn man Lust
dazu hatte. Er bestand darauf, daß man nur noch diese Peitsche verwendete.
Verführt von diesem hingereckten Hinterteil, das sich unter den Schlägen wand
und sich in dem Bemühen, [35] ihnen auszuweichen, nur umso mehr aussetzte, verlangte
nun derjenige der Vier, der an den Frauen nur das liebte, was sie mit den
Männern gemeinsam haben, daß man ihm zuliebe eine Pause einlegen solle, und er
teilte die beiden Hälften, die unter seinen Händen brannten, und drang nicht
ohne Mühe ein, wobei er die Überlegung anstellte, daß man diese Pforte leichter
zugänglich machen müsse. Man kam überein, daß das zu machen sei und daß man
entsprechende Maßnahmen ergreifen werde.
Als man die junge Frau, die unter ihrem roten Mantel taumelte und beinah ohnmächtig
war, schließlich losband, sollte sie, eh sie in die ihr zugewiesene Zelle
geführt würde, im einzelnen die Regeln hören, die sie während ihres
Aufenthaltes im Schloß und auch noch nach ihrer Rückkehr ins alltägliche Leben
(was übrigens nicht die Rückkehr in die Freiheit bedeutete) befolgen müßte; man
setzte sie in einen großen Sessel am Feuer und klingelte. Die beiden jungen
Frauen, die sie empfangen hatten, brachten die Kleidung für ihren Aufenthalt
und die Dinge, die sie allen kenntlich machen würden, die schon vor ihrer
Ankunft Gäste des Schlosses gewesen waren oder es nach ihrem Weggang sein
würden. Das Kostüm war dem der beiden Frauen ähnlich: über einem
fischbeinverstärkten und in der Taille rigoros geschnürten Mieder und über
einem gestärkten Batistunterrock ein langes Gewand mit weitem Rock und einem
Oberteil, das die Brüste, die das Korsett hochschob, fast freiließ, kaum mit
Spitzen verhüllte. Der Unterrock war weiß, Mieder und Kleid aus meergrüner
Seide, die Spitzen wieder weiß. Als O angekleidet war und wieder im Sessel am
Feuer saß, noch [36] blasser durch das blasse Grün, gingen die beiden Frauen,
die kein Wort gesprochen hatten. Einer der vier Männer packte die eine im
Vorbeigehen, bedeutete der anderen, zu warten, führte die erste zu O hin, ließ
sie sich umdrehen, umfaßte mit einer Hand ihre Taille und hob ihr mit der
anderen die Röcke hoch, um O zu zeigen, so sagte er, warum sie dieses Kostüm
trugen und wie gut es durchdacht sei; er fügte hinzu, man könne diesen Rock
mittels eines einfachen Gürtels so hoch schürzen, wie man wolle, wodurch
mühelos zugänglich wurde, was man auf diese Weise entblößte. Außerdem lasse man
die Frauen häufig im Schloß oder im Park so hochgeschürzt herumgehen oder mit
vorn, ebenfalls bis zur Taille, hochgerafften Röcken. Man ließ O von der jungen
Frau zeigen, wie sie ihren Rock befestigen müsse: mehrmals aufgerollt (wie eine
Haarsträhne auf einem Lockenwickler), in einen engen Gürtel gesteckt, genau
vorn in der Mitte, wenn der Leib entblößt werden sollte, oder genau in der
Mitte des Rückens, um die Lenden zu entblößen. Im einen wie im anderen Fall
fielen Unterrock und Rock in Kaskaden reicher Schrägfalten von der Mitte zu
Boden. Wie O hatte die junge Frau frische Striemen quer über die Lenden. Sie
ging hinaus.
Danach bekam O folgende Ansprache zu hören: "Sie stehen hier ganz im
Dienst Ihrer Gebieter. Tagsüber verrichten Sie die Pflichten, die Ihnen
aufgetragen werden, Hausarbeiten wie Bücher abstauben oder ordnen oder Blumen
arrangieren oder bei Tisch aufwarten. Keine schwereren Arbeiten. Aber Sie
werden stets aufs erste Wort, auf das erste Zeichen hin jede Tätigkeit
unterbrechen, um Ihren einzigen wirklichen Zweck zu erfüllen, nämlich, uns zu
Willen zu sein. Ihre Hände [37] gehören Ihnen nicht, auch nicht Ihre Brüste,
vor allem nicht irgendein Zugang Ihres Körpers, wir können sie nach Belieben
visitieren und in sie eindringen. Als ein Zeichen, das Ihnen ständig
gegenwärtig machen soll, oder doch so gegenwärtig wie möglich, daß Sie kein
Recht mehr haben, sich zu entziehen, werden Sie in unserer Gegenwart niemals
völlig die Lippen schließen, noch die Beine kreuzen oder die Knie
zusammenpressen (Sie haben ja gesehen, daß Ihnen dies sogleich nach Ihrer
Ankunft verboten wurde). Was für uns wie für Sie bedeutet, daß Ihr Mund, Ihr
Schoß und Ihre Lenden uns offen stehen. Sie werden vor uns niemals Ihre Brüste
berühren: sie sind durch das Korsett herausgedrängt, damit sie uns gehören.
Tagsüber werden Sie bekleidet sein, doch Sie werden den Rock heben, wenn man es
Ihnen befiehlt und jeder kann - unmaskiert - mit Ihnen tun, was er will, nur
nicht Sie peitschen. Gepeitscht werden Sie nur zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang. Aber außer den Schlägen, die jeder Ihnen erteilen wird, der dazu
Lust hat, werden Sie am Abend ausgepeitscht zur Strafe für Verstöße gegen die
Hausregel, die Sie sich tagsüber zuschulden kommen ließen: also, wenn Sie nicht
willig genug waren, oder die Augen zu demjenigen erhoben haben, der zu Ihnen
gesprochen oder Sie genommen hat: Sie dürfen niemals einem von uns ins Gesicht
schauen. Wenn das Kostüm, das wir bei Nacht tragen, das ich jetzt hier trage,
unser Geschlecht freiläßt, so nicht der Bequemlichkeit halber, das ließe sich
auch auf andere Weise machen, sondern um Sie zu erniedrigen, um Ihre Augen zu zwingen,
sich darauf zu heften und auf nichts anderes, um Sie zu lehren, darin Ihren
Gebieter zu sehen, dem Ihre Lippen, vor allem [38] anderen, dienen sollen. Bei
Tage, wenn wir normal gekleidet sind wie jetzt, werden Sie sich an die gleichen
Vorschriften halten, nur müssen Sie dann, wenn man es von Ihnen verlangt,
bemüht sein, unsere Kleider zu öffnen und auch ohne weitere Aufforderung wieder
zu schließen, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Bei Nacht dagegen werden nur Ihre
Lippen und Ihre geöffneten Schenkel uns dienen können, denn Ihre Hände werden
auf dem Rücken gefesselt sein und Sie werden so nackt sein, wie man Sie uns
zugeführt hat; die Augen werden Ihnen nur verbunden, wenn Sie mißhandelt werden
sollen, und - nachdem Sie jetzt Ihrer eigenen Auspeitschung zugesehen haben, -
wenn Sie ausgepeitscht werden. A propos, wenn Sie während der Dauer Ihres
Aufenthalts die Peitsche regelmäßig alle Tage bekommen, so geschieht das nicht
so sehr zu unserem Vergnügen, als vielmehr zu Ihrer Belehrung. In Nächten, in denen
niemand nach Ihnen verlangt, wird daher ein Diener mit dieser Aufgabe betraut
und Ihnen in der Einsamkeit Ihrer Zelle verabreichen, was Sie bekommen sollten
und was wir selbst Ihnen nicht geben wollten. Wie bei der Kette, die am Ring
Ihres Halsbandes angebracht wird und Sie täglich mehrere Stunden lang mehr oder
weniger unbeweglich auf Ihrem Bett festhalten soll, ist die Absicht weit
weniger, Ihnen Schmerz zuzufügen, Sie zum Schreien oder Weinen zu bringen, als
vielmehr, Sie durch diese Schmerzen fühlen zu lassen, daß Sie unter Zwang
stehen, daß Sie ganz und gar fremdem Willen unterworfen sind. Wenn Sie von hier
weggehen, werden Sie einen Eisenring am Goldfinger tragen, der Sie kenntlich
macht: Sie werden dann gelernt haben, denen zu gehorchen, die das gleiche
Zeichen [39] tragen - und die bei seinem Anblick wissen werden, daß Sie unter
Ihrem Rock nackt sind, wie korrekt und unauffällig Ihre Kleidung auch sein mag,
und daß Sie es um ihretwillen sind. Wer Sie ungefügig finden wird, wird Sie
hierher zurückbringen. Sie werden jetzt in Ihre Zelle geführt."
Während diese Worte an O gerichtet wurden, standen die beiden Frauen, die sie
angekleidet hatten, rechts und links des Pfostens, an dem sie gepeitscht worden
war, jedoch ohne ihn zu berühren, als hätten sie Angst davor oder als hätte man
es ihnen verboten (und das stimmte wohl); als der Mann geendet hatte, näherten
sie sich O, die begriff, daß sie aufstehen und ihnen folgen sollte. Sie stand
also auf, raffte ihre Röcke, um nicht zu stolpern, denn sie war an lange
Kleider nicht gewöhnt und fühlte sich nicht sicher auf den Pantöffelchen mit
den überhöhten Sohlen und den sehr hohen Absätzen, die nur von einem dicken
Seidenband vom gleichen Grün wie ihr Kleid am Fuß gehalten wurden. Als sie sich
bückte, wandte sie den Kopf. Die Frauen warteten, die Männer beachteten sie
nicht mehr. Ihr Geliebter saß auf den Boden, an den Puff gelehnt, über den man
sie zu Beginn des Abends geworfen hatte, mit hochgezogenen Knien und auf die
Knie gelegten Ellbogen, und spielte mit der Lederpeitsche. Beim ersten Schritt,
den sie auf die Frauen zutat, streifte ihn ihr Rock. Er hob den Kopf und
lächelte ihr zu, rief ihren Namen und stand ebenfalls auf. Er strich ihr sanft
übers Haar, glättete ihr mit den Fingerspitzen die Brauen, küßte zart ihre
Lippen. Ganz laut sagte er ihr, daß er sie liebe. O zitterte heftig und hörte
mit Schrecken, daß sie erwiderte: "Ich liebe dich" und spürte mit
Schrecken, daß es wahr war. Er zog sie an [40] sich, sagte mon chéri, mon coeur
chéri, küßte ihren Hals und den Ansatz der Wange; sie hatte ihren Kopf auf die
Schulter sinken lassen, die das violette Gewand bedeckte. Er wiederholte,
diesmal ganz leise, daß er sie liebe und sagte, ebenfalls ganz leise:
"Knie nieder, streichle mich und küsse mich." Er schob sie weg,
winkte den beiden Frauen, beiseite zu treten, damit er sich an die Konsole
lehnen könne. Er war groß, und die Konsole war nicht sehr hoch, so daß seine
langen Beine, in Strumpfhosen vom gleichen Violett wie sein Hausmantel, leicht
gebeugt waren. Der offene Mantel spannte sich darunter wie ein Vorhang und das
Geschlecht mit seinem hellen Vlies wurde vom Sims der Konsole hochgestützt. Die
drei Männer traten näher. O kniete auf dem Teppich, ihr grüner Rock umgab sie
wie eine Blütenkrone. Das Korsett schnürte sie ein, die Brüste, deren Spitzen
man sah, waren mit den Knien ihres Geliebten auf gleicher Höhe. "Mehr
Licht", sagte einer der Männer. Als man den Strahl der Lampe so gerichtet
hatte, daß er grell auf Renés Geschlecht fiel und auf das Gesicht seiner
Geliebten, das dicht davor war, und auf ihre Hände, die ihn von unten
streichelten, befahl René plötzlich: "Sage immer wieder ›Ich liebe
Sie‹." O sagte: "Ich liebe Sie", in solcher Verzückung, daß ihre
Lippen kaum wagten, die Spitze des Glieds zu berühren, die noch von ihrer
zarten fleischigen Hülle bedeckt war. Die drei rauchenden Männer kommentierten
Os Gesten, die Bewegung ihres Mundes, der sich um Renés Geschlecht geschlossen
hatte und es festhielt, an ihm auf und abglitt, ihr aufgelöstes Gesicht, das
Tränen überströmten, sooft das mächtige Glied auf den Grund ihrer Kehle stieß
und dabei die Zunge zurückdrängte, [41] sie würgte. Schon fast geknebelt durch
das harte Fleisch, das ihren Mund füllte, murmelte sie noch immer: "Ich
liebe Sie." Die eine der beiden Frauen hatte sich rechts, die andere links
von René gestellt, der sich mit den Armen auf ihre Schultern stützte. O hörte
die Kommentare der Zuschauer, aber sie wollte nur die Seufzer ihres Geliebten
hören, konzentrierte sich ganz darauf, ihn zu liebkosen, mit unendlichem
Respekt, mit unendlicher Behutsamkeit. O fühlte, daß ihr Mund schön war, weil
es ihrem Geliebten gefiel, in ihn einzudringen, weil er die Liebkosungen dieses
Mundes zur Schau stellte, weil es ihm endlich gefiel, sich in ihn zu ergießen.
Sie empfing ihn, wie man einen Gott empfängt, hörte ihn schreien, hörte die
anderen lachen, und als sie ihn empfangen hatte, sank sie zusammen, das Gesicht
auf dem Boden. Die beiden Frauen hoben sie auf, und dieses Mal brachte man sie
weg.
Die Pantöffelchen klapperten auf den roten Fliesen der Korridore, an denen sich
die Türen reihten, glatt und diskret, mit winzigen Schlüssellöchern wie die
Zimmertüren in den großen Hotels. O wagte nicht zu fragen, ob jedes dieser
Zimmer bewohnt sei und von wem. Die eine ihrer Begleiterinnen, deren Stimme sie
noch nicht gehört hatte, sagte zu ihr: "Sie sind im roten Flügel und Ihr
Diener heißt Pierre. - Welcher Diener? sagte O, gerührt von der Sanftheit
dieser Stimme, und wie heißen Sie? - Ich heiße Andrée. - Und ich Jeanne",
sagte die zweite. Die erste fuhr fort: "Der Diener, der die Schlüssel hat
und Sie fesseln und losbinden wird, der Sie peitschen wird, wenn Sie bestraft
werden sollen und wenn niemand für Sie Zeit hat. - Ich war im vergangenen Jahr
im roten Flügel, sagte Jeanne, Pierre war [42] damals schon da. Er kam oft
nachts; die Diener haben die Schlüssel und in den Zimmern, die zu ihrem Bereich
gehören, haben sie das Recht, über uns zu verfügen."
O wollte fragen, wie dieser Pierre sei. Sie kam nicht dazu. An der Biegung des
Korridors hieß man sie vor einer Tür stehenbleiben, die sich in nichts von den
anderen Türen unterschied; auf einer Bank zwischen dieser Tür und der nächsten
sah sie einen Menschen mit rotem Gesicht sitzen, der ihr wie ein Bauer vorkam, gedrungen,
mit fast kahlrasiertem Kopf, kleinen, tiefliegenden Augen und Fleischwülsten im
Nacken. Er war gekleidet wie ein Operettenlakai: ein Hemd mit Spitzenjabot
schaute aus der schwarzen Weste hervor, die ein roter Spenzer bedeckte. Er trug
schwarze Kniehosen, weiße Strümpfe und Lackpumps. Auch in seinem Gürtel steckte
eine Peitsche mit Lederschnüren. Seine Hände waren mit roten Haaren bedeckt. Er
zog einen Hauptschlüssel aus der Westentasche, schloß die Tür auf und ließ die
drei Frauen eintreten mit den Worten: "Ich schließe wieder ab, ihr läutet,
wenn ihr fertig seid."
Die Zelle war winzig und bestand genau gesagt aus zwei Räumen. Nachdem die Tür
zum Korridor wieder geschlossen war, stand man in einem Vorraum, der zur
eigentlichen Zelle führte; an der gleichen Wand ging vom Schlafraum eine zweite
Tür ins Badezimmer. Den Türen gegenüber war ein Fenster. Ganz an der linken
Wand, zwischen den Türen und dem Fenster, stand das Kopfende eines großen,
quadratischen, sehr niedrigen Bettes, das mit Pelzwerk bedeckt war. Kein
weiteres Möbelstück, kein Spiegel. Die Wände waren blutrot, der Teppich
schwarz. Andree wies O darauf hin, daß das Bett weniger ein Bett war, als
vielmehr eine gepolsterte [43] Plattform, und der schwarze, langhaarige
Bezugsstoff eine Pelzimitation. Das Kopfkissen, flach und hart wie die
Matratze, war aus dem gleichen Gewebe, ebenso die zweiseitig bezogene Decke.
Als einziger Gegenstand hing an der Wand, etwa ebenso hoch über dem Bett wie
der Haken in dem Pfosten über dem Boden der Bibliothek war, ein dicker Ring aus
glänzendem Stahl. Eine lange Stahlkette war hindurchgeführt, die gerade aufs
Bett herunterhing; ihre aufeinanderliegenden Glieder bildeten ein kleines
Häufchen, das andere Ende war in Reichweite an einem Haken mit Vorhängeschloß befestigt,
als hätte man eine Gardine gezogen und in einen Halter geklemmt.
"Wir sollen Ihnen beim Baden helfen, sagte Jeanne. Ich werde Ihnen das
Kleid ausziehen."
Das einzige Ungewöhnliche im Badezimmer war eine Toilette à la turque in der
Ecke neben der Tür und die Tatsache, daß die Wände vollständig mit Spiegeln
verkleidet waren. Andree und Jeanne ließen O erst hineingehen, als sie nackt
war, hängten ihr Kleid in den Wandschrank neben dem Waschbecken, wo bereits
ihre Pantöffelchen und der rote Umhang verwahrt waren, und blieben, sogar als
sie sich auf den Porzellansockel kauern mußte, so daß O sich dabei inmitten
einer Vielzahl von Spiegelbildern genauso zur Schau gestellt fand, wie in der
Bibliothek, als unbekannte Hände ihr Gewalt antaten. "Warten Sie nur, bis
Pierre dabei ist, sagte Jeanne, dann werden Sie sehen. - Wieso Pierre? - Wenn
er kommt, um sie anzuketten, läßt er sie vielleicht niederkauern." O
fühlte, wie sie blaß wurde. "Aber warum? sagte sie. - Es wird Ihnen nichts
anderes übrigbleiben, erwiderte Jeanne, aber Sie haben Glück. - [44] Wieso
Glück? - Ihr Geliebter hat Sie doch hierhergebracht? - Ja, sagte O. - Sie
werden viel strenger behandelt werden. - Ich verstehe nicht... - Sie werden
sehr bald verstehen. Ich läute Pierre. Wir holen Sie morgen früh wieder
ab."
Andrée lächelte beim Hinausgehen und Jeanne folgte ihr erst, nachdem sie die
Spitzen von Os Brüsten liebkost hatte, die sprachlos am Ende des Bettes stand.
Mit Ausnahme des Halsbandes und der ledernen Armreifen, die das Wasser gehärtet
hatte, als sie badete, und die daher noch mehr drückten, war sie nackt.
"So, meine Schöne", sagte der Diener und trat ein. Und er packte ihre
beiden Hände. Er ließ die Ringe ihrer Armreifen ineinandergleiten, so daß ihre
Handgelenke eng beisammenlagen, und fügte dann diese beiden Ringe in den Ring
des Halsbandes. Sie stand also da, die gefalteten Hände in Höhe des Halses, wie
beim Gebet. Nun mußte sie nur noch mit der Kette, die auf dem Bett lag und
durch den oberen Ring lief, an die Wand gekettet werden. Der Diener öffnete den
Haken, der das andere Ende festhielt und zog, um die Kette kürzer zu machen. O
mußte ans Kopfende des Bettes treten und sich niederlegen. Die Kette klirrte
durch den Ring und spannte sich so straff, daß die junge Frau sich auf dem Bett
nur von der Wand zum Bettrand bewegen oder rechts und links direkt neben ihrem
Lager aufrecht stehen konnte. Da die Kette das Halsband nach hinten zog und
ihre Hände einen Zug nach vom bewirkten, entstand ein Gleichgewicht, die
gefesselten Hände legten sich an die linke Schulter, der auch der Kopf sich
zuneigte. Der Diener zog die schwarze Decke über O, aber erst, nachdem er ihre
Beine bis zur Brust hochgebogen hatte, um den [45] Raum zwischen ihren
Schenkeln zu examinieren. Er berührte sie nicht weiter, sagte kein Wort,
löschte das Licht - eine Wandlampe zwischen den Türen - und ging hinaus.
O lag auf der linken Seite, allein im Dunkeln und in der Stille, warm zwischen
den beiden Lagen aus Pelzstoff, und zwangsweise regungslos, und sie fragte
sich, warum soviel Leichtigkeit sich in ihr mit dem Grauen mischte oder warum
das Grauen ihr so leicht war. Das Schlimmste war, so fand sie, daß man ihr die
Hände weggenommen hatte; nicht, daß ihre Hände sie hätten verteidigen können
(wollte sie sich überhaupt verteidigen?), aber wären sie frei gewesen, sie
hätten wenigstens die Gesten andeuten, hätten versuchen können, die Hände
wegzustoßen, die sich ihrer bemächtigten, das Fleisch, das sie durchbohrte,
versuchen können, sich zwischen ihre Lenden und die Peitsche zu schieben. Man
hatte sie von ihren Händen befreit; ihr Körper unter der Pelzdecke war ihr
selbst unerreichbar; wie seltsam war es, nicht die eigenen Knie berühren zu
können, nicht die Mulde ihres Schoßes. Die brennenden Lippen zwischen ihren
Beinen waren ihr verwehrt und sie brannten vielleicht nur, weil sie wußte, daß
sie jedem offen waren: dem Diener Pierre, wenn es ihm belieben würde,
hereinzukommen. Es erstaunte sie, daß die Erinnerung an die Peitsche, die sie
bekommen hatte, sie so kühl ließ, während der Gedanke, daß sie zweifellos
niemals wissen würde, welcher der vier Männer sich zweimal mit Gewalt in ihre
Lenden Eingang verschafft hatte, und ob es beide Male der gleiche Mann war, und
ob es ihr Geliebter gewesen war, sie erregte. Sie drehte sich mehr auf den
Bauch, dachte, daß ihr Geliebter die [46] Furche zwischen ihren Lenden liebte,
in die er vorher (falls er es an diesem Abend getan hatte) niemals eingedrungen
war. Sie wünschte sich, daß er es gewesen wäre; würde sie ihn fragen? Ah!
Niemals. Sie sah die Hand wieder, die ihr im Wagen Strumpfgürtel und Slip
abgenommen und die Strumpfbänder gereicht hatte, damit sie die Strümpfe bis zum
Knie rollen konnte. So lebhaft war dieses Bild, daß sie nicht mehr an ihre
gefesselten Hände dachte und die Kette knirschte. Und wie kam es, daß die
Erinnerung an die Marter sie nicht beschwerte, der bloße Gedanke, die bloße
Erwähnung, der bloße Anblick einer Peitsche dagegen bewirkte, daß ihr Herz
heftig klopfte und ihre Augen sich vor Entsetzen schlossen? Sie hielt sich
nicht bei der Überlegung auf, ob das nur Entsetzen sei; Panik ergriff sie; man
würde ihre Kette ganz kurz anziehen, bis sie auf dem Bett stand, und man würde
sie peitschen, ihr Bauch würde an die Wand gepreßt sein und man würde sie
peitschen, peitschen, das Wort kreiste unablässig in ihrem Kopf. Pierre würde
sie auspeitschen, Jeanne hatte es gesagt. Sie haben Glück, hatte Jeanne
wiederholt, man wird Sie viel strenger behandeln. Was hatte sie damit sagen
wollen? O spürte nichts mehr, nur das Halsband, die Armreifen und die Kette,
ihr Körper trieb dem Nichts entgegen, sie war dem Verstehen nahe. Sie schlief
ein.
In den letzten Stunden der Nacht, wenn sie am dunkelsten und kältesten ist,
kurz vor Sonnenaufgang, erschien Pierre wieder. Er knipste das Licht im
Badezimmer an und ließ die Tür offen, so daß ein helles Viereck auf die Mitte
des Bettes fiel, dort, wo Os schlanker und zusammengerollter Körper ein wenig
die Decke bauschte, die er leise zurückschlug. Da O auf der linken [47] Seite
lag, mit dem Gesicht zum Fenster und leicht angezogenen Knien, bot sich seinem
Blick ihre sehr weiße Kruppe auf dem schwarzen Pelz. Er zog das Kissen unter
ihrem Kopf weg und sagte höflich: "Würden Sie bitte aufstehen" und
als sie sich an der Kette auf die Knie hochgezogen hatte, half er ihr, indem er
sie an den Ellbogen stützte, bis sie aufrecht und mit dem Rücken zu ihm an der
Wand stand. Im Lichtschein, den das schwarze Bett nur schwach reflektierte, war
ihr Körper sichtbar, nicht zu sehen jedoch waren die Gesten des Mannes. Sie
erriet, sie sah nicht, daß er die Kette aushakte, um sie an einem anderen
Kettenglied einzuhängen, bis sie wieder straff war und O spürte, wie sie sich
spannte. Ihre nackten Füße standen mit ganzer Sohle auf dem Bett. O sah auch
nicht, daß Pierre in seinem Gürtel nicht nur die Lederpeitsche trug, sondern
den schwarzen Reitstock, mit dem man sie nur zweimal und ziemlich leicht
geschlagen hatte, als sie am Pfosten gestanden war. Pierres linke Hand preßte
sich gegen ihre Taille, die Matratze gab ein wenig nach, weil er den rechten
Fuß daraufgesetzt hatte, um festen Stand zu fassen. Im gleichen Augenblick, als
sie etwas durch die Dunkelheit pfeifen hörte, fühlte O ein furchtbares Brennen
quer über die Lenden und brüllte auf. Pierre prügelte sie mit aller Kraft. Er
wartete nicht, bis sie zu schreien aufgehört hatte und schlug noch viermal zu,
wobei er darauf achtete, jeden neuen Hieb ein wenig über oder unter dem
vorhergehenden zu plazieren, damit die Striemen ordentlich würden. Als er
aufgehört hatte, schrie sie noch immer und die Tränen liefen ihr in den
aufgerissenen Mund. "Würden Sie sich bitte umdrehen", sagte er, und
da sie in ihrer Verzweiflung nicht [48] sogleich gehorchte, packte er sie um
die Hüften, ohne den Reitstock loszulassen, der ihre Taille streifte. Als sie
mit dem Gesicht zu ihm stand, trat er einen Schritt zurück, ließ dann mit aller
Kraft den Reitstock auf die Vorderseite ihrer Schenkel sausen. Das Ganze hatte
fünf Minuten gedauert. Als er hinausging, nachdem er das Licht wieder gelöscht
und die Tür zum Badezimmer geschlossen hatte, schwankte O stöhnend an ihrer
Kette im Dunkeln an der Wand hin und her. Bis sie still wurde und regungslos an
der Wand lehnte, deren Perkalintapete kühl an ihrer zerfetzten Haut lag, war
auch der Tag schon erwacht. Das große Fenster, dem sie zugewandt stand, ging
nach Osten und reichte von der Decke bis zum Boden; es hatte keine Vorhänge,
nur der gleiche rote Soff, der die Wände bedeckte, rahmte es zu beiden Seiten
und brach sich in steifen Falten in den Gardinenhaltern. O sah ein blasses
Morgenlicht heraufziehen, das seine Nebelschleier über die Asternstauden
draußen unter dem Fenster zog und schließlich eine Pappel erkennen ließ.
Gelbliche Blätter fielen von Zeit zu Zeit kreiselnd zu Boden, obwohl sich kein
Windhauch regte. Vor dem Fenster, hinter dem malvenfarbenen Asternbeet, lag
eine Rasenfläche, am Ende des Rasens sah man eine Allee. Es war jetzt heller
Tag und schon lange machte O keine Bewegung mehr. Ein Gärtner erschien in der
Allee, er schob eine Karre vor sich her. Man hörte das Eisenrad auf dem Kies
knirschen. Wenn er herangekommen wäre, um die welken Blätter vor den Astern
aufzukehren, dann hätte er - so groß war das Fenster und so klein und hell das
Zimmer - O nackt an ihrer Kette und mit den Spuren des Reitstocks auf den
Schenkeln sehen können. Die Wundränder waren [49] angeschwollen und bildeten
dicke Wülste, dunkler als das Rot der Wände. Wo schlief ihr Geliebter, der so
gern am stillen Morgen schlief? In welchem Zimmer, in welchem Bett? Wußte er, welcher
Marter er sie ausgesetzt hatte? Hatte er selbst sie anbefohlen? O dachte an die
Gefangenen, wie man sie auf den Kupferstichen alter Geschichtsbücher sieht,
diese Gefangenen, die vor so vielen Jahren oder Jahrhunderten ebenfalls
angekettet und ausgepeitscht worden waren und jetzt tot waren. Sie wünschte
sich nicht den Tod, aber wenn die Marter der Preis war, den sie entrichten
mußte, damit ihr Geliebter sie auch in Zukunft lieben würde, so wünschte sie
sich nur, es möge ihm eine Befriedigung sein, daß sie diese Marter erlitten
hatte, und sie wartete, ganz sanft und still, bis man sie ihm wieder zuführen
würde.
Keine der Frauen hatte Schlüssel, weder zu den Türen noch für die Ketten,
Armreife oder Halsbänder, aber alle Männer trugen an einem Ring die dreierlei
Schlüssel, die jeweils alle Türen öffneten, alle Schnappschlösser, alle
Halsbänder. Die Diener hatten diese Schlüssel ebenfalls. Aber am Morgen
schliefen die Diener, die während der Nacht Dienst gehabt hatten, und einer der
Gebieter oder ein anderer Diener kam und öffnete die Schlösser. Der Mann, der
Os Zelle betrat, trug eine Lederjacke, Reithosen und hohe Stiefel. Sie erkannte
ihn nicht. Er machte zuerst die Kette von der Mauer los und O konnte sich aufs
Bett legen. Eh er ihr die Hände losband, ließ er seine Hand zwischen ihren
Schenkeln durchgleiten, wie es der maskierte und behandschuhte Mann getan
hatte, den sie als ersten in dem kleinen, roten Salon gesehen hatte. Vielleicht
war es der gleiche. [50]
Er hatte ein knochiges, hageres Gesicht, den starren Blick, den man auf den
Porträts der alten Hugenotten sieht, und sein Haar war grau. O hielt seinen
Blick eine Weile aus, die ihr unendlich erschien, und erstarrte plötzlich, als
sie sich erinnerte, daß es verboten war, die Gebieter oberhalb des Gürtels
anzusehen. Sie schloß die Augen, jedoch zu spät, und hörte ihn lachen und
sagen: "Notieren Sie eine Züchtigung nach dem Abendessen." Er sprach
zu Andrée und Jeanne, die mit ihm hereingekommen waren und wartend zu beiden
Seiten des Bettes standen. Darauf verschwand er. Andrée hob das Kopfkissen vom
Boden auf und die Decke, die Pierre ans Bettende zurückgeschlagen hatte, als er
gekommen war, um O auszupeitschen. Jeanne zog ein Rolltischchen heran, das auf
dem Korridor bereitstand und mit Kaffee, Milch, Zucker, Brot, Butter und
Hörnchen gedeckt war. "Essen Sie schnell", sagte Andree, es ist neun
Uhr, danach können Sie bis Mittag schlafen, und wenn Sie die Glocke hören,
müssen Sie sich zum Essen fertigmachen. Sie müssen sich baden und frisieren und
ich werde kommen um Sie zu schminken und Ihnen das Korsett zu schnüren. - Sie
werden erst am Nachmittag Dienst haben, sagte Jeanne, in der Bibliothek: den
Kaffee servieren, die Liköre, und das Feuer unterhalten. - Und Sie? fragte O. -
Ach, wir müssen uns während der ersten vierundzwanzig Stunden Ihres
Aufenthaltes um Sie kümmern, danach werden Sie allein sein und nur noch mit
Männern zusammenkommen. Wir werden nicht mehr mit Ihnen sprechen dürfen und Sie
nicht mit uns. - Bleiben Sie, sagte O, bleiben Sie noch und sagen Sie mir
..." aber sie konnte nicht zu Ende sprechen, die Tür ging auf. Es war ihr
Geliebter, und er war nicht [51] allein. Es war ihr Geliebter, gekleidet wie
immer nach dem Aufstehen, wenn er sich die erste Zigarette anzündete: im
gestreiften Pyjama und Morgenrock aus blauem Wollstoff, dem Morgenrock mit den
Revers aus gesteppter Seide, den sie vor einem Jahr gemeinsam ausgesucht
hatten. Seine Pantoffel waren abgetreten, er mußte sich neue kaufen. Die beiden
Frauen verschwanden ohne einen Laut, man hörte nur das Knistern der Seide, als
sie die Röcke rafften (alle Röcke schleppten ein wenig nach) - auf dem Teppich
machten die Pantöffelchen kein Geräusch. O, die in der linken Hand eine Tasse
Kaffee hielt und in der anderen ein Hörnchen und halb im Schneidersitz an der
Bettkante hockte, ein Bein baumelnd, das andere untergeschlagen, blieb
regungslos sitzen, die Tasse zitterte plötzlich in ihrer Hand und das Hörnchen
fiel zu Boden. "Heb es auf", sagte René. Das war sein erstes Wort.
Sie stellte die Tasse auf den Tisch, hob das angebrochene Hörnchen auf und
legte es neben die Tasse. Ein großer Krümel war auf dem Teppich
liegengeblieben, neben ihrem nackten Fuß. René bückte sich selber und hob ihn
auf. Dann setzte er sich neben O, beugte sie zurück und küßte sie. Sie fragte
ihn, ob er sie liebe. Er antwortete: "Ah! Ich liebe dich!" dann stand
er auf und ließ auch O aufstehen, strich zart mit den kühlen Handflächen, dann
mit den Lippen an den Wundrändern entlang. O wußte nicht, ob sie den Mann ansehen
dürfe, der mit René gekommen war und jetzt mit dem Rücken zu ihnen an der Tür
stand und rauchte. Das Folgende sollte ihre Zweifel nicht beseitigen.
"Komm hierher, laß dich ansehen", sagte ihr Gebieter, zog sie ans
Bettende, bestätigte seinem Begleiter, daß er recht gehabt habe und [52] fügte
hinzu, es sei nur billig, wenn er O, falls er Lust dazu habe, als erster nehme.
Der Unbekannte, den sie noch immer nicht anzusehen wagte, ließ seine Hand über
ihre Brüste und an den Lenden entlang gleiten und sagte, sie solle die Beine
öffnen. "Gehorche", sagte René zu ihr. Sie stand aufrecht, mit dem
Rücken an René gelehnt, der ebenfalls stand. Seine rechte Hand streichelte ihre
Brust, die linke hielt sie an der Schulter fest. Der Unbekannte hatte sich auf
den Bettrand gesetzt. Er hatte die Lippen ergriffen, die den Eingang ihres
Schoßes schützten, und sie langsam auseinandergezogen. Als René sah, was der
andere von O wollte, schob er sie nach vorn und sein rechter Arm legte sich um
ihre Taille, packte sie fester. Dieser Liebkosung, die sie nie hinnahm, ohne
sich zu wehren und ohne tiefe Scham zu empfinden, der sie sich immer so schnell
wie möglich entzog, so schnell, daß sie kaum davon berührt wurde, die ihr als
Sakrileg erschien - denn es erschien ihr als Sakrileg, daß ihr Geliebter vor
ihr kniete, während doch sie vor ihm knien sollte - dieser Liebkosung, das
spürte sie plötzlich, würde sie sich jetzt nicht verschließen können, und sie
sah sich verloren. Denn sie stöhnte, als die fremden Lippen sich auf das
schwellende Fleisch preßten, an den Rand des Kelches und sie jäh entflammten,
sich dann nur lösten, damit die warme Zunge sie noch heftiger entflammen
konnte. Sie fühlte die verborgene Spitze hart und steif werden unter einem
langen, saugenden Biß der Zähne und Lippen, einem langen und sanften Biß, unter
dem sie keuchte. Ihr Fuß glitt aus, sie fand sich wieder auf dem Rücken
ausgestreckt, Renés Mund auf ihrem Mund, seine beiden Hände preßten ihre
Schultern aufs Bett, während zwei [53] andere Hände ihre Beine öffneten und
hochhoben. Ihre eigenen Hände, die unter ihren Lenden lagen (als René sie auf
den Unbekannten zuschob, hatte er ihre Handgelenke gefesselt, indem er die
Ringe der Armbänder ineinanderschob), wurden vom Geschlecht des Mannes
gestreift, das sich zwischen ihren Schenkeln rieb, hochglitt und plötzlich in
die Tiefe ihres Schoßes stieß. Beim ersten Stoß schrie sie wie unter der
Peitsche, dann bei jedem Stoß, und ihr Geliebter grub die Zähne in ihre Lippen.
Mit einer brüsken Bewegung riß der Mann sich aus ihr, fiel wie vom Blitz
getroffen zu Boden und schrie, auch er. René band O die Hände los, richtete sie
auf und ließ sie unter die Decke schlüpfen. Der Mann stand auf, René ging mit
ihm zur Tür. Blitzartig sah O sich verworfen, vernichtet, verdammt. Sie hatte
unter den Lippen des Fremden gestöhnt, wie ihr Geliebter sie niemals stöhnen
gehört hatte, geschrien unter dem zustoßenden Glied des Fremden, wie sie bei
ihrem Geliebten nie geschrien hatte. Sie war entwürdigt und hatte Strafe
verdient. Wenn er sie verließe, wäre das nur gerecht. Aber nein, die Tür schloß
sich, er blieb bei ihr, kam zu ihr, legte sich an ihrer Seite unter die Decke,
glitt in ihren feuchten und brennenden Schoß, hielt sie in dieser Umarmung fest
und sagte: "Ich liebe dich. Wenn ich dich auch den Dienern überlassen
haben werde, komme ich eines Nachts und lasse dich bis aufs Blut
peitschen." Die Sonne hatte den Nebel durchstoßen und überflutete das
Zimmer. Aber erst die Mittagsglocke weckte die beiden.
O wußte nicht, was sie tun sollte. Ihr Geliebter war hier, so nah, so zärtlich
hingestreckt, wie in dem Zimmer mit der niedrigen Decke, wo er beinah jede
Nacht [54] bei ihr schlief, seit sie zusammen wohnten. Dort stand ein großes
Mahagonibett im Windsor-Stil, aber ohne Betthimmel, am Kopfende waren die Stäbe
höher als unten. Er schlief stets an ihrer linken Seite und sooft er aufwachte,
oft mitten in der Nacht, streckte er die Hand nach ihren Schenkeln aus. Deshalb
schlief sie immer nackt oder wenn sie einen Pyjama trug, zog sie nur die Jacke
an; er auch. Sie nahm diese Hand und küßte sie, wagte nicht, ihn etwas zu
fragen. Aber er sprach. Er sagte ihr, während er zwei Finger zwischen das
Lederband und ihren Hals schob und sie festhielt, daß er beabsichtige, sie in
Zukunft nach seinem Gutdünken mit seinen Freunden zu teilen oder mit Männern,
die er zwar nicht kannte, die jedoch zu den Gästen des Schlosses gehörten, so
wie er sie gestern Abend mit ihnen geteilt hatte. Daß sie von ihm, und von ihm
allein, abhinge, auch dann, wenn sie von anderen Befehle entgegennähme, ob er
nun anwesend sei oder nicht, denn er habe grundsätzlich Anteil an allem, was
man von ihr fordern oder mit ihr tun mochte, und daß er sie besitze und genieße
durch die Männer, denen er sie ausliefere, einfach aus dem Grund, weil er sie
ihnen ausgeliefert habe. Sie müsse sich ihnen unterwerfen und sie mit dem
gleichen Respekt empfangen, mit dem sie ihn empfing, als wären sie seine
Ebenbilder. Auf diese Weise würde er sie besitzen, wie ein Gott seine Geschöpfe
besitzt, der sich in Gestalt eines Ungeheuers ihrer bemächtigt oder eines
Vogels oder eines unsichtbaren Geistes oder in der Ekstase. Er wolle sich nicht
von ihr trennen. Sie werde ihm umso mehr bedeuten, je mehr er sie ausliefere.
Die Tatsache, daß er sie anderen gebe, sei für ihn ein Beweis, daß sie ihm
gehöre und [55] sollte es auch für sie sein. Er gebe sie fort, um sie sogleich
wieder an sich zu nehmen, nehme sie reicher zurück, wie einen gewöhnlichen
Gegenstand, der göttlichem Gebrauch gedient hatte und dadurch geheiligt wurde.
Schon seit langem habe er sich gewünscht, sie zu prostituieren und er stelle
mit Freude fest, daß die Lust, die er dabei empfand, größer sei als er gehofft
habe und ihn noch fester an sie binde, wie sie auch O noch fester an ihn binden
werde, umso fester, je mehr sie gedemütigt, je mehr sie gequält werde. Da sie
ihn liebe, müsse sie auch alles lieben, was ihr durch ihn zugefügt werde. O
hörte ihm zu und bebte vor Glück, weil er sie liebte, bebte in freudigem
Einverständnis. Er erriet es zweifellos, denn er fuhr fort: "Eben weil es
dir leicht fällt, in alles einzuwilligen, verlange ich von dir etwas, worin du
unmöglich einwilligen kannst, auch wenn du es im vorhinein akzeptierst, auch
wenn du jetzt ja sagst und glaubst, gehorchen zu können. Es wird dir unmöglich
sein, dich nicht dagegen aufzulehnen. Man wird deinen Gehorsam erzwingen, nicht
nur wegen des unvergleichlichen Vergnügens, das ich oder andere darin finden,
sondern damit du dir bewußt wirst, was man aus dir gemacht hat." O wollte
erwidern, daß sie seine Sklavin sei und ihre Fesseln mit Wonne trage. Er ließ
sie nicht zu Wort kommen. "Man hat dir gestern gesagt, du dürftest,
solange du in diesem Schloß bist, keinem Mann ins Gesicht schauen und mit
keinem sprechen. Du darfst das auch bei mir nicht mehr. Nur schweigen und
gehorchen. Ich liebe dich. Steh auf. Du wirst von nun an hier in Gegenwart
eines Mannes den Mund nur noch öffnen, um zu schreien oder ihm zu Willen zu
sein." O stand auf, René blieb auf dem Bett liegen. Sie [56] badete,
frisierte sich, das laue Wasser ließ sie erzittern, als ihre wundgeschlagenen
Lenden hineintauchten und sie mußte sich trocknen, ohne zu reiben, um das
Brennen nicht zu verschlimmern. Sie schminkte sich den Mund, aber nicht die
Augen, puderte sich, und kam, noch immer nackt, mit gesenktem Blick in die
Zelle zurück. René betrachtete Jeanne, die hereingekommen war und am Kopfende
des Bettes stand, auch sie mit niedergeschlagenen Augen, auch sie stumm. Er
befahl ihr, O anzukleiden. Jeanne nahm das Korsett aus grüner Seide, den weißen
Unterrock, das Kleid, die grünen Pantöffelchen, und nachdem sie O das Korsett
auf der Vorderseite zugehakt hatte, fing sie an, es hinten zu schnüren. Das
Korsett war stark mit Fischbein versteift, lang und starr wie zur Zeit der
Wespentaillen, mit eingearbeiteten Schalen, in denen die Brüste lagen. Je
fester man anzog, umso höher schoben sich die Brüste, die Schalen drückten sie
von unten hoch und preßten die Spitzen heraus. Zugleich verengte sich die
Taille, wodurch der Leib hervortrat und die Lenden stark betont wurden.
Seltsamerweise war dieser Panzer sehr bequem und bis zu einem gewissen Grad
erholsam. Er stützte den Körper, machte aber, wenn auch nicht recht klar wurde,
wodurch, vielleicht durch die Kontrastwirkung, besonders deutlich, wie
ungeschützt, wie zugänglich die Stellen waren, die er nicht umschloß. Der weite
Rock und das Mieder, das trapezförmig vom Halsansatz bis zu den Brustspitzen
und über die ganze Breite des Busens verlief, schien die Frau, die es trug,
weniger zu bedecken, als vielmehr herausfordernd zu entblößen, zur Schau zu
stellen. Nachdem Jeanne die Litze mit einem doppelten Knoten verschnürt hatte,
[57] nahm O ihr Kleid vom Bett. Es war in einem Stück, der Unterrock war am
Rock festgenäht, wie ein auswechselbares Futter, und das Mieder, das vorne
übereinanderging und hinten geschnürt wurde, legte sich der mehr oder weniger
schlanken Form des Oberkörpers an, je nachdem, ob das Korsett mehr oder weniger
stark geschnürt war. Jeanne hatte es sehr eng geschnürt und O sah sich im
Spiegel des Badezimmers, durch die offengebliebene Tür, schlank und
zerbrechlich in der dicken, grünen Seide, die sich um ihre Hüften bauschte wie
ein Reifrock. Die beiden Frauen standen nebeneinander. Jeanne streckte den Arm
aus, um eine Falte am Ärmel des grünen Kleides zu richten und ihre Brüste
bewegten sich unter der Spitze, die ihr Mieder säumte, Brüste mit langen
Spitzen und einem bräunlichen Hof. Ihr Kleid war aus gelbem Faille. René, der
zu den beiden Frauen getreten war, sagte zu O: "Schau." - Und zu
Jeanne: "Heb dein Kleid hoch." Mit beiden Händen raffte sie die
raschelnde Seide und das Batistfutter und enthüllte einen gebräunten Leib,
glatte Schenkel und Knie und ein geschlossenes schwarzes Dreieck. René streckte
die Hand danach aus und bewegte sich langsam darin, während er mit der anderen
Hand die Spitze einer Brust reizte. "Damit du siehst", sagte er zu O.
O sah es. Sie sah seine spöttische, aber aufmerksame Miene, seine Augen, die
Jeannes halbgeöffneten Mund belauerten und den zurückgebogenen Hals, den das
Lederband einschnürte. Welche Lust verschaffte sie ihm, die nicht auch diese
Frau, jede andere, ihm genauso verschaffen konnte? "Hast du daran noch nie
gedacht?" sagte er. Nein, sie hatte nie daran gedacht. Sie lehnte kraftlos
an der Wand zwischen den beiden Türen, ganz aufrecht, [58] mit hängenden Armen.
Er brauchte ihr nicht mehr zu befehlen, daß sie schweigen solle. Wie hätte sie
sprechen können? Vielleicht rührte ihn ihre Verzweiflung. Er ließ Jeanne los
und nahm sie in die Arme, nannte sie seine Liebe und sein Leben, wiederholte,
daß er sie liebe. Die Hand, mit der er ihre Brust und ihren Hals liebkoste, war
noch feucht von Jeannes Schoß. Was tat das? Die Verzweiflung, die sie
durchflutet hatte, wich von ihr; er liebte sie, ah, er liebte sie. Er hatte das
Recht, sich an Jeanne oder an anderen Frauen zu vergnügen, er liebte sie.
"Ich liebe dich", sagte sie ihm ins Ohr, "ich liebe dich",
so leise, daß er es kaum hörte. "Ich liebe dich." Er ging erst von
ihr, als er sah, daß sanfte Zärtlichkeit sie erfüllte, ihre Augen strahlten,
daß sie glücklich war.
Jeanne nahm O bei der Hand und zog sie auf den Korridor hinaus. Wieder
klapperten ihre Pantöffelchen auf den Fliesen und wieder fanden sie auf der
Bank zwischen den Türen einen Diener. Er war wie Pierre gekleidet, aber es war
nicht Pierre. Er war ein großer, dürrer Mensch mit schwarzem Haar. Er ging vor
den Frauen her und führte sie in ein Vorzimmer, wo an einer schmiedeeisernen
Tür, die sich von großen, gelben Portieren abhob, zwei weitere Diener warteten,
zu deren Füßen weiße, lohfarben gefleckte Hunde lagen. "Das ist das
Allerheiligste", flüsterte Jeanne. Aber der Diener, der vor ihnen ging,
hatte sie gehört und drehte sich um. O sah voll Entsetzen, wie Jeanne ganz blaß
wurde und ihre Hand losließ, das Kleid losließ, das sie mit der anderen Hand
leicht gerafft hatte, und auf die Knie fiel, auf die schwarzen Fliesen - denn
das Vorzimmer war mit schwarzem Marmor ausgelegt. Die beiden Diener neben [59]
der Gittertür lachten. Einer von ihnen trat zu O hin und bat sie, ihm zu
folgen, öffnete die Tür, die Tür gegenüber, durch die sie hereingekommen waren,
und verschwand. Sie hörte Lachen und Hin- und Hergehen, dann schloß die Tür
sich hinter ihr. Nie, niemals erfuhr sie, was sich zugetragen hatte, ob Jeanne
bestraft worden war, weil sie gesprochen hatte und worin diese Strafe bestand,
oder ob sie nur eine Laune des Dieners zu befriedigen hatte, ob sie mit ihrem
Kniefall ein Gebot befolgte oder ihn milde stimmen wollte und ob es ihr
gelungen war. O beobachtete während dieses ersten Aufenthaltes im Schloß, der
zwei Wochen dauerte, daß trotz der Strenge des Schweigegebotes nur selten
jemand versuchte, dieses Gebot während der Gänge im Haus oder während der
Mahlzeiten einzuhalten, besonders bei Tage in alleiniger Gegenwart der Diener,
als verleihe die Kleidung eine Sicherheit, die das Nacktsein und die Ketten bei
Nacht und die Anwesenheit der Gebieter zunichte machte. Sie beobachtete ferner,
daß die kleinste Geste, die man als Annäherungsversuch an einen der Gebieter auslegen
konnte, selbstredend ganz unvorstellbar war, daß dies jedoch den Dienern
gegenüber nicht galt. Die Diener erteilten niemals einen Befehl, wenn auch die
Höflichkeit ihrer Aufforderungen ebenso unerbittlich war wie ein Befehl. Sie
hatten offenbar Anweisung, Verstöße gegen die Hausregel auf der Stelle zu
bestrafen, wenn sie die einzigen Zeugen waren. So erlebte O dreimal, einmal auf
dem Korridor, der in den roten Flügel führte und zweimal im Refektorium, wohin
man sie soeben geführt hatte, wie Mädchen, die beim Sprechen ertappt worden
waren, zu Boden geworfen und gepeitscht wurden. Man konnte also [60] auch,
ungeachtet dessen, was ihr am ersten Abend gesagt worden war, am hellen Tage
ausgepeitscht werden; was in Gegenwart der Diener geschah, fiel nicht unter
dieses Gesetz und konnte nach Gutdünken geahndet werden. Das Tageslicht verlieh
ihren Kostümen etwas Ausgefallenes und Drohendes. Einige trugen schwarze
Strümpfe und statt der roten Jacke und des weißen Jabots ein weiches Hemd aus
roter Seide, das am Hals gerafft war, mit weiten Ärmeln, die am Handgelenk eng
anlagen. Am Mittag des achten Tages hatte einer dieser Diener, schon mit der
Peitsche in der Hand, das Mädchen auf dem Hocker neben O aufgerufen, eine
üppige, blonde Magdalena mit einem Busen wie Milch und Rosen, die ihr
zugelächelt und ein paar Worte so hastig zugeflüstert hatte, daß O sie nicht
verstand. Noch eh der Diener sie berührt hatte, lag sie zu seinen Füßen, ihre
schneeweißen Hände streichelten unter der schwarzen Seide das noch ruhende Geschlecht,
sie legte es frei und führte es an ihren geöffneten Mund. Sie wurde dieses Mal
nicht gepeitscht. Und da dieser Diener damals als einziger im Speisesaal die
Aufsicht führte, und die Augen schloß, während er sich die Buße gefallen ließ,
tuschelten die übrigen Mädchen. Man konnte also die Diener bestechen. Aber
wozu? Wenn es eine Vorschrift gab, der O sich nicht mit Leichtigkeit beugen
konnte, der sie sich niemals völlig beugte, so war es die Vorschrift, daß sie
den Männern nicht ins Gesicht schauen dürfe - und da diese Vorschrift auch den
Dienern gegenüber galt, fühlte O sich ständig in Gefahr, so sehr verzehrte sie
die Neugier auf Gesichter. Tatsächlich wurde sie von dem einen oder anderen
gepeitscht, allerdings nicht jedesmal, wenn man sie ertappte (denn die [61]
Diener nahmen es mit den Regeln nicht so genau, sie legten wohl großen Wert auf
die Faszination, die sie ausübten und wollten sich nicht durch zu
unnachsichtige und zu grausame Strenge um die Blicke bringen, die von ihren
Augen und ihrem Mund abglitten, um sich wieder auf ihr Geschlecht zu heften,
auf die Peitsche, ihre Hände, um das Spiel von neuem zu beginnen), sondern
zweifellos nur dann, wenn sie Lust hatten, O zu demütigen. So grausam sie in
solchem Fall auch behandelt wurde, sie hatte nie den Mut oder die Feigheit
besessen, sich ihnen zu Füßen zu werfen, sie fügte sich ihnen, aber sie flehte
sie niemals an. Was das Gebot des Schweigens betraf, so fiel es ihr so leicht,
es einzuhalten - nicht nur ihrem Geliebten gegenüber - daß sie es nicht ein
einzigesmal übertrat, nur durch Zeichen antwortete, wenn ein anderes Mädchen
einen unbewachten Augenblick nutzte, um sie anzusprechen. Das geschah meist
während der Mahlzeiten, die in dem Saal stattfanden, in den man sie soeben
geführt hatte. Die Wände waren schwarz, die Fliesen ebenfalls, der lange Tisch
aus dickem, schwarzem Glas, und jedes Mädchen hatte als Sitzgelegenheit einen
runden, mit schwarzem Leder bezogenen Hocker. Wenn man sich darauf niederließ,
mußte man die Röcke heben und als ihre Schenkel das glatte, kalte Leder
berührten, wurde O an den Sitz des Autos erinnert, auf den sie sich so hatte
setzen müssen, nachdem ihr Geliebter ihr befohlen hatte, Strümpfe und Slip
auszuziehen. Und umgekehrt wurde sie später jedesmal, wenn sie - gekleidet wie
alle Welt, aber mit nackten Lenden unter ihrem unauffälligen Schneiderkostüm
oder ihrem gewöhnlichen Kleid - Rock und Unterkleid hob, um sich neben ihrem
[61] Geliebten oder einem anderen Mann auf den blanken Autositz oder auf die
Bank eines Cafes zu setzen, an das Schloß erinnert, an ihre nackten Brüste, die
das seidene Mieder zur Schau stellte, an die Hände und Lippen, denen alles
erlaubt war, und an das schreckliche Schweigen. Dennoch war nichts ihr eine so
große Hilfe gewesen, wie dieses Schweigen, höchstens noch die Ketten. Die
Ketten und das Schweigen, die sie an sich selbst hatten fesseln sollen, sie
ersticken, sie erwürgen, hatten sie im Gegenteil von sich selbst befreit. Was
wäre aus ihr geworden, wenn man ihr die Sprache gelassen hätte und die
Bewegungsfreiheit ihrer Hände, wenn ihr eine Wahl geblieben wäre, während ihr
Geliebter sie vor seinen Augen anderen preisgab? Gewiß, sie sprach während der
Folterungen, aber konnte man dieses Gemisch aus Klagen und Schreien noch
sprechen nennen? Überdies brachte man sie oft zum Verstummen, indem man sie
knebelte. Die Blicke, die Hände, die Körper, die sie besudelten, die Peitschen,
die sie zerfleischten, versetzten sie in einen rauschhaften Zustand der
Selbstvergessenheit, der wieder in die Liebe mündete, sie vielleicht sogar in
die Nähe des Todes führte. Sie war niemand und zugleich jedes der anderen
Mädchen, die wie sie geöffnet und brutal genommen wurden, vor ihren Augen, denn
sie sah dabei zu, wenn sie nicht sogar dabei helfen mußte. An ihrem zweiten
Tag, noch nicht vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft, wurde sie also nach
dem Essen in die Bibliothek geführt, um sich dort um den Kaffee und das Feuer
zu kümmern. Sie wurde begleitet von Jeanne, die der schwarz behaarte Diener
wieder zurückgebracht hatte, und von einem Mädchen namens Monique. Der gleiche
Diener führte [63] sie auch in die Bibliothek, wo er neben der Säule stehen
blieb, an der O angebunden gewesen war. Die Bibliothek war noch leer. Die
Fenstertüren gingen nach Westen und die Herbstsonne, die langsam über einen
friedlichen, hohen Himmel zog, an dem kaum eine Wolke stand, erhellte auf einer
Kommode einen riesigen Strauß schwefelgelber Chrysanthemen, die nach Erde und
welkem Laub rochen. "Hat Pierre Sie gestern gezeichnet? fragte der Diener.
O nickte. - Dann müssen Sie es zeigen, raffen Sie bitte Ihren Rock." Er
wartete, bis sie ihren Rock hinten hochgerollt hatte, wie es ihr am Vorabend
von Jeanne gezeigt worden war, und bis Jeanne ihr geholfen hatte, ihn
festzumachen. Dann sagte er, sie solle das Feuer anzünden. Inmitten der Kaskade
aus grüner Seide und weißem Batist waren Os Lenden bis zur Taille sichtbar,
ihre Schenkel und die schlanken Beine. Die fünf Striemen waren schwarz. Das
Holz lag schon auf dem Rost geschichtet, O brauchte nur ein Streichholz an das
Stroh unter den Reisern zu halten, die sogleich Feuer fingen. Die Zweige des
Apfelbaums brannten zuerst, dann die Eichenscheite, aus denen hohe, prasselnde
und helle Flammen schlugen, die im Sonnenlicht fast unsichtbar waren, aber stark
dufteten. Ein zweiter Diener trat ein und stellte auf die Konsole, von der die
Lampe entfernt worden war, ein Tablett mit Tassen und Kaffee und ging wieder. O
ging zur Konsole, Monique blieb auf der einen, Jeanne auf der anderen Seite des
Kamins stehen. In diesem Augenblick traten zwei Männer ein, während der erste
Diener hinausging. O glaubte an der Stimme einen der Männer zu erkennen, die am
Vorabend mit Gewalt in sie eingedrungen waren, den Mann, der [64] verlangt
hatte, daß man Os Lenden leichter zugänglich machen solle. Sie musterte ihn
verstohlen, während sie den Kaffe in die schwarzgoldenen Täßchen goß, die
Monique zusammen mit dem Zucker herumreichte. Es war also dieser schlanke,
blonde Junge gewesen, der wie ein Engländer aussah. Er sprach wieder, und nun
war sie sicher. Auch der andere war blond, jedoch untersetzt, mit plumpen
Zügen. Beide saßen in den großen Ledersesseln, die Beine am Feuer, rauchten
ruhig und lasen ihre Zeitungen, sie nahmen von den Frauen so wenig Notiz, als
wären sie nicht da. Von Zeit zu Zeit hörte man Papier rascheln, Glut
zerbröckeln. Von Zeit zu Zeit legte O ein neues Scheit aufs Feuer. Sie saß auf
einem Kissen am Boden, neben dem Holzkorb. Monique und Jeanne ihr gegenüber,
ebenfalls am Boden. Ihre ausgebreiteten Röcke flössen ineinander. Moniques
Kleid war dunkelrot. Plötzlich, aber erst nach Ablauf einer Stunde, rief der
blonde Junge Jeanne herbei, dann Monique. Er befahl ihnen, den Hocker zu
bringen (den gleichen, über den man am Vorabend O bäuchlings geworfen hatte). Monique
wartete nicht erst auf weitere Befehle, sie kniete nieder, beugte sich
vornüber, daß ihre Brust sich gegen den Pelzbezug preßte, und hielt sich mit
beiden Händen an den Ecken des Hockers fest. Als Jeanne auf Befehl des jungen
Mannes Moniques roten Rock hochschlug, bewegte sie sich nicht. Nun mußte Jeanne
ihm, nach seinen Anweisungen, die er ihr in denkbar brutalen Ausdrücken
erteilte, die Kleider öffnen und mit beiden Händen diesen Degen aus Fleisch
umfassen, der O mindestens einmal so grausam durchbohrt hatte. Er schwoll an,
wurde steif zwischen den geschlossenen Handflächen und O sah diese gleichen
[65] Hände, Jeannes winzige Hände, Moniques Schenkel teilen, in deren Höhlung
der junge Mann eindrang, langsam und in kleinen Stößen, die das Mädchen stöhnen
ließen. Der andere Mann, der wortlos zusah, winkte O zu sich, und ohne den
Blick abzuwenden, stieß er sie über eine Armlehne seines Sessels, so daß ihr
hochgeschürzter Rock ihm ihre Lenden in ganzer Länge darbot, und griff mit
einer Hand in ihren Schoß. So fand sie René, als er eine Minute später
hereinkam. "Bleiben Sie nur so", sagte er und setzte sich auf das
Kissen am Boden, wo O, eh sie weggerufen wurde, am Feuer gesessen war. Er
betrachtete sie aufmerksam und lächelte, sooft die Hand, die sie festhielt, in
ihr wühlte, wieder zupackte, sich immer tiefer in ihren Schoß grub und in ihre
nachgebenden Lenden, und ihr ein Stöhnen entriß, das sie nicht unterdrücken
konnte. Monique war längst wieder aufgestanden, Jeanne schürte an Os Stelle das
Feuer, sie brachte René, der ihr die Hand küßte, ein Glas Whisky, und er trank
es aus, ohne die Augen von O abzuwenden. Der Mann, der sie noch immer gepackt
hielt, sagte: "Gehört sie Ihnen? - Ja, antwortete René. - Jacques hat
recht, fuhr der andere fort, sie ist zu eng, man muß sie ausweiten. - Aber
nicht zu sehr, sagte Jacques. - Wie Sie wünschen, sagte René und stand auf, Sie
können das besser beurteilen, als ich." Und er läutete.
Während der folgenden Tage trug O von Sonnenuntergang, dem Ende ihrer
Dienstzeit in der Bibliothek, bis zu der Nachtstunde - acht oder zehn Uhr - zu
der man sie wieder dorthin führte, - sie in Ketten und nackt unter ihrem roten
Umhang hinführte - einen Zapfen aus Hartgummi von der Form eines aufgerichteten
[66] Penis, der von drei Kettchen an einem Ledergürtel um ihre Hüften so
festgehalten wurde, daß die innere Bewegung ihrer Muskeln ihn nicht
herausstoßen konnte. Eine der Kettchen folgte der Furche zwischen ihren Lenden,
die beiden anderen dem Ansatz der Schenkel zu beiden Seiten ihres Schoßes, so
daß man, wenn man wollte, ungehindert dort eindringen konnte. Als René
geklingelt hatte, hatte er den Behälter bringen lassen, der in einem Fach ein
Sortiment von Kettchen und Gürteln enthielt und im anderen eine Auswahl von
Zapfen, von den dünnsten bis zu ganz dicken. Allen war gemeinsam, daß sie an
der Basis sehr breit waren, damit sie keinesfalls ins Körperinnere rutschten
und der fleischige Ring, den sie aufzwingen und dehnen sollten, sich nicht
wieder zusammenziehen konnte. So wurde sie aufgespreizt, zunehmend von Tag zu
Tag, denn Jacques, der sie täglich niederknien oder besser sich zu Boden werfen
ließ, um darüber zu wachen, daß Jeanne oder Monique oder irgendeine andere, die
gerade zur Hand war, den von ihm gewählten Zapfen befestigte, wählte jedesmal
einen dickeren. Noch beim Abendessen, das die Mädchen gemeinsam im gleichen
Speisesaal einnahmen, gebadet, nackt und geschminkt, trug O ihn, und an den
Kettchen und dem Gürtel konnten alle sehen, daß sie ihn trug. Er wurde ihr erst
abgenommen, und zwar von Pierre, wenn der Diener sie für die Nacht an der Wand
ankettete, falls niemand nach ihr verlangte, oder wenn er ihr die Hände auf den
Rücken fesselte, um sie zur Bibliothek zu führen. Es verging kaum eine Nacht,
ohne daß jemand sich dieses Zugangs bedient hätte, der auf diese Weise bald
ebenso bequem war, wenn auch noch immer enger, als der andere. Nach Ablauf
einer Woche [67] war keine Vorrichtung mehr nötig und ihr Geliebter sagte O, er
sei glücklich, daß sie nun zweifach zugänglich sei und er werde dafür sorgen,
daß sie es auch bleibe. Zugleich kündigte er ihr an, daß er verreise und daß
sie ihn während der letzten sieben Tage, die sie im Schloß verbringen sollte,
eh er sie abholen und nach Paris zurückbringen werde, nicht mehr zu sehen bekäme.
"Aber ich liebe dich, fügte er hinzu, ich liebe dich, vergiß mich
nicht." Ah! wie hätte sie ihn vergessen können? Er war die Hand, die ihr
die Augen verband, die Peitsche des Dieners Pierre, er war die Kette über ihrem
Bett und der Unbekannte, der seine Zähne in ihren Schoß grub, und alle Stimmen,
die ihr Befehle erteilten waren seine Stimme. Wurde sie abgestumpft? Nein. Man
hätte meinen sollen, durch die ständige Erniedrigung würde sie sich daran
gewöhnen, erniedrigt zu werden, durch die ständigen Berührungen daran, berührt
zu werden, vielleicht sogar an die Peitsche, wenn sie ständig gepeitscht wurde.
Eine schreckliche Übersättigung mit Schmerz und Wollust hätten sie allmählich
bis an die Schwelle einer Fühllosigkeit treiben müssen, die dem Schlaf oder der
Bewußtlosigkeit ähnlich war. Aber im Gegenteil. Vielleicht lag es an dem
Korsett, das sie stützte, an den Ketten, die sie in sklavischer Unterwerfung
hielten, an der Stille ihrer Zelle, und am ständigen Anblick der Mädchen, die
wie sie ausgeliefert waren, am Anblick dieser stets allen zugänglichen Körper.
Auch am Anblick ihres eigenen Körpers und daran, daß sie ständig an ihn denken
mußte. Täglich, und wie einem Ritual folgend, von Speichel und Sperma
beschmutzt, von Schweiß, der sich mit ihrem eigenen Schweiß mischte, empfand
sie sich buchstäblich als [68] Gefäß der Unreinheit, von dem die Heilige
Schrift redet. Und doch, genau wie diejenigen Teile ihres Körpers, die am
meisten geschändet wurden, noch empfindungsfähiger geworden waren, so schienen
sie ihr auch schöner geworden, veredelt: ihr Mund, der das Geschlecht eines
Unbekannten umschloß, die Spitzen ihrer Brüste, die ständig von fremden Händen
berührt wurden, die Zugänge ihres Leibes zwischen ihren gespreizten Schenkeln,
Wege, die jeder benutzen, jeder nach Laune zerwühlen konnte. Unglaublich, daß
sie an Würde gewonnen haben sollte, weil sie prostituiert wurde, und doch
stimmte es. Sie strahlte Würde aus, man sah an ihrem Gang die Ruhe, an ihrem
Gesicht die Heiterkeit und das leise innere Lächeln, das man in den Augen
derer, die für die Welt tot sind, mehr ahnt als sieht.
Als René ihr sagte, daß er sie verlassen werde, war die Nacht bereits
hereingebrochen. O war nackt in der Zelle und wartete, bis man sie in den
Speisesaal führen würde. Ihr Gebieter hingegen war gekleidet wie immer, mit
einem Anzug, den er täglich in der Stadt trug. Als er sie in die Arme nahm,
rieb der Tweed seiner Jacke sich an der Spitze ihrer Brüste. Er küßte sie,
legte sie aufs Bett, legte sich zu ihr und nahm sie zärtlich und sanft, kam und
ging durch die beiden Wege, die sich ihm boten, um sich endlich in ihrem Mund
zu ergießen, den er danach von neuem küßte. "Eh ich weggehe, möchte ich
dich peitschen lassen, und diesmal bitte ich dich darum. Bist du einverstanden?
- Sie war einverstanden. - Ich liebe dich, ich liebe dich, wiederholte er,
klingle nach Pierre." Sie klingelte. Pierre fesselte ihr die Hände über
dem Kopf an der Kette. Als sie so festgebunden war, küßte ihr Geliebter sie
nochmals, er stand neben [69] ihr auf dem Bett, wiederholte noch einmal, daß er
sie liebe, stieg dann vom Bett und machte Pierre ein Zeichen. Er sah zu, wie
sie sich vergeblich wand, hörte ihr Stöhnen zu Schreien werden. Als ihre Tränen
flössen, schickte er Pierre weg. Sie fand die Kraft, ihm noch einmal zu sagen,
daß sie ihn liebe. Er küßte ihr tränennasses Gesicht, ihren keuchenden Mund,
band sie los, legte sie aufs Bett und ging.
Wenn man sagt, daß O von der Sekunde an, in der ihr Geliebter sie verließ, nur
noch auf seine Rückkehr gewartet habe, so sagt man wenig: sie war nur noch
Erwartung und Nacht. Bei Tage war sie wie eine gemalte Statue mit sanfter Haut
und gefügigem Mund, die - jetzt hielt sie auch diese Regel strikt ein - stets
die Augen gesenkt hielt. Sie machte das Feuer an und unterhielt es, servierte
Kaffee und Getränke, zündete Zigaretten an, arrangierte Blumen und faltete
Zeitungen wie ein junges Mädchen im Salon ihrer Eltern, und wirkte dabei so
rührend mit ihrem entblößten Busen und dem Lederhalsband, dem engen Korsett und
den Handschellen aus Leder, daß die Männer, die sie bediente, ihr nur zu
befehlen brauchten, sie solle dabeistehen, wenn eines der anderen Mädchen
vergewaltigt wurde, um sogleich auch nach O selbst zu verlangen; zweifellos
mißhandelte man sie darum nur um so mehr. Machte sie etwas falsch? Oder hatte
ihr Geliebter sie allein gelassen, damit die anderen, denen er sie auslieferte,
um so freier über sie verfügen konnten? Wie dem auch sei, als sie am zweiten
Tag nach seiner Abreise bei Anbruch der Nacht sich soeben entkleidet hatte und
im Spiegel ihres Badezimmers die schon fast verblaßten Striemen von Pierres
Reitstock auf der Vorderseite ihrer [70] Schenkel betrachtete, trat der Diener
ein. Es waren noch zwei Stunden bis zum Abendessen. Er sagte ihr, daß sie nicht
im Speisesaal essen werde und daß sie sich fertigmachen solle, wobei er auf den
türkischen Sitz in der Ecke wies, auf den sie sich nun in Gegenwart Pierres
kauern mußte, wie Jeanne ihr bereits gesagt hatte. Die ganze Zeit, während sie
dort saß, schaute er sie an, sie sah ihn in den Spiegeln und sah sich selbst,
unfähig das Wasser zurückzuhalten, das aus ihrem Körper floß. Er wartete, bis
sie danach ihr Bad genommen und sich geschminkt hatte. Sie wollte ihre
Pantöffelchen und den roten Umhang holen, doch er sagte, indem er ihr die Hände
auf den Rücken band, daß es sich nicht lohne und daß sie einen Augenblick auf
ihn warten solle. Sie setzte sich an eine Ecke des Bettes. Draußen ging ein
Unwetter nieder, kalter Wind und Regen, und die Pappel neben dem Fenster krümmte
und streckte sich unter den Sturmböen. Vergilbte, durchweichte Blätter
klatschten dann und wann an die Scheiben. Es war so dunkel wie mitten in der
Nacht, obwohl es noch nicht sieben Uhr geschlagen hatte, aber der Herbst war
schon vorgerückt und die Tage wurden kürzer. Als Pierre wiederkam, hielt er die
gleiche Binde in der Hand, mit der ihr am ersten Abend die Augen verbunden
worden waren. Dazu eine lange, klirrende Kette, ähnlich der Kette an der Wand.
Es schien O, als zögerte er, ob er ihr zuerst die Kette anlegen solle oder
zuerst die Augenbinde. Sie schaute dem Regen zu, es war ihr gleichgültig, was
man von ihr wollte, sie dachte nur, daß René gesagt hatte, er werde
wiederkommen, daß noch fünf Tage und fünf Nächte vergehen müßten, und daß sie
nicht wußte, wo er war, ob er allein war und wenn nicht, wer bei ihm [71] sein
mochte. Aber er würde wiederkommen. Pierre hatte die Kette aufs Bett gelegt,
und ohne O in ihren Träumen zu stören, befestigte er die schwarze Augenbinde,
die sich ein wenig über den Augenhöhlen erweiterte, jedoch dicht auf den Lidern
lag: unmöglich, durchzuspähen, unmöglich, die Lider zu heben. Wohltätige Nacht,
die ihrer eigenen Nacht glich und die O niemals mit solcher Freude begrüßt
hatte, wohltätige Ketten, die sie von sich selbst befreiten. Pierre befestigte
die Kette an dem Ring ihres Halsbandes und bat sie, mit ihm zu kommen. Sie
stand auf, spürte, daß sie vorwärtsgezogen wurde und setzte sich in Bewegung.
Ihre nackten Füße wurden eisig auf den Fliesen, sie begriff, daß sie den Korridor
des roten Flügels entlangging, dann wurde der Boden, der noch immer kalt war,
rauher: sie ging auf einem Steinbelag, Sandstein oder Granit. Zweimal hieß der
Diener sie stehenbleiben, sie hörte das Geräusch eines Schlüssels, der eine Tür
öffnete, dann wieder versperrte. "Vorsicht, Stufen", sagte Pierre und
sie stieg eine Treppe hinunter, einmal strauchelte sie. Pierre fing sie um die
Taille auf. Er hatte sie noch nie berührt, außer um sie anzuketten oder zu
schlagen, jetzt aber legte er sie auf die kalten Stufen, an denen sie sich mit
den gefesselten Händen festhielt, so gut es ging, um nicht zu rutschen und
stürzte sich auf ihre Brüste. Sein Mund wanderte von der einen zur anderen und
während er sie an sich preßte, spürte sie, wie er sich langsam spannte. Er hob
sie erst auf, nachdem er sich an ihr genüge getan hatte. Naß und vor Kälte
zitternd stieg sie schließlich die letzten Stufen hinab, hörte wieder eine Tür
aufgehen und spürte, nachdem sie durch diese Tür gegangen war, sogleich einen
dicken [72] Teppich unter den Füßen. Die Kette wurde nochmals leicht angezogen,
dann banden Pierres Hände ihre Hände los, nahmen ihr die Augenbinde ab: sie war
in einem runden, gewölbten Raum, der sehr klein und niedrig war, Mauern und
Deckengewölbe aus Stein und ohne jeden Bewurf, man sah die Fugen zwischen den
Quadern. Die Kette, die an ihrem Hals befestigt war, hing, in einer
Ringschraube eingehakt, in etwa einem Meter Höhe an der Mauer, der Tür
gegenüber, und ließ ihr nur soviel Bewegungsfreiheit, daß sie zwei Schritte
nach vorn machen konnte. Es war kein Bett da, nichts, was einem Bett ähnlich
sah, keine Decke, nur drei oder vier marokkanische Kissen, aber außerhalb ihrer
Reichweite und nicht für sie bestimmt. Innerhalb ihrer Reichweite hingegen
stand in der Nische, durch die das spärliche Licht in den Raum sickerte, ein
Holztablett mit Wasser, Obst und Brot. Die Wärme der Heizkörper, die nah am
Boden in das Mauerwerk eingebaut waren und rundum eine Art brennender Fußleiste
bildeten, kam nicht auf gegen den Geruch nach Schlamm und Erde, den Geruch, der
in den ehemaligen Kerkern herrscht, in den alten Schlössern, in einem
unbewohnten Bergfried. In diesem warmen Halbdunkel, in das kein Laut drang,
hatte O bald jeden Sinn für Zeit verloren. Es gab weder Tag noch Nacht, das
Licht ging nie ganz aus. Pierre oder ein anderer Diener stellten gleichgültig
frisches Wasser, Obst und Brot auf das Tablett, wenn es leer war, und führten
sie ins Bad in ein benachbartes Gelaß. Sie sah niemals die Männer, die
hereinkamen, weil jedesmal erst ein Diener ihr die Augen verband und die Binde
erst abnahm, wenn sie wieder allein war. Sie verlor auch das Gefühl dafür,
wieviele es waren [73] und weder ihre sanften Hände noch ihre Lippen, die blind
ihre Zärtlichkeit erwiesen, konnten jemals erkennen, wen sie berührten.
Manchmal waren es mehrere, meist nur einer allein, aber jedesmal mußte sie, eh
jemand sich ihr näherte, mit dem Gesicht zur Mauer niederknien, man hakte den
Ring ihres Halsbandes in die gleiche Öse, an der die Kette hing und peitschte
sie aus. Sie stemmte die Handflächen gegen die Mauer und legte das Gesicht auf
den Handrücken, um es sich nicht am Stein zu zerkratzen; aber sie rieb sich
Knie und Brüste daran wund. Sie konnte auch die Martern nicht mehr zählen und
ihre Schreie, die das Gewölbe erstickte. Sie wartete. Plötzlich stand die Zeit
nicht mehr still. In ihrer samtenen Nacht nahm sie wahr, daß ihr die Kette
abgenommen wurde. Drei Monate lang, drei Tage lang hatte sie gewartet, oder
zehn Tage oder zehn Jahre. Sie spürte, daß man sie in einen dicken Stoff
hüllte, und daß jemand sie unter den Armen und den Kniekehlen faßte, hochhob
und wegtrug. Sie fand sich in ihrer Zelle unter ihrer schwarzen Pelzdecke
wieder, es war früher Nachmittag, ihre Augen waren offen, ihre Hände frei, und
René saß neben ihr und streichelte ihr das Haar. "Du mußt dich anziehen,
sagte er, wir gehen." Sie nahm ein letztes Bad, er bürstete ihr das Haar,
reichte ihr Puder und Lippenstift. Als sie in die Zelle zurückkam, lagen ihr
Kostüm, die Bluse, das Unterkleid, ihre Strümpfe und Schuhe auf dem Fußende des
Bettes, auch ihre Tasche und die Handschuhe. Sogar der Mantel war da, den sie
über dem Kostüm trug, wenn es anfing, kälter zu werden, und ein Seidentuch, um
den Hals zu schützen, aber weder Strumpfgürtel noch Slip. Sie rollte die
Strümpfe bis zum Knie, zog sich langsam [74] an, bis auf die Kostümjacke, denn
es war sehr warm in der Zelle. In diesem Augenblick trat der Mann ein, der ihr
am ersten Abend erklärt hatte, was man von ihr verlangen werde. Er nahm ihr das
Halsband und die Armreifen ab, die sie zwei Wochen lang gefangen gehalten
hatten. Fühlte sie sich jetzt befreit? Oder fehlte ihr etwas? Sie sagte nichts,
wagte kaum, mit den Händen ihre Gelenke zu berühren, wagte nicht, an ihren Hals
zu fassen. Der Mann hielt ihr nun eine kleine Holzkette mit lauter gleichen
Ringen hin und bat sie, daraus einen Ring zu wählen, der an ihren linken
Ringfinger paßte. Es waren sonderbare Eisenringe, innen mit Gold gerandet; der
breite, schwere Reif, ähnlich der Fassung eines Siegelrings, aber hochgewölbt,
trug in Nielloarbeit ein goldenes Rad mit drei Speichen, die spiralenförmig
gebogen waren, wie beim Sonnenrad der Kelten. Der zweite Ring ließ sich mit ein
wenig Mühe anstecken und paßte genau. Er war schwer an ihrer Hand, und das Gold
glänzte wie aus einem Versteck hinter dem matten Grau des polierten Eisens.
Warum das Eisen, warum das Gold, und das Zeichen, das sie nicht zu deuten
wußte? Es war nicht möglich, in diesem rotbespannten Raum zu sprechen, wo noch
die Kette an der Wand über dem Bett hing, wo die noch verknüllte schwarze Decke
am Boden lag, wo der Diener Pierre hereinkommen konnte, hereinkommen würde,
eine absurde Erscheinung in seinem Opernkostüm, im wattigen Novemberlicht. Sie
irrte sich, Pierre kam nicht herein. René ließ sie die Jacke anziehen und die
langen Handschuhe, die über die Ärmel reichten. Sie nahm ihren Schal, die
Tasche, und hängte den Mantel über den Arm. Die Absätze ihrer Schuhe machen auf
den Fliesen des Korridors [75] weniger Geräusch, als die Pantöffelchen gemacht
hatten, die Türen waren geschlossen, das Vorzimmer war leer. O hielt die Hand
ihres Geliebten. Der Unbekannte, der sie geleitete, öffnete das Gitter des
"Aller-heiligsten", wie Jeanne es genannt hatte und vor dem jetzt weder
Diener noch Hunde wachten. Er hob eine der grünen Samtportieren und ließ beide
durchgehen. Der Vorhang fiel wieder. Man hörte, wie das Gitter geschlossen
wurde. Sie waren allein in einem weiteren Vorraum, der zum Park führte. Man
brauchte nur noch die Stufen der Freitreppe hinunterzugehen, vor der O den
Wagen wiedersah, den sie schon kannte. Sie setzte sich neben ihren Geliebten,
der am Steuer saß und den Wagen startete. Als sie aus dem Park waren, dessen
Einfahrtstor weit offen stand, fuhr er noch einige hundert Meter weiter, hielt
dann an, um sie zu küssen. Es war genau am Eingang eines kleinen, friedlichen
Dörfchens, das sie danach durchführen. O konnte den Namen auf dem Ortsschild
lesen: Roissy.
[76]
II SIR STEPHEN
Das Appartement, das O bewohnte, lag auf der Ile Saint-Louis, unter dem
Giebelwerk eines alten Hauses, das nach Süden, über die Seine, blickte. Es
waren große, niedrige Mansardenzimmer, die beiden Vorderzimmer hatten je einen
Balkon, der in die Dachschräge eingebaut war. Eines war Os Schlafzimmer; das
andere, wo eine vom Boden bis zur Decke reichende Bücherwand den Kamin rahmte,
diente als Salon, als Arbeitsraum und wenn man wollte, konnte man hier auch
schlafen: den beiden Fenstern gegenüber stand ein großes Sofa, und vor dem
Kamin ein großer, antiker Tisch. Hier wurde auch zu Abend gegessen, wenn das
winzige Speisezimmer, das mit dunkelgrünem Serge tapeziert war und auf den Hof
ging, die Gäste nicht fassen konnte. Ein weiteres Zimmer, das ebenfalls auf den
Hof ging, diente René als Schrank- und Ankleideraum. O teilte mit ihm das gelbe
Badezimmer; die ebenfalls gelbe Küche war winzig klein. Eine Aufwartefrau kam
jeden Tag. Die Böden der Zimmer auf der Hofseite waren mit roten Fliesen
ausgelegt, mit diesen altmodischen, sechseckigen Platten, die vom zweiten
Stockwerk aufwärts die Stufen und Treppengänge der alten Pariser Häuser
bedecken. Als O sie wiedersah, spürte sie einen Stich im Herzen: es waren die
gleichen Fliesen, wie in den Korridoren von Roissy. Ihr Zimmer war klein, die
rosa und [78] schwarzen Chintzvorhänge waren zugezogen, das Feuer loderte
hinter dem Kamingitter, das Bett war bereit, die Decke zurückgeschlagen.
"Ich habe dir ein Nylonnachthemd gekauft, sagte René, du hast noch
keines." Wirklich lag am Bettrand, auf der Seite, auf der O schlief, ein
weißes, plissiertes Nylonhemd ausgebreitet, hauchzart wie die Gewänder der
ägyptischen Statuen und beinah durchsichtig. Es wurde um die Taille, über einer
Steppbordüre aus Gummifäden, mit einem schmalen Gürtel gehalten und der
Nylonjersey war so leicht, daß die Wölbung der Brüste ihn rosig färbte. Alles,
mit Ausnahme der Vorhänge und der gleichfarbigen Stoffbespannung zu Häupten des
Bettes und der beiden kleinen Sessel, die mit demselben Chintz bezogen waren,
alles in diesem Zimmer war weiß: die Wände, die Steppdecke auf dem Sprossenbett
aus Mahagoni, und die Bärenfelle auf dem Boden. O saß jetzt in ihrem weißen
Hemd vor dem Feuer und hörte ihrem Geliebten zu. Als erstes sagte er ihr, sie
dürfe nicht glauben, daß sie von jetzt an wieder frei sei. Es stehe ihr
allerdings frei, ihn nicht mehr zu lieben und ihn auf der Stelle zu verlassen.
Wenn sie ihn aber liebe, sei sie in nichts mehr frei. Sie hörte ihm wortlos zu,
dachte, wie glücklich sie darüber sei, daß er sich, auf welche Weise auch
immer, beweisen wolle wie sehr sie ihm gehöre, und daß es ein wenig naiv von
ihm sei, anzunehmen, diese Hörigkeit bedürfe überhaupt eines Beweises. Aber
vielleicht nahm er das gar nicht an und wollte nur darüber sprechen, weil es
ihm Freude machte? Sie schaute ins Feuer, während er zu ihr redete, sie schaute
nicht zu ihm auf, wagte nicht, seinem Blick zu begegnen. Er hatte sich nicht
gesetzt, er ging im [79] Zimmer auf und ab. Plötzlich sagte er, daß sie vor
allem die Knie öffnen und die Arme hängen lassen solle, wenn sie ihm zuhöre;
denn sie hatte mit geschlossenen Knien dagesessen und hatte die Arme um die
Knie geschlungen. Sie zog also ihr Hemd hoch und ließ sich auf Knie und Fersen
nieder, wie die Karmeliterinnen oder die Japanerinnen, und wartete. Jetzt, wo
ihre Knie gespreizt waren, spürte sie zwischen ihren halbgeöffneten Schenkeln
das leichte, spitze Kratzen des weißen Fells; René war noch nicht genug
zufrieden: sie hatte die Beine nicht weit genug geöffnet. Die Befehle
"öffne" und "öffne die Beine", von René ausgesprochen,
besaßen eine so verwirrende Macht, daß sie sie niemals ohne eine Art geistigen
Kniefalls hörte, frommer Unterwerfung, als hätte nicht er, sondern ein Gott sie
gesprochen. Sie blieb also unbeweglich sitzen und ließ die Hände mit den
Innenflächen nach oben zu beiden Seiten ihrer Knie ruhen, zwischen denen der
Jersey ihres Hemdes, das sich um sie breitete, in die ursprünglichen
Pliseefalten fiel. Was ihr Geliebter von ihr verlangte, war ganz einfach: daß
sie ständig und auf der Stelle zugänglich sein solle. Es genügte ihm nicht, zu
wissen, daß sie es war: sie mußte es ohne jedes Hindernis sein, und ihre ganze
Haltung wie auch ihre Kleidung sollten für die Eingeweihten gewissermaßen
Symbole dieser Zugänglichkeit sein. Das bedeutet, fuhr er fort, zweierlei.
Erstens, was sie schon wußte und worauf man sie am Abend ihrer Ankunft im
Schloß hingewiesen hatte: die Knie, die sie niemals überschlagen durfte, die
Lippen, die immer halboffen bleiben mußten. Sie glaubte wohl, das sei praktisch
nichts (sie glaubte es tatsächlich), sie werde jedoch das Gegenteil
feststellen, daß die [80] Einhaltung dieser Disziplin ständige angespannte
Aufmerksamkeit erfordere, die sie nicht nur in seiner Gegenwart und vielleicht
in Gegenwart einiger anderer, die ihr Geheimnis kannten, an ihren wahren
Zustand erinnern werde, sondern bei der gewöhnlichsten Beschäftigung und unter
Menschen, die nichts ahnten. Was ihre Kleidung betreffe, so sei es ihre Sache,
sie so zu wählen oder notfalls zu erfinden, daß dieser Entkleidungsakt, den er
in dem Wagen nach Roissy mit ihr hatte vornehmen müssen, in Zukunft nicht mehr
notwendig sei: morgen werde sie in ihren Schränken Musterung halten, unter
ihren Kleidern, in den Schubladen unter ihrer Wäsche, und ihm ausnahmslos alles
abliefern, was sie darin an Strumpfgürteln und Höschen finde; ebenso alle
Büstenhalter, die so gearbeitet waren, wie der, dessen Träger er erst hatte
abschneiden müssen, ehe er ihn ihr ausziehen konnte; Unterkleider, die soweit
heraufreichten, daß sie ihre Brüste bedeckten, Blusen und Kleider, die nicht
vorn zu öffnen waren, alle Röcke, die so eng waren, daß man sie nicht mit einer
einzigen Bewegung hochschlagen konnte. Sie solle sich andere Büstenhalter
machen lassen, andere Blusen, andere Kleider. Dann würde sie ja von jetzt an
mit nackten Brüsten unter ihrer Bluse oder ihrem Pullover zur
Korsettschneiderin gehen. Sollte es jemandem auffallen, so werde sie es nach
Gutdünken erklären oder nicht erklären, ganz wie sie wolle, das gehe nur sie
allein an. Mit den übrigen Anweisungen, die er ihr noch zu erteilen habe, wolle
er noch ein paar Tage warten, und er wünsche, daß sie, wenn sie ihm zuhören
werde, entsprechend gekleidet sei. In der kleinen Schublade ihres
Schreibtisches werde sie soviel Geld finden, wie sie [81] brauche. Als er zu
Ende gesprochen hatte, flüsterte sie "ich liebe dich" ohne die
geringste Bewegung zu machen. Er legte frisches Holz aufs Feuer, zündete die
Nachttischlampe aus rosa Opalin an. Er sagte, O solle sich zu Bett legen und
auf ihn warten, er werde bei ihr schlafen. Als er zurückkam, streckte O die
Hand aus, um die Lampe zu löschen: die linke Hand, und das letzte was sie sah,
eh alles ins Dunkel versank, war der matte Glanz ihres Eisenrings. Sie lag halb
auf der Seite: da rief ihr Geliebter leise ihren Namen, er packte sie am Schoß
und zog sie an sich.
Am nächsten Tag, kurz nachdem O allein in dem grünen Eßzimmer zu Mittag
gegessen hatte - René war zeitig weggegangen und würde erst am Abend
zurückkommen, um sie zum Essen abzuholen - klingelte das Telephon. Der Apparat
stand im Schlafzimmer neben dem Bett, unter der Nachttischlampe. O setzte sich
auf den Boden und nahm den Hörer ab. Es war René, der wissen wollte, ob die
Aufwartefrau schon weg sei. Ja, sie sei gerade gegangen, nachdem sie das Essen
serviert hatte, und werde erst morgen früh wiederkommen. Hast du schon mit dem
Aussortieren deiner Kleider angefangen? sagte René. - Ich wollte gerade
anfangen, habe gebadet und bin erst um Mittag fertig geworden. - Bist du
angekleidet? - Nein, ich habe mein Nachthemd und den Morgenrock an. - Leg den
Hörer weg, zieh den Morgenrock und das Nachthemd aus." O gehorchte, so
eifrig, daß der Hörer vom Bett rutschte, wo sie ihn hingelegt hatte, auf den
weißen Teppich fiel und sie glaubte, die Verbindung sei unterbrochen. Nein, sie
war nicht unterbrochen. "Bist du nackt? hörte sie René wieder. - Ja, sagte
sie, von wo rufst du an?" Er [82] beantwortete ihre Frage nicht, sondern
fuhr fort: "Hast du deinen Ring angelassen?" Sie hatte den Ring
angelassen. Er befahl ihr, so zu bleiben, wie sie war, bis er zurückkommen
werde, und den Koffer mit den Kleidungsstücken zu packen, die sie nicht mehr
tragen sollte. Dann legte er auf. Es war ein Uhr vorbei und das Wetter war
schön. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Nachthemd und den Morgenrock aus Cordsamt,
blaßgrün wie die Schalen frischer Mandeln, beide lagen noch auf dem Teppich,
wie O sie hatte herabgleiten lassen. Sie hob sie auf und trug sie ins
Badezimmer, hängte sie in einen Wandschrank. Als sie an einem Spiegel
vorbeiging, der an einer Tür angebracht war und mit einem Wandspiegel und einer
zweiten, ebenfalls mit Spiegelglas belegten Tür einen dreiteiligen Spiegel
bildete, sah sie plötzlich ihr Bild: sie hatte nichts am Leib als ihre
Lederpantöffelchen, vom gleichen Grün wie ihr Morgenrock, kaum dunkler als die
Pantöffelchen, die sie in Roissy getragen hatte - und ihren Ring. Sie trug
weder Halsband noch Lederarmreifen, und sie war allein, ihr eigener Zuschauer.
Dennoch hatte sie sich noch niemals so völlig einem fremden Willen ausgeliefert,
so völlig als Sklavin gefühlt, und war noch nie so glücklich darüber gewesen.
Als sie sich bückte, um eine Schublade zu öffnen, sah sie ihre Brüste sich
leicht bewegen. Es dauerte beinah zwei Stunden, bis sie alle Kleidungsstücke,
die in den Koffer gepackt werden mußten, auf dem Bett ausgelegt hatte. Bei den
Slips gab es keinen Zweifel, O schichtete sie zu einem Häufchen neben einer der
Sprossen. Die Büstenhalter ebenfalls, es blieb nicht einer übrig: sie waren
alle über dem Rücken gekreuzt und schlossen an der Seite. Aber sie sah schon,
[83] wie sie das gleiche Modell anfertigen lassen könnte, nur mit dem Verschluß
vorn, genau unter der Furche zwischen den Brüsten. Auch die Strumpfgürtel
machten keine Schwierigkeiten, aber sie zögerte, das Taillenmieder aus rosen
Seidenbroché dazuzulegen, das am Rücken geschnürt wurde und dem Korsett, das
sie in Roissy getragen hatte, so ähnlich war. Sie legte es beiseite, auf die
Kommode. René würde entscheiden. Er würde auch wegen der Pullover entscheiden,
die alle über den Kopf gezogen wurden und am Hals eng anlagen, also nicht zu
öffnen waren. Aber man konnte sie von der Taille her hochziehen und so die
Brüste freimachen. Sämtliche Unterkleider dagegen häuften sich auf dem Bett. In
der Kommodenschublade blieb nur ein Halbrock aus schwarzem Faille mit
Plisseesaum und kleinen Valencienne-Spitzen, der unter einen schwarzen, sehr
leichten und fast durchsichtigen Wollrock mit Sonnenplissee gehörte. Sie würde
neue Unterröcke brauchen, hellfarbig und kurz. Sie stellte fest, daß sie
entweder ganz auf enge Kleider verzichten oder Mantelkleider wählen müßte, die
von oben bis unten durchgeknöpft waren, mit einem Futter, das sich zugleich mit
dem Kleid öffnete. Bei den Unterröcken und Kleidern war die Sache einfach, aber
was würde die Wäschenäherin sagen, wenn sie ihre Bestellung aufgeben würde? Sie
würde ihr erklären, daß sie ein loses Futter haben wolle, weil sie leicht
friere. Es stimmte sogar, daß sie leicht fror, und sie fragte sich plötzlich,
wie sie so mangelhaft geschützt im Winter die Kälte im Freien ertragen werde.
Als sie schließlich fertig war und von ihrer Garderobe nur die Hemdkleider
blieben, die alle vorn geknöpft wurden, der schwarze Plisseerock, die [84]
Mäntel natürlich, und das Kostüm, mit dem sie aus Roissy zurückgekommen war,
machte sie Tee. In der Küche stellte sie den Thermostat der Heizung höher; die
Aufwartefrau hatte den Holzkorb für das Feuer im Salon nicht gefüllt und O
wußte, daß ihr Gelieber sie am Abend im Salon am Feuer vorfinden wollte. In
einen großen Sessel gekauert, den Tee neben sich, erwartete sie also seine
Rückkehr, aber dieses Mal wartete sie, wie er es befohlen hatte, nackt.
Auf die erste Schwierigkeit stieß sie in ihrem Beruf. Schwierigkeit ist viel
gesagt. Erstaunen wäre richtiger. O arbeitete in der Modeabteilung einer
Photoagentur. Das heißt, sie machte im Studio, wo sie stundenlang posieren
mußten, Aufnahmen von besonders exotischen und besonders hübschen Mädchen, die
von den Modehäusern zur Vorführung ihrer Modelle ausgesucht wurden. Man
wunderte sich, daß O ihren Urlaub so weit in den Herbst hinein ausgedehnt hatte
und daher ausgerechnet in der Zeit abwesend war, in der die meiste Arbeit
anfiel, kurz vor Erscheinen der neuen Mode. Aber das hätte man noch
hingenommen. Man wunderte sich vor allem, daß sie so verändert war. Auf den
ersten Blick konnte niemand sagen, woran es lag, aber jeder empfand es sofort
und je länger man sie beobachtete, umso mehr war man davon überzeugt. Sie hielt
sich gerader, ihr Blick war klarer geworden, aber das Auffallendste war ihre
Fähigkeit, völlig regungslos zu verharren und die Gehaltenheit aller Gesten.
Sie war schon immer nüchtern gekleidet gewesen, wie alle Mädchen, die einem
Beruf nachgehen, der einem Männerberuf gleicht, aber so geschickt sie sich auch
anstellte, die [85] anderen Mädchen, die das Objekt ihrer Arbeit bildeten und
deren Beruf eben Kleider und Schmuck waren, hatten schnell bemerkt, was anderen
Augen entgangen war. Die Pullover, die auf der bloßen Haut getragen wurden und
so zärtlich die Brüste modellierten, - René hatte schließlich die Pullover
gestattet - die Plisseeröcke, die so schwerelos um sie schwangen, wirkten fast
wie eine dezente Uniform, da O kaum etwas anderes trug. "Junge Mode",
sagte eines Tages mit spöttischer Miene ein blondes, grünäugiges Mannequin zu
ihr, ein Mädchen mit den hohen Backenknochen und dem dunklen Teint der Slawen.
"Aber, fuhr sie fort, Strumpfbänder sollten Sie nicht tragen, Sie werden
sich die Beine verderben." O hatte sich nämlich unvorsichtigerweise in
ihrer Gegenwart ein wenig schnell rittlings auf die Armlehne eines großen
Lederfauteuils gesetzt; dabei war ihr Rock hochgeflogen. Das große Mädchen
hatte das Weiß des nackten Schenkels über dem gerollten Strumpf gesehen, der
das Knie gerade noch bedeckte, aber dann aufhörte. O hatte sie so neugierig
lächeln sehen, daß sie sich fragte, was die andere sich spontan vorgestellt
oder vielleicht erraten habe. Sie zog ihre Strümpfe hoch, erst den einen, dann
den anderen, um sie straffer zu spannen, was schwierig ist, wenn sie nicht bis
zur Mitte der Schenkel reichen, und nicht von einem Strumpfgürtel gehalten
werden, und erwiderte Jacqueline, wie um sich zu rechtfertigen: "Es ist
praktisch. - Praktisch für wen? sagte Jacqueline. - Ich mag keine Strumpfgürtel",
erwiderte O. Aber Jacqueline hörte nicht zu, sie betrachtete den Eisenring.
In den folgenden Tagen machte O etwa fünfzig Aufnahmen von Jacqueline. Sie
waren mit keinem Photo zu [86] vergleichen, das sie bisher gemacht hatte.
Vielleicht hatte sie noch nie ein solches Modell gehabt. Auf jeden Fall hatte
sie noch nie soviel aus einem Gesicht oder einem Körper herausgeholt. Dabei
handelte es sich doch nur darum, die Seiden, die Pelze, die Spitzen noch
schöner wirken zu lassen durch die plötzliche Schönheit einer im Spiegel
überraschten Fee, die Jacqueline in der einfachsten Bluse wie im prächtigsten
Nerz ausstrahlte. Ihr Haar war kurz, dicht und blond, kaum gewellt, auf einen
Wink hin neigte sie den Kopf ein wenig auf ihre linke Schulter und legte die
Wange an den hochgestellten Kragen ihres Pelzes, wenn sie gerade einen Pelz
trug. O überraschte sie einmal in dieser Haltung, lächelnd und zärtlich, das
Haar leicht gebauscht wie von einer sanften Brise, die zarte, feste Wange an
einen Nerz geschmiegt, der blaugrau und weich war, wie die frische Asche eines
Holzfeuers. Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb geschlossen.
Unter der eisigen Glanzschicht des Photos konnte man sie für eine glückliche
Ertrunkene halten, bleich, so bleich. O hatte den Probeabzug in einem leichten
Grauton anfertigen lassen. Sie hatte eine weitere Aufnahme von Jacqueline
gemacht, die sie noch mehr verwirrte: gegen das Licht, mit nackten Schultern,
den feinen, kleinen Kopf und das Gesicht in ein schwarzes, grobmaschiges
Schleierchen gehüllt, darüber einen absurden, doppelten Reiherbusch, dessen
staubfeine Federn die Gestalt wie eine Rauchwolke krönten; sie trug eine
phantastische Robe aus schwerer, broschierter Seide, rot wie das Hochzeitskleid
einer Braut aus dem Mittelalter, es reichte bis zum Boden, war von den Hüften
an weit, in der Taille eng, und das Mieder zeichnete die Brust nach. [87]
Es war das, was die Modeschöpfer als großes Abendkleid bezeichnen und was kein
Mensch jemals trägt. Die sehr hochhackigen Sandaletten waren ebenfalls aus
roter Seide. Und die ganze Zeit, während Jacqueline so vor O stand, in diesem
Kleid und diesen Sandaletten und diesem Schleier, der wie die Andeutung einer
Gesichtsmaske war, vervollständigte, veränderte O in Gedanken das Modell: es
fehlte nur ein wenig - die Taille enger geschnürt, die Brüste weiter sichtbar -
und es war das gleiche Kleid wie in Roissy, das gleiche Kleid, das Jeanne
getragen hatte, die gleiche schwere, glatte, spröde Seide, die man mit beiden
Händen rafft, wenn es heißt ... Und wirklich, Jacqueline raffte das Kleid mit
beiden Händen, um von dem Podium herunterzusteigen, auf dem sie eine
Viertelstunde lang posiert hatte. Das gleiche Knistern, das gleiche Rascheln
wie welkes Laub. Kein Mensch trägt Galaroben? Oh doch. Auch Jacqueline trug ein
enganliegendes Goldkollier um den Hals, zwei goldene Armbänder um die Gelenke.
O ertappte sich bei dem Gedanken, daß sie noch schöner sein würde mit dem
Lederhalsband, mit ledernen Armspangen. Und dieses Mal tat sie etwas, was sie
noch nie getan hatte: sie folgte Jacqueline in die große Garderobe neben dem
Studio, wo die Mannequins sich ankleideten und schminkten und ihre Kleider und
Schminkutensilien zurückließen, wenn sie nachhause gingen. Sie blieb an die
Türfüllung gelehnt stehen, den Blick auf den Frisierspiegel gerichtet, vor dem
Jacqueline noch immer in ihrer Robe saß. Der Spiegel war so groß - er bedeckte
die ganze Wand und der Frisiertisch war nur eine einfache, schwarze Glasplatte
- daß sie zugleich Jacqueline und ihr eigenes Spiegelbild sah und das
Spiegelbild der [88] Garderobiere, die den Reiherschmuck und das Tüllnetz
abnahm. Jacqueline löste selbst das Halsband, ihre nackten Arme waren erhoben
wie zwei Henkel; ein Schweißfilm glänzte in ihren Achselhöhlen, die epiliert
waren (warum? sagte O sich, wie schade, sie ist so blond) und O nahm den herben
und zarten, ein wenig pflanzenhaften Geruch wahr und fragte sich, welches
Parfüm Jacqueline wohl trage - welches Parfüm man Jacqueline tragen lassen
sollte. Dann nahm Jacqueline ihre Armreifen ab, legte sie auf die Glasplatte,
wo sie eine Sekunde lang klirrten, wie Ketten. Ihr Haar war so hell, daß die
Haut, getönt wie der feine Sand an einem Strand, von dem die Flut sich gerade
zurückgezogen hat, dagegen dunkler wirkte. Auf dem Photo würde die rote Seide
schwarz sein. Genau in diesem Augenblick hoben sich die dichten Wimpern, die
Jacqueline nur ungern tuschte, und O begegnete im Spiegel einem so direkten, so
unverwandten Blick, daß sie nicht fähig war, die Augen abzuwenden und spürte,
wie sie langsam errötete. Das war alles. "Entschuldigen Sie", sagte
Jacqueline, "ich muß mich umziehen." "Verzeihung", murmelte
O und schloß die Tür hinter sich. Am nächsten Tag nahm sie die Probeabzüge der
Aufnahmen, die sie gemacht hatte, mit nach Hause, sie wußte selbst nicht, ob
sie die Bilder ihrem Geliebten, mit dem sie auswärts essen sollte, zeigen
wollte oder nicht. Während sie sich vor der Frisiertoilette ihres Schlafzimmers
schminkte, betrachtete sie die Aufnahmen und unterbrach sich, um mit dem Finger
die Linie einer Braue, die Spur eines Lächelns nachzuziehen. Aber als sie den
Schlüssel in der Tür hörte, ließ sie die Bilder in die Schublade gleiten. [89]
O hatte seit zwei Wochen eine vollständig neue Garderobe und hatte sich noch
immer nicht daran gewöhnt, als sie eines Abends bei ihrer Heimkehr aus dem
Studio eine Nachricht ihres Geliebten vorfand, der sie bat, um acht Uhr bereit
zu sein, weil sie mit ihm und einem seiner Freunde essen solle. Ein Wagen werde
sie abholen, der Chauffeur werde in die Wohnung kommen. Ein Zusatz bestimmte,
sie solle ihre Pelzjacke mitnehmen, sich ganz in Schwarz kleiden (ganz war
unterstrichen) und darauf achten, daß sie genauso geschminkt und parfümiert sei
wie in Roissy. Es war sechs Uhr, ganz in Schwarz und zum Abendessen - und es
war Mitte Dezember, es war kalt - das bedeutet schwarze Seidenstrümpfe,
schwarze Handschuhe, und zu ihrem fächerförmig plissierten Rock entweder einen
dicken Pullover mit Paillettenstickerei oder ihre Failleweste. Sie wählte die
Failleweste. Sie war wattiert und mit großen Stichen abgesteppt, vom Hals bis
zur Taille anliegend und mit Agraffen geschlossen, wie die Wämser der Männer im
sechzehnten Jahrhundert, und die Brust war durch einen eingearbeiteten
Büstenhalter deutlich abgezeichnet. Das Futter war aus dem gleichen Faille, und
die kurzen Schöße endeten an der Hüfte. Der einzige Putz waren die großen,
vergoldeten Agraffen, so auffallend wie die Schnallen an den Schneestiefeln der
Kinder, die sich klickend über breiten, flachen Ösen öffnen und schließen. O
legte ihre Kleider zurecht, stellte die schwarzen Wildlederpumps mit der
überhöhten Sohle und den Bleistiftabsätzen vor das Bett, und kam sich dann
höchst wunderlich vor, als sie sich nach dem Bad, frei und allein in ihrem
Badezimmer, sorgfältig schminkte und parfümierte, genau wie in Roissy. [90]
Gewöhnlich benutzte sie andere Schminken. In der Schublade ihres Frisiertisches
fand sie fetthaltiges Wangenrot - sie legte nie Rouge auf - mit dem sie den Hof
ihrer Brüste tönte. Es war ein Rouge, das man kaum sah, wenn es aufgetragen
wurde, das jedoch später nachdunkelte. Sie glaubte zuerst, sie habe zuviel
genommen, wischte es mit Alkohol wieder ab - es ließ sich sehr schwer abwischen
- und begann von neuem: die Spitzen ihrer Brüste erblühten in tiefem Rosenrot.
Vergebens versuchte sie, damit die Lippen zu schminken, die das Vlies ihres
Schoßes verbarg, es haftete nicht. Schließlich fand sie unter den
Lippenstiften, die sie in der gleichen Schublade verwahrte, einen dieser
kußechten Stifte, die sie nicht gern benutzte, weil sie zu trocken waren und zu
sehr hafteten. Für diesen Zweck war er geeignet. Sie richtete ihr Haar, ihr
Gesicht, danach parfümierte sie sich. René hatte ihr in einem Zerstäuber, der
einen dichten Nebel versprühte, ein Parfüm geschenkt, dessen Namen sie nicht
kannte. Es roch nach trockenem Holz und Sumpfpflanzen, herb und ein bißchen
wild. Der Nebel schmolz und rieselte auf ihre Haut, auf dem Flaum ihrer
Achselhöhlen und ihres Schoßes, haftete in winzigen Tröpfchen. O hatte in
Roissy Geduld gelernt: sie parfümierte sich dreimal, ließ jedesmal das Parfüm
auf der Haut trocknen. Sie zog zuerst ihre Strümpfe und die hochhackigen Schuhe
an, dann Unterrock und Rock, dann die Weste. Sie streifte die Handschuhe über,
nahm ihre Tasche. In der Tasche waren ihre Puderdose, das Rouge, ein Kamm, der
Schlüssel, und zehn Francs. Schon behandschuht nahm sie den Pelz aus dem
Schrank und schaute auf die Uhr neben dem Bett: es war ein Viertel vor acht
Uhr. Sie [91] setzte sich schräg auf die Bettkante und wartete, die Augen auf
den Wecker gerichtet, regungslos auf das Anschlagen der Glocke. Als sie es
endlich hörte und aufstand, begegnete sie im Spiegel des Frisiertisches, eh sie
die Lampe löschte, ihrem Blick: er war furchtlos, sanft und gefügig.
Als sie die Tür des kleinen italienischen Restaurants aufstieß, vor dem der
Wagen sie abgesetzt hatte, sah sie sogleich René an der Bar sitzen. Er lächelte
ihr zärtlich zu, faßte ihre Hand, dann drehte er sich zu einem sportlichen,
grauhaarigen Mann um und stellte ihr, in englischer Sprache, Sir Stephen H.
vor. O wurde ein Hocker zwischen den beiden Männern angeboten und als sie sich
setzen wollte, flüsterte René ihr zu, sie solle achtgeben, daß sie ihr Kleid
nicht verknittere. Er half ihr, den Rock über den Hocker gleiten zu lassen und
sie spürte das kalte Leder unter ihrer Haut und den metallgefaßten Rand direkt
in der Höhlung ihrer Schenkel, weil sie sich zuerst nur halb hinzusetzen wagte,
aus Furcht, sie könne sonst der Versuchung erliegen, die Beine zu kreuzen. Ihr
Rock war um sie ausgebreitet. Ihr rechter Absatz war in eine Quersprosse des
Hockers gehakt, die Spitze ihres linken Fußes berührte den Boden. Der
Engländer, der sich wortlos vor ihr verbeugt hatte, ließ die Augen nicht mehr
von ihr; sie sah, daß er ihre Knie musterte, ihre Hände und schließlich ihre
Lippen - aber so ruhig und mit so genauer und gelassener Aufmerksamkeit, daß O
sich abgeschätzt vorkam, begutachtet auf ihre Eignung als das Instrument, das
sie, wie sie sehr wohl wußte, auch war, und wie von diesem Blick dazu
gezwungen, sozusagen wider Willen, zog sie ihre Handschuhe aus: sie wußte, daß
er sprechen [92] würde, sobald ihre Hände nackt wären - weil ihre Hände
eigenartig geformt waren, eher wie die Hände eines Knaben, nicht wie die einer
Frau, und weil sie am linken Ringfinger den Eisenreif mit der dreiarmigen
Goldspirale trug. Aber nein, er sagte nichts, er lächelte: er hatte den Ring
gesehen. René trank einen Martini, Sir Stephen Whisky. Er trank langsam sein
Glas aus, wartete, bis René mit seinem zweiten Martini fertig war und O mit dem
Grapefruitsaft, den René für sie bestellt hatte, und erklärte dann, wenn O ihm
die Freude machen wolle, sich René und ihm anzuschließen, so könnten alle drei
zu Abend essen im Restaurant im Souterrain, das kleiner und ruhiger sei, als
der Saal, der sich im Erdgeschoß an die Bar anschloß. "Natürlich",
sagte O, die bereits Tasche und Handtasche von der Theke nahm, wo sie beides
abgelegt hatte. Sir Stephen half ihr vom Hocker, er hielt ihr seine rechte Hand
hin, in die sie die ihre legte, und jetzt richtete er zum ersten Mal direkt das
Wort an sie und bemerkte, ihre Hände müßten dafür geschaffen sein, Eisen zu
tragen, so gut stehe ihr das Eisen. Aber da er es in Englisch sagte, erhielten
die Worte einen leichten Doppelsinn und es war nicht ganz klar, ob er nur das
Metall oder auch, und vor allem, Ketten meinte.
Im Restaurant im Souterrain, das ein gewöhnlicher Keller mit gekalkten Wänden
war, aber frisch und freundlich, standen wirklich nur vier Tische. Nur an einem
davon saßen Gäste, die mit ihrer Mahlzeit schon fast zu Ende waren. An die
Wände war in Freskomanier eine gastronomische und bebilderte Karte Italiens
gemalt, die Farben glichen den Farben von Eissorten, Vanille, Himbeer,
Pistazien; O dachte daran, daß sie sich [93] zum Nachtisch Eis bestellen
wollte, mit zerstoßenen gebrannten Mandeln und crème fraîche. Denn sie fühlte
sich glücklich und leicht, Renés Knie berührte unter dem Tisch ihr Knie, und
wenn er sprach, so wußte sie, daß er für sie sprach. Auch er betrachtete ihre
Lippen. Sie bekam ihr Eis, aber keinen Kaffee. Sir Stephen lud O und René zum
Mokka zu sich ein. Sie hatten alle drei sehr leicht gegessen und O hatte
bemerkt, daß die beiden Männer absichtlich wenig tranken und ihr selbst noch
weniger zu trinken gaben: eine Flasche Chianti für drei Personen. Auch hatten
sie schnell gegessen: es war kaum neun Uhr. "Ich habe den Chauffeur
weggeschickt, sagte Sir Stephen, würden Sie bitte chauffieren, René. Es ist am
einfachsten, wenn wir direkt zu mir fahren." René setzte sich ans Steuer,
O neben ihn, Sir Stephen neben O. Der Wagen war ein riesiger Buick, sie hatten
auf dem Vordersitz bequem zu dritt Platz.
Es ging über die Alma-Brücke, den Cours de la Reine, der hell war, weil die
Bäume kein Laub trugen, den Place de la Concorde, flimmernd und trocken unter
dem düsteren Winterhimmel, der voll Schnee hing. O hörte ein leises Klicken und
spürte die warme Luft an ihren Beinen entlangstreichen: Sir Stephen hatte die
Heizung eingeschaltet. René folgte noch immer der Seine auf dem rechten Ufer,
bog dann zum Pont Royal ein, um aufs linke Ufer zu kommen: zwischen den
steinernen Zwingen wirkte das Wasser unbeweglich, selbst wie Stein, und ganz
schwarz. O dachte an schwarze Hämatiten. Als sie fünfzehn Jahre alt war, trug
ihre beste Freundin, die dreißig und in O verliebt war, einen Ring mit einem
brillantengefaßten Hämatiten. O hatte sich ein Kollier aus diesen schwarzen
[94] Steinen und ohne Brillanten gewünscht, ein Kollier, das eng am Hals anlag,
den Hals einschnürte. Aber hätte sie die Halsbänder, die man ihr jetzt schenkte
- nein, man schenkte sie ihr nicht - eingetauscht für das Kollier aus
Hämatiten, für die Hämatiten ihrer Träume? Sie sah das schäbige Zimmer wieder,
hinter dem Carrefour Turbigo, wohin Marion sie geführt hatte, und wie sie
selbst, nicht Marion, ihre beiden dicken Schulmädchenzöpfe löste, als Marion
sie entkleidet und auf das Eisenbett gelegt hatte. Sie war schön, Marion, wenn
man sie streichelte und es stimmt, daß Augen zu Sternen werden können; die
ihren wurden zu blauen, zuckenden Sternen. René stoppte den Wagen. O kannte die
kleine Straße nicht, es war eine der Verbindungsstraßen zwischen der Rue de
l'Université und der Rue de Lille.
Sir Stephens Wohnung lag in einem Vorhof, im Flügel eines ehemaligen Palais,
und die Zimmer waren in einer Flucht angelegt. Das Zimmer am Ende war auch das
größte und gemütlichste, es war im englischen Stil eingerichtet, dunkle
Mahagonimöbel und blasse Seiden, gelb und grau. "Sie brauchen sich nicht
um das Feuer zu kümmern, sagte Sir Stephen zu O, aber dieses Sofa ist für Sie.
Nehmen Sie bitte Platz, René wird den Kaffee machen, ich möchte Sie nur bitten,
mir zuzuhören." Das große damastbezogene Sofa stand rechtwinklig zum
Kamin, mit der Vorderseite zu den Fenstern, die auf einen Garten blickten, mit
dem Rücken zu den Fenstern, die auf der anderen Seite des Zimmers zum Hof
gingen. O zog ihren Pelz aus und legte ihn auf die Rückenlehne des Sofas. Als
sie sich umdrehte, sah sie ihren Geliebten und ihren Gastgeber im Stehen
warten, daß sie Sir Stephens Aufforderung Folge leiste. Sie legte ihre [95]
Tasche zu dem Pelz, zog die Handschuhe aus. Wann würde sie endlich lernen,
falls sie es überhaupt jemals lernen würde, beim Hinsetzen ihre Röcke mit einer
so beiläufigen Geste zu raffen, daß es niemandem auffiele und daß sie selbst
nicht an ihr Nacktsein, an ihr Ausgeliefertsein denken müßte? Jedenfalls nicht,
solange René und dieser Fremde sie schweigend anstarrten, wie sie es jetzt
taten. Schließlich fügte sie sich. Sir Stephen schürte das Feuer. René trat
plötzlich hinter das Sofa, packte O beim Hals und am Haar, zog ihren Kopf auf
die Lehne zurück und küßte sie nun auf den Mund, so lange und so tief, daß sie
fast erstickte und fühlte, wie ihr Schoß brannte und schmolz. Er ließ nur los,
um ihr zu sagen, daß er sie liebe und sie sogleich wieder zu packen. Os Hände
ruhten, lose nach hinten hängend, kraftlos, die Innenflächen nach oben, auf dem
schwarzen Rock, der sich wie eine Blütenkrone um sie breitete; Sir Stephen war
nähergekommen, und als René sie endlich losließ und sie die Augen wieder
öffnete, begegnete sie dem grauen und steten Blick des Engländers. So verwirrt
sie auch war, noch keuchend vor Glück, sah sie doch, daß er sie bewunderte, daß
er sie begehrte. Wer hätte diesem feuchten und halbgeöffneten Mund widerstehen
können, diesen geschwellten Lippen, diesem weißen Hals, der auf den schwarzen
Kragen ihrer Pagenweste zurückgebogen war, diesen groß und klar gewordenen
Augen, die sich nicht abwandten? Doch Sir Stephen erlaubte sich nur eine
einzige Geste: er strich zart mit dem Finger über ihre Brauen, dann über ihre
Lippen. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf die andere Seite des Kamins, und
als auch René sich einen Sessel genommen hatte, sprach er. "Ich glaube,
sagte er, René [96] hat Ihnen nie von seiner Familie erzählt. Aber vielleicht
wissen Sie, daß seine Mutter vor ihrer Ehe mit seinem Vater mit einem Engländer
verheiratet war, der selbst einen Sohn aus erster Ehe hatte. Ich bin dieser
Sohn, und sie hat mich erzogen, bis zu dem Tag, als sie meinen Vater verließ.
Ich bin mit René also nicht verwandt, und doch sind wir in gewissem Sinne
Brüder. Daß René Sie liebt, weiß ich. Ich hätte es gesehen, auch wenn er es mir
nicht gesagt hätte, auch wenn er nicht die geringste Geste gemacht hätte: man
braucht nur zu sehen, wie er Sie anschaut. Ich weiß auch, daß Sie in Roissy
waren und ich vermute, daß Sie dorthin zurückkehren werden. Grundsätzlich gibt
der Ring, den Sie tragen, mir, wie allen, die dieses Zeichen kennen, das Recht,
über Sie zu verfügen. Aber es würde sich für Sie immer nur um eine
vorübergehende Bindung handeln. Was wir von Ihnen erwarten, ist
schwerwiegender. Ich sage wir, weil Sie sehen, daß René schweigt: er will, daß
ich auch in seinem Namen zu Ihnen spreche. Wenn wir Brüder sind, so bin ich der
ältere, ich bin zehn Jahre älter als er. Es besteht zudem zwischen uns eine so
althergebrachte und so absolute Gemeinschaft, daß alles, was mir gehört, stets
auch ihm gehört hat und alles, was ihm gehört, auch mir. Sind Sie
einverstanden, ebenfalls dazuzugehören? Ich bitte Sie darum, und ich möchte
Ihre Einwilligung haben, weil sie Sie fester bindet, als Ihr Gehorsam, von dem
ich weiß, daß er außer Frage steht. Eh Sie antworten, bedenken Sie, daß ich
nichts anderes bin und nichts anderes sein kann, als das zweite Ich Ihres
Geliebten: Sie werden auch in Zukunft nur einen Gebieter haben. Schrecklicher
allerdings, als die Männer, denen sie in Roissy ausgeliefert waren, denn ich
[97] werde alle Tage da sein, und außerdem liebe ich feste Gewohnheiten und
Riten "and besides, I am fond of ha-bits and rites ..."
Sir Stephens gelassene Stimme klang in eine absolute Stille. Selbst die Flammen
im Kamin brannten lautlos. O war auf das Sofa gespießt wie ein Schmetterling an
einer Nadel, einer langen Nadel aus Worten und Blicken, die sie in der Mitte
des Körpers durchbohrte und ihre nackten und bereiten Lenden an die laue Seide
preßte. Sie wußte nicht, wo ihre Brüste waren, ihr Nacken, ihre Hände. Sie
zweifelte jedoch nicht, daß die Gewohnheiten und Riten der Besitzergreifung,
von denen man ihr gesprochen hatte, unter anderen Teilen ihres Körpers auch
ihre langen, unter dem schwarzen Rock verborgenen und bereits halb geöffneten
Schenkel zum Ziel haben würden. Die beiden Männer waren ihr zugewandt. René
rauchte, hatte jedoch neben sich eine rauchverzehrende, schwarzbeschirmte Lampe
angezündet, und die bereits durch das Holzfeuer gereinigte Luft roch nach der
Frische der Nacht. "Werden Sie mir antworten oder wollen Sie erst noch
mehr wissen?" fragte Sir Stephen. - Wenn du einwilligst, sagte René,
erkläre ich dir Sir Stephens Neigungen. - "Forderungen", korrigierte
Sir Stephen. Das Schwerste, sagte sich O, war nicht, einzuwilligen, und sie
wußte, daß keinem der beiden, so wenig wie ihr selbst, auch nur eine Sekunde
der Gedanke kam, sie könne sich weigern. Das Schwerste war, überhaupt zu
sprechen. Ihre Lippen brannten und ihr Mund war trocken, ohne Speichel, ein
Gefühl aus Furcht und Verlangen schnürte ihr die Kehle zu und ihre Hände, die
sie jetzt wieder spürte, waren kalt und feucht. Hätte sie wenigstens die Augen
schließen [98] dürfen! Aber nein. Zwei Blicke, denen sie sich nicht entziehen
konnte - gar nicht entziehen wollte - hielten den ihren fest. Sie führten O
wieder hin zu dem, was sie glaubte, für lange Zeit, vielleicht für immer in
Roissy gelassen zu haben. Denn seit ihrer Rückkehr hatte René sich auf die
bloße Berührung ihres Körpers beschränkt und niemand hatte von dem Recht
Gebrauch gemacht, das ihr Ring, Symbol der Hörigkeit, jedem einräumte, der sein
Geheimnis kannte. Entweder war sie mit niemandem zusammengekommen, der es
gekannt hatte oder die betreffenden hatten geschwiegen - als einzigen Menschen
verdächtigte sie Jacqueline (aber wenn Jacqueline in Roissy gewesen war, warum
trug dann nicht auch sie den Ring? Zudem, würde Jacqueline als Eingeweihte
irgendein Recht über O haben, das O nicht auch über Jacqueline hätte?). Würde
Sie sprechen können, wenn sie sich bewegte? Aber sie konnte sich nicht aus
eigenem Antrieb bewegen - ein Befehl hätte sie sofort auf die Beine gebracht,
doch diesmal sollte sie nicht einem Befehl gehorchen, sie sollte allen Befehlen
zuvorkommen, sich selbst zur Sklavin machen, sich sklavisch ausliefern. Das
nannten sie ihr Einverständnis. Sie erinnerte sich, zu René nie etwas anderes
gesagt zu haben als "ich liebe dich" und "ich gehöre dir".
Anscheinend sollte sie heute sprechen, sollte in allen Einzelheiten und
ausdrücklich akzeptieren, was sie bisher einzig durch ihr Schweigen akzeptiert
hatte. Endlich richtete sie sich auf, öffnete die obersten Schließen ihrer
Tunika bis zum Ansatz der Brüste, als ob das, was sie zu sagen hatte, sie
erstickte. Dann stand sie ganz auf. Ihre Knie und Hände zitterten. "Ich
gehöre dir, sagte sie schließlich zu René, ich werde sein, was du willst, das
[99] ich sein soll. - Nein, sagte er: uns; sprich mir nach: ich gehöre euch,
ich werde sein, was ihr wollt, daß ich sein soll." Sir Stephens harte
graue Augen ließen sie nicht los, sowenig wie Renés Augen, in denen sie sich
verlor, während sie langsam die Sätze nachsprach, die er ihr vorsagte, und
dabei das ganze, wie bei einer Grammatikübung, in die erste Person übertrug.
"Du erkennst mir und Sir Stephen das Recht zu ..." sagte René und O
wiederholte so klar sie konnte: "Ich erkenne dir und Sir Stephen das Recht
zu ..." Das Recht, über ihren Körper zu verfügen, wo immer und wie immer
sie wollten, das Recht, sie wie eine Sklavin auszupeitschen für das geringste
Vergehen oder zu ihrem Vergnügen, das Recht, Flehen und Schreie, falls man sie
zum Schreien brächte, nicht zu beachten. "Sir Stephen wünscht, sagte René,
daß ich dich ihm übereigne, daß du selbst dich ihm übereignest und daß ich dir
seine Forderungen im einzelnen darlege." O hörte ihrem Geliebten zu und
die Worte, die er zu ihr in Roissy gesprochen hatte, kamen ihr wieder ins
Gedächtnis: es waren fast die gleichen gewesen. Aber als sie damals diesen
Worten gelauscht hatte, war sie an ihn gepreßt gewesen, geschützt von einer
Unwahrscheinlichkeit, die an Traum grenzte, von dem Gefühl, daß sie in einer
anderen Existenz lebte, daß sie vielleicht überhaupt nicht lebte. Traum oder
Alptraum, Kerkerszenerie, Galagewänder, maskierte Personen, alles distanzierte
sie von ihrem eigenen Leben, sogar die Zeit war aufgehoben. Sie fühlte sich
dort, wie man sich in der Nacht fühlt, mitten in einem Traum, den man
wiedererkennt und der immer wiederkehrt: überzeugt, daß er existiert und
überzeugt, daß er enden wird, und man sehnt dieses Ende herbei aus Furcht, ihn
[100] nicht länger ertragen zu können und wünscht zugleich, daß er weitergehe,
um die Lösung zu erfahren. Nun war die Lösung erfolgt, die sie nicht mehr
erwartet hatte in einer Form, die sie am wenigstens erwartet hätte
(vorausgesetzt, so sagte sie sich jetzt, daß dies wirklich die Lösung war, daß
sich nicht eine andere dahinter verbarg und vielleicht eine dritte hinter
dieser nächsten). Diese Lösung bedeutete, daß sie aus der Erinnerung in die
Gegenwart stürzte, bedeutete auch, daß alles das, was nur in einem
geschlossenen Kreis, in einem geschlossenen Universum Wirklichkeit besessen
hatte, nun plötzlich auf alle Zufälle und Gewohnheiten ihres täglichen Lebens
übergreifen würde, sich an ihr und in ihr nicht mehr mit Symbolen begnügen -
die nackten Lenden, die Mieder zum Aufhaken, den Eisenring - sondern Erfüllung
fordern würde. Sicher, René hatte sie nie geschlagen und der Unterschied
zwischen der Zeit vor Roissy und der Zeit nach ihrer Rückkehr hatte nur darin
bestanden, daß er jetzt nicht wie vorher nur in ihren Schoß, sondern auch in
ihren Mund eindrang. Sie hatte in Roissy nie erfahren, ob die Peitschenhiebe,
die sie so regelmäßig erhielt, auch nur ein einziges Mal von ihm verabreicht
worden waren (als sie sich die Frage stellen konnte, als sie selbst und alle
Beteiligten maskiert gewesen waren), aber sie glaubte es nicht. Sicher war sein
Genuß beim Anblick ihres gefesselten und ausgelieferten Körpers, der sich
vergeblich wand, bei ihren Schreien, so stark, daß er den Gedanken nicht
ertrug, sich durch eine aktive Teilnahme von diesem Genuß ablenken zu lassen.
Ja, er bestätigte es jetzt, als er, ohne sich aus dem tiefen Sessel zu rühren,
in dem er mit gekreuzten Beinen mehr lag als saß, ihr so sanft, so [101]
zärtlich sagte, wie sehr es ihn beglücke, sie Sir Stephens Wünschen und
Befehlen auszuliefern, daß sie selbst sich ihnen ausliefere. Sollte Sir Stephen
wünschen, daß sie die Nacht bei ihm verbringe oder auch nur eine Stunde, daß
sie ihn außerhalb von Paris begleite oder in Paris mit ihm ein Restaurant oder
Theater besuche, dann werde er sie anrufen oder ihr seinen Wagen schicken -
sofern René nicht selbst sie abholen käme. Heute, jetzt, sei es an ihr zu
sprechen. War sie einverstanden? Aber sie konnte nicht sprechen. Dieser Wille,
den sie plötzlich äußern sollte, war der Wille zur Selbstaufgabe, das Ja zu
allem, wozu sie zwar ja sagen wollte, wozu ihr Körper jedoch nein sagte,
zumindest was die Peitsche anging. Denn was das übrige anging, so wollte sie
ehrlich gegen sich selbst sein: das Verlangen, das sie in Sir Stephens Augen
las, verwirrte sie in einem Maß, daß keine Selbsttäuschung zuließ und obgleich
sie zitterte, vielleicht gerade weil sie zitterte, wußte sie, daß sie die
Berührung seiner Hände oder seiner Lippen mit größerer Ungeduld erwartete, als
er. Zweifellos lag es an ihr, diese Erwartung zu verkürzen. So sehr sie es sich
wünschte und allen Mut zusammenahm, verließen sie doch die Kräfte. Als sie
endlich antworten wollte, sank sie zu Boden und ihr weiter Rock entfaltete sich
rings um sie. Sir Stephen bemerkte mit gepreßter Stimme, daß auch die Furcht
ihr gut stehe. Er wandte sich nicht an sie, sondern an René. O hatte den
Eindruck, daß er auf sie zugehen wollte, sich aber mit Gewalt zurückhielt. Sie
sah ihn jedoch nicht an, ließ René nicht aus den Augen aus Furcht, er könnte in
den ihren lesen, was er vielleicht als Verrat betrachte. Dabei war es kein
Verrat, denn vor die Wahl gestellt zwischen dem Begehren, [102] Sir Stephen zu
gehören und ihrer Zugehörigkeit zu René hätte sie keinen Augenblick gezögert.
Sie hatte sich diesem Begehren nur überlassen, weil René es ihr erlaubt, bis zu
einem gewissen Grad sogar zu verstehen gegeben hatte, daß er es von ihr
fordere. Dennoch zweifelte sie, ob ein allzu schneller und allzu gefügiger
Gehorsam ihn nicht doch kränken würde. Das geringste Zeichen von ihm hätte
diesen Zweifel getilgt. Aber es gab kein Zeichen, er beschränkte sich darauf,
zum dritten Mal eine Antwort von ihr zu fordern. Sie stammelte: "Ich füge
mich allem, was ihr wollt." Senkte den Blick auf ihre Hände, die in ihren
Kniekehlen ruhten, gestand dann flüsternd: "Ich möchte wissen, ob ich
gepeitscht werde ..." In dem langen Schweigen, das darauf folgte, konnte
sie ihre Frage zwanzigmal bereuen. Schließlich sagte Sir Stephens Stimme
langsam: "Manchmal." O hörte dann, wie ein Streichholz angerissen und
Gläser aneinandergestoßen wurden: sicher goß einer der beiden Männer sich
Whisky nach. René kam O nicht zu Hilfe. René schwieg. "Selbst wenn ich
jetzt einwillige, murmelte sie, selbst wenn ich es jetzt verspreche, ich könnte
es nicht ertragen. - Sie sollen es nur hinnehmen und sich damit abfinden, daß
Ihre Schreie und Klagen vergeblich sein werden", fuhr Sir Stephen fort. -
"Oh, bitte, sagte O, jetzt noch nicht", denn Sir Stephen stand auf.
Auch René stand auf, neigte sich zu ihr, nahm sie an den Schultern.
"Antworte, sagte er, bist du einverstanden?" Endlich sagte sie ja. Er
zog sie sanft in die Höhe, setzte sich auf das Sofa und ließ sie neben sich
knien; vor das Sofa, auf das sie Oberkörper und Kopf legte, mit gebreiteten
Armen und geschlossenen Augen. Ein Bild kam ihr in den Sinn, das [103] sie vor
einigen Jahren gesehen hatte, ein Kupferstich, der eine Frau zeigte, die vor
einem Stuhl kniete, in einem gekachelten Zimmer, wo ein Kind und ein Hund in
einer Ecke spielten; sie hatte die Röcke geschürzt und neben ihr stand ein
Mann, der ein Bündel Ruten schwang. Alle Personen waren nach der Mode des
ausgehenden 17. Jahrhunderts gekleidet und der Stich trug einen Titel, der ihr
abstoßend erschienen war: die häusliche Züchtigung. René preßte ihr mit einer
Hand beide Armgelenke zusammen, während er mit der anderen ihren Rock hob, so
hoch, daß sie spürte, wie die plissierte Gaze über ihre Wangen streifte. Er
strich ihr über die Lenden und machte Sir Stephen auf die beiden Grübchen
aufmerksam und auf die zarte Kerbe zwischen ihren Schenkeln. Dann preßte er ihr
die gleiche Hand in Taillenhöhe in den Rücken, um die Lenden besser
hervortreten zu lassen und befahl ihr, die Knie weiter zu öffnen. Sie gehorchte
stumm. Die Art, wie René ihren Körper anpries, die Antworten Sir Stephens, die
Brutalität der Ausdrücke, die beide Männer gebrauchten, lösten in ihr ein so
heftiges und unerwartetes Gefühl der Scham aus, daß der Wunsch, Sir Stephen zu
gehören, erlosch und sie die Peitsche ersehnte wie eine Erlösung, den Schmerz
und die Schreie wie eine Rechtfertigung. Aber Sir Stephens Hände öffneten ihren
Leib, zwängten sich zwischen ihre Lenden, ließen ab, packten wieder zu, immer
wieder, bis sie stöhnte, beschämt über ihr Stöhnen und vernichtet. "Ich
überlasse dich Sir Stephen, sagte René, bleib, wie du bist, er wird dich
wegschicken, wann es ihm paßt." Wie oft war sie in Roissy auf den Knien
gelegen, jedem ausgeliefert; aber damals hatten immer Armreife ihre Hände [104]
gefesselt, glückliche Gefangene, die man zu allem zwang, die man um nichts bat.
Hier dagegen war sie aus freiem Willen halbnackt, wo doch eine einzige
Bewegung, die gleiche, die zum Aufstehen genügt hätte, auch genügt hätte, sie
zu bedecken. Ihr Versprechen band sie genauso, wie die Lederfesseln und Ketten.
War es nur ihr Versprechen? War es nicht, bei aller Demütigung oder gerade
wegen dieser Demütigung, auch ein süßes Gefühl, nur zu gelten, weil sie sich
erniedrigte, sich willig beugte, sich willig öffnete? René war, von Sir Stephen
zur Tür begleitet, weggegangen; sie wartete also allein und reglos, fühlte sich
in ihrer Einsamkeit noch ausgesetzter und in der Erwartung noch dirnenhafter,
als im Beisein der Männer. Die grau-gelbe Seide des Sofas war glatt unter ihrer
Wange, durch das Nylon ihrer Strümpfe spürte sie den hochflorigen Teppich und
an ihrem linken Schenkel die Wärme des Kaminfeuers, auf das Sir Stephen noch
drei Scheite gelegt hatte, die prasselnd flammten. Eine alte Wanduhr über einer
Kommode tickte so leis, daß man sie nur hören konnte, wenn alles still war. O
lauschte ihr aufmerksam und dachte dabei, wie absurd es sei, in diesem
kultivierten und diskreten Salon in ihrer jetzigen Stellung zu verharren. Durch
die geschlossenen Vorhänge hörte man das schläfrige Brummen des
mitternächtlichen Paris. Würde sie morgen bei Tag den Platz wiedererkennen, wo
ihr Kopf auf dem Sofakissen gelegen war? Würde sie jemals am hellen Tag wieder
in diesen Salon kommen und in der gleichen Weise behandelt werden? Sir Stephen
blieb lange aus und O, die sich mit solcher Gelassenheit für die Lust der
Unbekannten von Roissy bereitgehalten hatte, wurde bei dem Gedanken, daß er in
[105] einer Minute, in zehn Minuten die Hände auf sie legen würde, die Kehle
eng. Aber es kam nicht ganz so, wie sie erwartet hatte. Sie hörte, wie Sir
Stephen die Tür wieder öffnete, durchs Zimmer ging. Er blieb einige Zeit mit
dem Rücken zum Feuer stehen, sah O an und befahl ihr dann mit sehr leiser
Stimme, aufzustehen und sich wieder zu setzen. Überrascht und fast betreten
gehorchte sie. Er brachte ihr höflich ein Glas Whisky und eine Zigarette, die
sie ebenfalls ablehnte. Sie sah jetzt, daß er einen Morgenrock trug, einen sehr
streng geschnittenen Mantel aus grauem Wollstoff, vom gleichen Grau wie sein
Haar. Seine Hände waren lang und knochig, die Nägel flach, kurz geschnitten,
sehr weiß. Er fing Os Blick auf und sie errötete: diese harten und hartnäckigen
Hände, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatten, fürchtete und ersehnte sie
jetzt. Aber er kam nicht näher. "Ich möchte, daß Sie sich ganz ausziehen,
sagte er. Aber zuerst legen Sie nur die Jacke ab, nicht aufstehen." O
löste die großen, vergoldeten Schließen, streifte das knappe Jäckchen von den
Schultern und legte es ans andere Sofaende zu ihrem Pelz, ihren Handschuhen und
ihrer Tasche. "Streicheln Sie die Spitzen ihrer Brüste", sagte Sir
Stephen und fügte hinzu: "Sie müssen eine dunklere Schminke auflegen, die
Ihre ist zu hell." Verblüfft strich O mit den Fingerspitzen über ihre
Brustwarzen, die hart wurden und sich aufrichteten und wölbte dann ihre Hände
darüber. "Ah! nein", sagte Sir Stephen. Sie zog die Hände zurück und
ließ sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken: ihre Brüste waren schwer für
den schmalen Oberkörper und spreizten sich sanft zu den Achseln hin. Ihr Nacken
ruhte auf der Lehne, ihre Hände lagen rechts und links [106] von ihr. Warum
neigte Sir Stephen nicht den Mund über sie, streckte nicht die Hand nach den
Spitzen aus, von denen er gewünscht hatte, daß sie sich aufrichteten und die O
nun, so reglos sie auch verharrte, bei jedem Atemzug erzittern fühlte. Aber er
war näher gekommen, saß schräg auf der Armlehne des Sofas, rührte sie jedoch
nicht an. Er rauchte, und mit einer Handbewegung, von der O nicht zu sagen
vermocht hätte, ob sie absichtlich war oder nicht, stäubte er ein wenig fast
glühende Asche zwischen ihre Brüste. Sie hatte das Gefühl, daß er sie
beleidigen wollte durch seine Verachtung, durch sein Schweigen, durch die
Nonchalance seiner Haltung. Und doch hatte er sie vorhin begehrt, begehrte er
sie jetzt noch, sie sah, wie er sich spannte unter dem weichen Stoff seines
Morgenrocks. Warum nahm er sie nicht und wäre es auch nur, um sie zu verletzen?
O haßte sich wegen ihres eigenen Begehrens und haßte Sir Stephen wegen seiner
Selbstbeherrschung. Sie wollte, daß er sie liebte, das war die Wahrheit; daß er
darauf brannte, ihre Lippen zu berühren und ihren Leib zu durchdringen, daß er
sie, wenn nötig, verwüstete, aber daß er ihr gegenüber nicht seine Ruhe
bewahren könne, seine Lust beherrschen. In Roissy war es ihr gleichgültig
gewesen, ob die Männer, die sich ihrer bedienten, irgendein Gefühl für sie
aufbrachten: sie waren die Instrumente, durch die ihr Geliebter Lust an ihr
empfand, durch die sie wurde, wie er sie haben wollte, glatt poliert wie ein
Kiesel. Die Hände dieser Männer waren seine Hände, ihre Befehle waren seine
Befehle. Hier nicht. René hatte sie Sir Stephen übergeben, aber es war klar,
daß er sie mit ihm teilen wollte, nicht um selbst mehr von ihr zu haben,
sondern um mit Sir Stephen das [107] zu teilen, was er heute am meisten liebte,
so wie die beiden zweifellos in ihrer Jugend eine Reise geteilt hatten, ein
Schiff, ein Pferd. Sie selbst war bei dieser Teilung weniger im Spiel, als Sir
Stephen, jeder würde in ihr das Zeichen des anderen suchen, die Spur, die der
andere zurückgelassen hatte. Vorhin, als sie halbnackt vor ihm gekniet war und
Sir Stephen mit beiden Händen ihre Schenkel geöffnet hatte, hatte René Sir
Stephen erklärt, warum Os Lenden so bequem waren und wie froh er sei, daß man
sie so vorbereitet hatte; er wisse ja, wie angenehm es Sir Stephen sei, über
diesen, von ihm bevorzugten Weg beliebig verfügen zu können. Er hatte
hinzugefügt, wenn Sir Stephen das wünsche, werde er ihm die alleinige Benutzung
überlassen. "Ah! gern", hatte Sir Stephen gesagt, aber hinzugefügt,
daß er O wohl trotz allem verwunden würde. "O gehört Ihnen, hatte René
geantwortet, O wird glücklich sein, von Ihnen verwundet zu werden." Und er
hatte sich über sie gebeugt und ihre Hände geküßt. Schon der Gedanke, daß René
auf einen Teil ihres Körpers verzichten könnte, hatte O in Bestürzung versetzt.
Es bedeutete für sie, daß ihrem Geliebten an Sir Stephen mehr lag, als an ihr.
Er hatte ihr immer wieder gesagt, daß er in ihr das Objekt liebe, zu dem er sie
gemacht hatte, die absolute Verfügungsgewalt über sie, die Freiheit, mit der er
über sie bestimmen konnte, wie man über ein Möbel bestimmt, das man zuweilen
ebensogern oder noch lieber verschenkt, wie für sich behält. Dennoch spürte sie
jetzt, daß sie ihm nie ganz geglaubt hatte. Für das, was man kaum anders als
Unterwürfigkeit gegenüber Sir Stephen nennen konnte, sah sie noch einen
weiteren Beweis in dem Umstand, daß René, der sie so [108] leidenschaftlich
gern den Körpern und den Schlägen anderer ausgesetzt sah, der mit so beharrlicher
Zärtlichkeit, mit so unerschöpflicher Dankbarkeit beobachtete, wie ihr Mund
sich öffnete, um zu stöhnen oder zu schreien, wie ihre Augen sich über Tränen
schlossen, daß dieser gleiche René fortgegangen war, nachdem er sie Sir Stephen
zur Ansicht präsentiert, sie geöffnet hatte, wie man einem Gaul das Maul
öffnet, zum Beweis, daß er noch jung ist, weil er sicher sein wollte, daß Sir
Stephen sie hinlänglich schön oder doch hinlänglich bequem fand, um sie
gnädigst zu akzeptieren. Dieses vielleicht kränkende Verhalten änderte nichts
an Os Liebe zu René. Sie war glücklich, ihm so viel zu bedeuten, daß es ihm
Freude machte, sie zu kränken, so wie die Gläubigen Gott dafür danken, daß er
sie erniedrigt. Aber in Sir Stephen ahnte sie einen festen und eisigen Willen,
den das Verlangen nicht beugen würde und dem sie, so rührend und fügsam sie
auch sein mochte, nicht das geringste bedeutete. Warum hätte sie sonst so große
Furcht empfunden? Die Peitsche am Gürtel der Knechte in Roissy, die Ketten, die
sie fast ständig tragen mußte, waren ihr nicht so schrecklich erschienen, wie
der ruhige Blick, den Sir Stephen auf ihre Brüste heftete, ohne sie zu
berühren. Sie wußte, daß die zarten Schultern, der schmale Leib, ihre glatte
und gespannte Fülle besonders zerbrechlich erscheinen ließen. Sie konnte nicht
verhindern, daß sie zitterten, sie hätte zu atmen aufhören müssen. Die
Hoffnung, daß Sir Stephen so viel Zerbrechlichkeit rühren würde, war eitel, sie
wußte genau, daß das Gegenteil der Fall war: ihre wehrlose Sanftheit war eine
Herausforderung an die Zärtlichkeit, aber auch an die Grausamkeit, an die
Lippen, aber auch [109] an die Nägel. Einen Augenblick lang gab sie sich einer
Illusion hin: Sir Stephens rechte Hand, die seine Zigarette hielt, streifte mit
dem Mittelfinger ihre Brustspitze, die gehorchte und noch steifer wurde. O
bezweifelte nicht, daß dies für Sir Stephen eine Art Spiel war, weiter nichts,
oder ein Test, wie man die Güte und das einwandfreie Funktionieren einer
Maschine testet. Ohne von der Lehne seines Sessels aufzustehen befahl Sir
Stephen ihr, den Rock auszuziehen. Os feuchte Hände glitten an dem Verschluß ab
und sie mußte mehrmals versuchen, nach ihrem Rock den Unterrock aus schwarzem
Taft aufzuhaken. Als sie ganz nackt war - die hochhackigen Lacksandalen und die
schwarzen, bis zum Knie heruntergerollten Nylonstrümpfe betonten noch die
Schlankheit ihrer Beine und die Weiße ihrer Schenkel - griff Sir Stephen, der
ebenfalls aufgestanden war, mit einer Hand in ihren Schoß und schob sie vor das
Sofa. Er ließ sie mit dem Rücken zum Sofa hinknien und befahl ihr, die Schenkel
leicht zu öffnen, die Schultern anzulehnen, nicht die Taille. Ihre Hände lagen
um die Fußgelenke, ihr Schoß war halb geöffnet und über den noch immer
drängenden Brüsten war ihr Hals nach hinten gebogen. Sie wagte nicht, Sir
Stephen ins Gesicht zu schauen, bemerkte aber, wie seine Hände den Gürtel des
Schlafrocks lösten. Er spreizte die Beine, so daß O zwischen ihnen kniete,
ergriff ihren Nacken und drang in ihren Mund ein. Er suchte nicht die
entlanggleitende Berührung ihrer Lippen, sondern stieß auf den Grund ihrer
Kehle vor. O fühlte, wie dieser Knebel aus Fleisch, der sie erstickte und
dessen langsame und stete Bewegung ihr Tränen in die Augen trieb, in ihr
anschwoll und hart wurde. Um besser in sie eindringen zu [110] können, hatte
Sir Stephen sich schließlich so auf das Sofa gekniet, daß ihr Gesicht zwischen
seinen Schenkeln war und seine Lenden manchmal Os Brüste berührten, die spürte,
wie ihr unnützer und verschmähter Schoß sie verbrannte. So lange Sir Stephen
auch in ihr blieb, er genoß seine Lust nicht bis zum Ende, sondern zog sich
schweigend aus ihr zurück und stand auf, ohne den Morgenrock wieder zu
schließen. "Sie sind lüstern, O, sagte er zu ihr. Sie lieben René, aber
Sie sind lüstern. Ist René sich darüber klar, daß Sie allen Männern gehören
wollen, die Sie begehren und daß René, wenn er Sie nach Roissy schickt oder
anderen ausliefert, Ihnen nur Alibis für Ihre eigene Lüsternheit verschafft? -
Ich liebe René, erwiderte O. - Sie lieben René, aber sie wollen mir gehören,
unter anderen", fuhr Sir Stephen fort. Ja, sie wollte ihm gehören. Wie
aber, wenn René, falls er es erführe, sich ändern würde? Sie konnte nichts
anderes tun als schweigen, die Augen senken, allein ein Blick in Sir Stephens
Augen wäre einem Geständnis gleichgekommen. Jetzt neigte Sir Stephen sich zu
ihr hinunter, ergriff ihre Schultern und ließ O auf den Teppich gleiten. Sie
lag auf dem Rücken mit hochgezogenen Beinen. Sir Stephen, der sich aufs Sofa
gesetzt hatte, dorthin, wo sie noch vor einem Augenblick gelehnt war, packte
ihr rechtes Knie und zog es zu sich heran. Da sie dem Kamin zugekehrt lag,
beleuchtete das nahe Feuer grell die doppelte, klaffende Spalte ihres Schoßes
und ihrer Lenden. Ohne sie loszulassen befahl Sir Stephen ihr abrupt, sie solle
sich selbst berühren, aber dabei die Schenkel nicht wieder schließen. In ihrer
Verblüffung streckte sie gehorsam die rechte Hand nach ihrem Schoß aus und ihre
Finger berührten den bereits [111] brennenden, von seinem schützenden Vlies
entblößten Fleischkamm, wo die zarten Lippen ihres Leibes sich trafen. Doch
dann fiel ihre Hand zurück und sie stammelte: "Ich kann nicht." Sie
konnte wirklich nicht. Sie hatte sich immer nur verstohlen in der Wärme und
Dunkelheit ihres Bettes berührt, wenn sie allein schlief, ohne jemals dabei die
letzte Befriedigung zu suchen. Sie fand sie zuweilen später im Traum und
erwachte enttäuscht darüber, wie heftig und flüchtig zugleich sie gewesen war.
Sir Stephens Blick ließ sie nicht los. Sie konnte ihn nicht ertragen, sagte nur
immer wieder "ich kann nicht" und schloß die Augen. Mit quälender
Hartnäckigkeit erschien vor ihr ein Bild, das ihr noch immer Schwindel und Ekel
verursachte, das Bild der fünfzehnjährigen Marion, die im Lederfauteuil eines
Hotelzimmers lag, ein Bein über der Stuhllehne und den Kopf halb über die
andere Lehne hängend. Marion, die sich selbst reizte und dabei stöhnte. Sie
hatte ihr erzählt, daß sie das einmal im Büro getan habe, als sie sich allein
glaubte und daß der Chef unversehens hereingekommen war und sie überraschte. O
erinnerte sich an dieses Büro, ein kahles Zimmer mit hellgrünen Wänden, das von
Norden durch staubige Fenster das Tageslicht erhielt. Vor dem Schreibtisch
stand ein Besuchersessel. "Bist du weggelaufen? hatte O gefragt. - Nein,
hatte Marion geantwortet, er hat mich aufgefordert, es nochmals zu tun, zuvor
hatte er die Tür abgeschlossen, mir befohlen, meinen Slip auszuziehen und den
Sessel ans Fenster gerückt." O war voller Bewunderung gewesen für das, was
sie Marions Mut nannte, und voll Abscheu, und sie hatte energisch abgelehnt,
sich vor Marion zu berühren und geschworen, daß sie das nie, niemals vor [112]
den Augen eines anderen tun würde. Marion hatte gelacht und gesagt: "Warte
nur, bis dein Geliebter es von dir verlangt." Hätte sie gehorcht?
Bestimmt, aber mit welcher Angst, in Renés Augen den gleichen Abscheu erwachen
zu sehen, den sie vor Marion empfunden hatte. Was absurd war. Und bei Sir
Stephen war es noch absurder, denn was machte sie sich aus dem Abscheu Sir
Stephens? Nein, sie konnte einfach nicht. Zum dritten Mal flüsterte sie:
"Ich kann nicht." So leis sie es sagte, er hörte es, ließ sie los,
stand auf, schloß seinen Morgenrock und befahl O, aufzustehen. "Ist das
Ihr Gehorsam?" sagte er. Dann packte er mit der linken Hand ihre beiden
Armgelenke, mit der rechten ohrfeigte er sie aus Leibeskräften. Sie schwankte
und wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte. "Knien Sie nieder,
sagte er; und dann: ich fürchte, René hat Sie sehr schlecht erzogen." -
"Ich habe René immer gehorcht, stammelte sie. - Sie verwechseln Liebe mit
Gehorsam. Mir werden Sie gehorchen ohne mich zu lieben und ohne daß ich Sie
liebe." Während sie zuhörte wurde sie von einer ungewohnten Auflehnung
erfaßt, sie verleugnete insgeheim die Worte, die sie gehört hatte, sie
verleugnete das Versprechen des absoluten Gehorsams und der sklavischen
Unterwerfung, sie verleugnete ihre eigenes Einverständnis, ihr eigenes
Begehren, ihre Nacktheit, ihren Schweiß, ihre zitternden Beine, die Ringe unter
ihren Augen. Sie biß vor Wut die Zähne zusammen und wehrte sich, als er sie
zwang, sich nach vorn zu beugen, sich hinzulegen, die Ellbogen am Boden und den
Kopf zwischen den Armen, als er sie an den Hüften hochhob und mit Gewalt in
ihre Lenden eindrang, um sie zu verwunden, wie René gesagt hatte, dass [113] er
sie nie verwunden würde. Beim ersten Mal schrie sie nicht. Er stieß wieder zu,
brutaler, und sie schrie. Und sooft er sich zurückzog, dann wieder eindrang,
ihr eine neue Wunde schlug, schrie sie. Sie schrie aus Auflehnung, nicht nur
aus Schmerz, darüber war er sich klar. Auch sie wußte - und darum war sie auf
alle Fälle die Besiegte - daß es ihm Freude machte, sie zum Schreien zu
zwingen. Als er fertig war und ihr befohlen hatte, wieder aufzustehen, erklärte
er ihr, alles, was er in sie ergossen habe, werde langsam wieder aus ihr
ausfließen, gefärbt vom Blut der Verletzung, die er ihr zugefügt habe, daß
diese Wunde nicht heilen werde, solang ihre Lenden nicht für ihn bereit wären
und daß er sich weiterhin den Zugang mit Gewalt erzwingen wolle. Er habe nicht
die Absicht, auf den Weg zu verzichten, dessen Benutzung René ihm allein
zugestanden habe, sie brauche sich keiner Hoffnung auf Schonung hinzugeben. Er
erinnerte sie daran, daß sie selbst sich einverstanden erklärt habe, Renés und
seine Sklavin zu sein; er halte es jedoch für wenig wahrscheinlich, daß sie,
bei aller Kenntnis der Sachlage, wisse, worauf sie sich eingelassen habe. Wenn
sie es begriffen habe, werde es für eine Flucht zu spät sein. O hörte ihm zu
und sagte sich, wenn sie sich lange genug widersetzte, würde es vielleicht auch
für ihn zu spät sein, würde er für sein Werk entflammen und sie ein bißchen
lieben. Denn ihr ganzer innerer Widerstand und die zaghafte Weigerung, die sie
zu äußern wagte, hatten nur einen Grund: sie wollte für Sir Stephen genauso
viel bedeuten wie für René, er sollte für sie mehr als nur physisches Verlangen
empfinden. Nicht, daß sie in ihn verliebt gewesen wäre, aber sie sah sehr wohl,
daß René Sir Stephen mit der ganzen [114] Hingabe eines Knaben an einen Älteren
liebte, und sie fühlte, daß er bereit wäre, Sir Stephen zuliebe so viel von ihr
zu opfern, wie dieser verlangen würde, sie wußte mit sicherem Instinkt, daß
Renés Haltung ihr gegenüber die Kopie von Sir Stephens Haltung darstellen
würde. Sollte Sir Stephen sie verachten, so würde René, trotz der Liebe, die er
für sie empfand, von dieser Verachtung angesteckt werden, während er nie daran
gedacht hätte, sich von der Haltung der Männer in Roissy beeinflussen zu
lassen. Denn in Roissy war er ihr gegenüber der Gebieter gewesen und die
Haltung der Männer, denen er sie ausgeliefert hatte, hing von der seinen ab.
Hier aber war er nicht mehr der Gebieter, im Gegenteil. Sir Stephen war Renés
Gebieter, ohne daß René sich dessen klar bewußt war, das heißt, René bewunderte
ihn und wollte ihn nachahmen, mit ihm wetteifern, und deshalb teilte er alles
mit ihm, deshalb hatte er ihm O ausgeliefert: dieses Mal war sie ausgeliefert
in des Wortes voller Bedeutung. René würde sie ohne Zweifel auch weiterhin
lieben, in dem Maß, wie Sir Stephen sie liebenswert finden, sie lieben würde.
Es war klar, daß Sir Stephen von nun an ihr Gebieter sein würde und zwar, was
auch immer René glauben mochte, ihr einziger Gebieter, und ihr Verhältnis würde
das Verhältnis zwischen Herrn und Sklavin sein. Sie erwartete kein Mitleid,
aber konnte sie nicht hoffen, ihm ein bißchen Liebe abzuzwingen? Sir Stephen
ruhte in halb liegender Stellung in seinem großen Sessel am Kamin, wie vor
Renés Weggang, O hatte er nackt dastehen lassen und ihr befohlen, seine
Anweisungen zu erwarten. Sie hatte wortlos gewartet. Dann war er aufgestanden
und hatte ihr befohlen, ihm zu folgen. Noch immer [115] nackt, nur mit den
hochhackigen Sandaletten und Strümpfen bekleidet, war sie hinter ihm die Treppe
von der Diele im Erdgeschoß zum ersten Stock hinaufgestiegen und in ein kleines
Schlafzimmer gekommen, so klein, daß nichts darin Platz hatte als ein Bett in
einer Ecke, eine Frisierkommode und ein Stuhl zwischen Bett und Fenster. Dieses
kleine Zimmer führte zu einem größeren, das Sir Stephens Schlafzimmer war,
beide hatten ein gemeinsames Badezimmer. O wusch und trocknete sich - das
Handtuch färbte sich ein wenig rot - zog Sandaletten und Strümpfe aus und legte
sich zwischen die kühlen Laken. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber es war
dunkle Nacht. Eh er die Verbindungstür schloß, trat Sir Stephen zu O und küßte
ihr die Fingerspitzen, wie in der Bar, als sie von ihrem Hocker gestiegen war
und er ihr das Kompliment wegen ihres Eisenringes gemacht hatte. Er, dessen
Hände und Geschlecht in sie eingedrungen waren und ihre Lenden und ihren Mund
verwüstet hatten, wollte mit seinen Lippen nur die Spitzen ihrer Finger
berühren. O weinte und schlief beim Morgengrauen ein.
Am nächsten Tag, kurz vor Mittag, hatte Sir Stephens Chauffeur O nachhause
gebracht. Sie war um zehn Uhr aufgewacht, eine alte Mulattin hatte ihr eine
Tasse Kaffee serviert, ein Bad bereitet und ihre Kleider gebracht, bis auf
Pelzjacke, Handschuhe und Tasche, die sie auf dem Sofa im Salon fand, als sie
hinunterkam. Der Salon war leer, Gardinen und Jalousien waren geöffnet. Vom
Sofa aus sah man in einen Garten, der eng und grün war wie ein Aquarium, nur
mit Efeu, Stechpalmen und Spindelbäumen bepflanzt. Als sie ihren Pelz anzog,
hatte die Mulattin ihr gesagt, daß Sir Stephen [116] ausgegangen sei und hatte
ihr einen Brief überreicht, dessen Umschlag nur eine Initiale aufwies, die
ihre; das weiße Blatt trug zwei Zeilen: "René hat angerufen, er wird Sie
um sechs Uhr im Atelier abholen", darunter als Unterschrift ein S, und ein
Postskriptum "Die Reitpeitsche ist für Ihren nächsten Besuch". O
blickte um sich: auf dem Tisch zwischen den beiden Sesseln, auf denen am
Vorabend Sir Stephen und René gesessen waren, lag neben einer Schale mit gelben
Rosen eine sehr lange und schlanke lederne Reitpeitsche. Die Dienerin erwartete
sie an der Tür. O steckte den Brief in ihre Handtasche und verließ das Haus.
René hatte also Sir Stephen angerufen, nicht sie. Zuhause zog sie sich aus und
aß im Morgenrock zu Mittag, danach hatte sie noch Zeit, in Ruhe ihr Make up und
ihre Frisur zu erneuern und sich für das Atelier anzukleiden, wo sie um drei
Uhr sein mußte: das Telephon klingelte nicht, René rief sie nicht an. Warum?
Was hatte Sir Stephen ihm gesagt? Was hatte die beiden über sie gesprochen? O
entsann sich der Worte, die sie zur Schilderung der Vorzüge ihres Körpers im
Hinblick auf ihre eigenen physischen Neigungen verwendet hatten. Vielleicht war
ihr im Englischen das einschlägige Vokabular ungewohnt, aber die einzigen
französischen Ausdrücke, die ihr entsprechend schienen, waren von einer
unerhörten Gemeinheit. Nun, sie war durch genauso viele Hände gegangen, wie die
Dirnen in den Bordellen, warum sollte man sie anders behandeln? "Ich liebe
dich, René, ich liebe dich, wiederholte sie, rief es leise in die Einsamkeit
ihres Zimmers, ich liebe dich, mach mit mir, was du willst, aber verlaß mich
nicht, mein Gott, verlaß mich nicht." [117]
Wer hat Mitleid mit denen, die warten? Man erkennt sie so leicht: an ihrer
Zärtlichkeit, an ihrem scheinbar aufmerksam starrenden Blick, - starrend, ja,
aber auf etwas anderes als das, was sie vor Augen haben - an ihrer
Geistesabwesenheit. Drei Stunden lang, während im Atelier ein kleiner
rothaariger und molliger Mannequin, den O nicht kannte, für Hutmoden posierte,
war ihr Geist abwesend, nach innen gekehrt, aufgesogen von der Ungeduld über
die langsam dahinschleichenden Minuten, von der Angst. Zu Bluse und Unterrock
aus roter Seide trug sie einen Schottenrock und eine kurze Wildlederjacke. Das
Rot ihrer Bluse unter der offenen Jacke ließ ihr blasses Gesicht noch besser
erscheinen und der kleine rothaarige Mannequin sagte, sie sehe wie das Unheil
in Person aus. "Unheil für wen?" fragte O sich. Noch vor zwei Jahren,
eh sie René kannte und liebte, hätte sie sich geschworen: "Unheil für Sir
Stephen", und gesagt, "er wird schon sehen". Aber ihre Liebe zu
René und Renés Liebe zu ihr hatten sie aller ihrer Waffen beraubt und ihr,
anstatt ihr neue Beweise ihrer Macht zu liefern, auch noch die weggenommen, die
sie bisher besessen hatte. Früher war sie gleichgültig und leichtherzig
gewesen, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die jungen Männer, die in sie
verliebt waren, mit einem Wort oder einer Geste in Versuchung zu führen, ohne
ihnen jedoch etwas zu gewähren, hatte sich ihnen dann vielleicht einmal,
zweimal, aus einer plötzlichen Laune heraus doch hingegeben, zur Belohnung,
aber auch, um sie noch mehr zu entflammen, eine Leidenschaft noch grausamer zu
machen, die sie nicht teilte. Sie wußte genau, daß diese Männer sie liebten.
Einer hatte versucht, sich das Leben [118] zu nehmen; als er aus dem
Krankenhaus entlassen wurde, war sie zu ihm gegangen, hatte sich nackt
ausgezogen, ihm verboten, sie zu berühren, und sich auf seinem Sofa
ausgestreckt. Leichenblaß vor Verlangen und Schmerz hatte er sie zwei Stunden
lang schweigend angestarrt, sein Versprechen hatte ihn versteinert. Sie hatte
ihn nie wiedersehen wollen. Nicht, daß sie das Verlangen, das sie weckte, unterschätzt
hätte. Sie verstand es umso besser, oder glaubte, es zu verstehen, als sie
selbst ein (wie sie meinte) gleiches Verlangen nach ihren Freundinnen oder nach
unbekannten jungen Frauen empfand. Manche gaben ihr nach - sie führte sie dann
in allzu diskrete Hotels mit engen Korridoren und Wänden, die jedes Geräusch
durchließen - andere stießen sie voll Abscheu zurück. Doch was sie für
Verlangen hielt, war nichts weiter, als die Lust an der Eroberung, und weder
ihre Gepflogenheiten eines verderbten Knaben, noch die Tatsache, daß sie ein
paar Liebhaber gehabt hatte - wenn man sie Liebhaber nennen kann - noch ihre
Härte, nicht einmal ihr Mut, halfen ihr auch nur im geringsten, als sie René
begegnete. In acht Tagen lernte sie die Furcht kennen, aber auch die
Sicherheit, das Entsetzen, aber auch das Glück. René warf sich auf sie, wie ein
Räuber auf eine Gefangene, und sie wurde mit Wonne seine Gefangene, spürte an
ihren Handgelenken, ihren Fußknöcheln, an allen Gliedern und selbst an den
verborgsten Stellen ihres Körpers die Bande, die unsichtbarer waren, als das
feinste Haar, kräftiger als die Seile, mit denen die Liliputaner Gulliver
gefesselt hatten, und die ihr Geliebter mit einem einzigen Blick anzog oder
löste. Sie war nicht mehr frei? Ah! Gott sei Dank, sie war nicht mehr frei.
Aber sie [119] fühlte sich leicht, Göttin auf der Wolke, Fisch im Wasser,
verloren im Glück. Verloren, weil diese feinen Haare, diese Stricke, die René
alle in seiner Hand hielt, das einzige Kraftnetz waren, durch das seither der
Strom ihres Lebens floß. Das war nur allzu wahr, denn wenn René seinen Griff
lockerte - oder sie es sich einbildete - wenn er abwesend schien oder sich,
voll Gleichgültigkeit, wie O glaubte, von ihr entfernte, oder wenn er sich
nicht mit ihr traf oder ihre Briefe nicht beantwortete und sie glaubte, er
wolle sie nicht mehr sehen, oder seine Liebe sei im Schwinden oder er liebe sie
überhaupt nicht mehr, erstarb alles in ihr, erstickte sie. Das Gras wurde
schwarz, der Tag war kein Tag mehr, die Nacht keine Nacht, nur noch teuflische
Erfindungen, die abwechselnd hell und dunkel erzeugten, um sie zu quälen. Vom
frischen Wasser wurde ihr übel. Sie fühlte sich als Aschensäule, bitter, unnütz
und verdammt, wie die Salzsäulen von Gomorrha. Denn sie war schuldig. Wer Gott
liebt, und wen Gott verläßt in der finsteren Nacht, ist schuldig, weil er
verlassen ist. Er sucht in der Erinnerung nach seinen Fehlern. Sie suchte nach
den ihren. Sie entdeckte nur dann und wann ein flüchtiges und mehr in ihrer
Veranlagung liegendes, als in ihren Handlungen zutage tretendes Gefallen an den
Begierden, die sie bei anderen Männern als René weckte, bei Männern, denen sie
überhaupt nur Aufmerksamkeit schenkte aus dem Übermaß des Glücks, mit dem Renés
Liebe, die Gewißheit, René zu gehören, sie erfüllten, und weil die völlige
Hingabe an ihn, in der sie lebte, sie unverwundbar, unverantwortlich machte und
alle ihre Handlungen belanglos - aber welche Handlungen? Sie hatte sich doch
nur Gedanken [120] vorzuwerfen, flüchtige Versuchungen. Dennoch stand außer
Zweifel, daß sie schuldig war und daß René sie, ohne es zu wollen, für einen
Fehler strafte, den er nicht kannte (denn er blieb in ihrem Inneren verborgen),
den Sir Stephen dagegen augenblicklich entdeckt hatte: die Lüsternheit. O war
glücklich, daß René sie peitschen ließ und sie anderen Männern auslieferte,
weil ihre leidenschaftliche Unterwerfung ihrem Geliebten bewies, daß sie ihm
gehörte, aber auch, weil der Schmerz und die Schande der Peitsche, und die
Schmach, die ihr von denen zugefügt wurde, die sie zur Lust zwangen, wenn sie
sie nahmen, selbst Lust empfanden, ohne sich um die ihre zu kümmern, ihr wie
eine Sühne für ihre Fehler vorkamen. Umarmungen, die ihren Brüsten
unerträgliche Beschimpfung antaten, Münder, die sich wie weiche und widerliche
Blutegel an ihren Lippen und an ihrer Zunge festgesaugt hatten und Zungen und
Genitalien, klebrige Tiere, die sich an ihren geschlossenen Mund, in die mit
aller Gewalt zusammengepreßte Furche ihres Schoßes und ihrer Lenden gedrängt
und sie vor Abscheu hatten steif werden lassen, so sehr, daß die Peitsche kaum
genügte, um sie wieder gefügig zu machen, und denen sie sich schließlich doch
geöffnet hatte, mit furchtbarem Ekel und furchtbarer Willfährigkeit. Und wenn
Sir Stephen recht hätte? Wenn die Erniedrigung ihr lieb wäre? Nun, je tiefer
diese Entwürdigung war, um so größer war Renés Gnade, wenn er dennoch geruhte,
O zum Instrument seiner Lust zu machen. Als Kind hatte sie, an der weißen Wand
eines Zimmers in Wales, wo sie zwei Monate lang gewohnt hatte, in roten Lettern
einen Bibelspruch gesehen, wie die Protestanten ihn gern in ihren Häusern
anbringen: [121] "Schrecklich ist es, lebend in Gottes Hand zu
fallen." Nein, sagte sie sich jetzt, das stimmt nicht. Schrecklich ist es,
lebend von Gottes Hand verstoßen zu werden. So oft René die Begegnung mit ihr
hinausschob, wie er es heute getan hatte - denn es hatte bereits sechs Uhr
geschlagen, bereits halb sieben - fühlte O sich vom Wahnsinn, von der
Verzweiflung bedroht. Der Wahnsinn war nichtig, die Verzweiflung war nichtig,
nichts war wirklich. René kam, er war da, er hatte sich nicht verändert, er
liebte sie, eine Vorstandssitzung hatte ihn aufgehalten oder eine
unvorhergesehene Arbeit, er hatte nicht Zeit gefunden, sie zu benachrichtigen.
Mit einem Schlag tauchte O aus ihrer erstickenden Betäubung auf, und doch ließ
jeder dieser Schreckensanfälle in ihrem Innersten eine dumpfe Unheilswarnung
zurück.
René erschien endlich um sieben Uhr, er freute sich so sehr, sie wiederzusehen,
daß er sie vor dem Elektriker küßte, der einen Scheinwerfer reparierte, vor dem
kleinen, rothaarigen Mannequin, der aus der Schminkkabine trat, und vor
Jacqueline, die, für alle überraschend, plötzlich hinter ihm auftauchte.
"Wie reizend, sagte Jacqueline zu O, ich wollte Sie um meine letzten
Aufnahmen bitten, aber ich glaube, das ist nicht der rechte Augenblick, ich
gehe wieder. - Mademoiselle, bitte, rief René, ohne O loszulassen, die er um
die Taille gefaßt hielt, bitte gehen Sie nicht weg!" O stellte Jacqueline
und René einander vor. Der rothaarige Mannequin war verärgert wieder in der
Kabine verschwunden, der Elektriker tat, als wäre er beschäftigt. O schaute
Jacqueline an und spürte, daß Renés Blick ihr folgte. Jacqueline trug einen
Skianzug, wie nur Filmstars ihn [122] tragen, die nicht Skifahren. Der schwarze
Pullover betonte die kleinen und weit auseinanderstehenden Brüste, eine lange,
enganliegende Hose die langen Beine des Mädchens aus dem Norden. Alles an ihr
erinnerte an Schnee: der bläuliche Schimmer ihrer grauen Seehundjacke an den
Schnee im Schatten, der Rauhreif glänz ihres Haares und der Wimpern an den
Schnee in der Sonne. Sie trug ein Lippenrot, das ins Purpurfarbene spielte, und
wenn sie lächelte und die Augen zu O erhob, dachte O, niemand könne dem
Verlangen widerstehen, aus diesem grünen und lebendigen Wasser unter den
bereiften Wimpern zu trinken und den Pullover von den kindlichen Brüsten zu
reißen, um die Hände daraufzulegen. Da war es wieder: kaum war René
aufgetaucht, so fand sie in der Gewißheit seiner Existenz den Geschmack an den
anderen und an sich selbst, an der ganzen Welt wieder. Sie gingen alle drei
gemeinsam weg. In der Rue Royale wirbelte der Schnee, der zwei Stunden lang in
dicken Flocken gefallen war, nur noch in winzigen, weißen Körnchen, die sie ins
Gesicht stachen. Das Streusalz auf dem Trottoir knirschte unter den Sohlen und
löste den Schnee auf und O spürte, wie der Eishauch, der dabei frei wurde, an
ihren Beinen hochstieg und um ihre nackten Schenkel schlug.
Was sie bei den jungen Frauen suchte, die sie verfolgte, wußte O sehr genau.
Sie bildete sich nicht ein, mit den Männern zu rivalisieren, wollte auch nicht
durch ein männliches Betragen ein Gefühl weiblicher Minderwertigkeit
kompensieren, das sie keineswegs empfand. Mit zwanzig Jahren, als sie der
hübschesten ihrer Kolleginnen den Hof machte, hatte sie sich [123] allerdings
einmal dabei ertappt, daß sie die Mütze zog, um die andere zu grüßen,
zurücktrat, um sie vorbeizulassen, und ihr beim Aussteigen aus einem Taxi die
Hand bot. Auch bestand sie darauf, zu bezahlen, wenn sie gemeinsam in einer
Konditorei Tee tranken. Sie küßte ihr auf offener Straße die Hand, gelegentlich
auch den Mund, wenn es irgend ging. Aber dabei handelte es sich um Mätzchen,
die sie aufführte, um die Leute zu schockieren, um Kindereien, nicht um eine
Überzeugung. Die Vorliebe dagegen, die sie für die Süße sehr weicher, bemalter
Lippen hegte, die unter den ihren nachgaben, für den Emaille- oder Perlenglanz
der Augen, die sich im Dämmerlicht halb schließen, um fünf Uhr nachmittags,
wenn die Vorhänge zugezogen sind und die Lampe auf dem Kaminsims brennt, für
die Stimmen, die sagen: noch einmal, ah! bitte, bitte, noch einmal, für den
Tanggeruch, der an ihren Fingern haften blieb, diese Vorliebe war echt und
tief. Ebenso lebhaft war das Vergnügen, das sie bei der Jagd empfand. Dabei kam
es ihr nicht so sehr auf das Jagen selbst an, so amüsant oder hinreißend es
auch sein mochte, als vielmehr auf das Gefühl der vollständigen Freiheit, das
sie dann verspürte. Sie gab den Ton an, sie, und nur sie allein (was sie bei
einem Mann nie tat, es sei denn, auf Umwegen). Bei ihr lag die Initiative des
Wortes, der Rendezvous, der Küsse, und sie legte solchen Wert darauf, daß sie
es nicht mochte, wenn sie zuerst geküßt wurde, und, seit sie Liebhaber hatte,
beinah niemals duldete, daß ein Mädchen ihre Liebkosungen erwiderte. So
begierig sie danach war, ihre Freundin nackt unter den Augen zu haben, unter
den Händen, so überflüssig erschien es ihr, sich selbst zu entkleiden. Oft
suchte sie einen Vorwand, [124] um es zu vermeiden, behauptete zu frieren oder
unpäßlich zu sein. Übrigens gab es wenige Frauen, an denen sie nicht irgend
etwas schön gefunden hätte; sie erinnerte sich, daß sie kurz nach ihrer
Entlassung aus dem Lyzeum ein häßliches und unsympathisches, stets mißmutiges
kleines Mädchen hatte verführen wollen, einzig deshalb, weil es einen Wald
blonder Haare hatte, die in schlecht geschnittenen Locken Licht und Schatten
auf ihr Gesicht zauberten, auf eine stumpfe, aber feinkörnige, straffe, zarte,
vollständig matte Haut. Doch die Kleine hatte sie abblitzen lassen, und wenn
eines Tages die Lust das unschöne Gesicht verklärt hatte, so war es nicht O
zuliebe gewesen. Denn O liebte es leidenschaftlich, diesen Schleier über die
Gesichter ziehen zu sehen, der sie so glatt und jung macht; ihnen eine zeitlose
Jugend verleiht, sie nicht in die Kindheit zurückversetzt, sondern die Lippen
schwellt, die Augen vergrößert wie Kohle, und die Iris schimmernd und klar
macht. Dabei war mehr Bewunderung als Eigenliebe im Spiel, denn die Verwandlung
rührte sie nicht deshalb so sehr, weil sie selbst sie bewirkt hatte: in Roissy
empfand sie die gleiche Ergriffenheit vor dem entstellten Gesicht eines
Mädchens, das einem Unbekannten ausgeliefert war. Die Nacktheit, die Hingabe
des Körpers, erregten sie und es schien ihr, als machten ihre Freundinnen ihr
ein Geschenk, für das sie ihnen nie genug danken konnte, wenn sie sich nur
bereitfanden, sich nackt in einem verschlossenen Zimmer anschauen zu lassen.
Denn die Nacktheit in den Ferien, in der Sonne und am Strand, ließ sie kalt -
nicht etwa, weil sie sich dort öffentlich zeigte, sondern weil diese
Öffentlichkeit und die Unvollständigkeit ihr einen gewissen Schutz [125]
gewährten. Die Schönheit der anderen Frauen, die sie großzügigerweise stets
über ihre eigene zu stellen bereit war, bestärkte sie im Glauben an ihre eigene
Schönheit, in der sie, wenn sie sich in ungewohnten Spiegeln betrachtete, den
Widerschein der fremden Schönheit entdeckte. Die Macht, die sie ihren
Freundinnen über ihre Person einräumte, versicherte sie zugleich ihrer eigenen
Macht über die Männer. Und sie war glücklich und fand es nur natürlich, daß die
Männer so stürmisch von ihr forderten, was sie von den Frauen forderte (und
ihnen nicht zurückgab oder nur zum kleinsten Teil). Auf diese Weise war sie
zugleich und ständig Komplizin der einen wie der anderen und gewann in beiden
Spielen. Es gab schwierige Partien. Daß O in Jacqueline verliebt war, nicht
mehr und nicht weniger, als sie in viele andere verliebt gewesen war und
vorausgesetzt, daß der Ausdruck verliebt (was reichlich viel gesagt war)
zutraf, unterlag keinem Zweifel. Doch warum zeigte sie es nicht?
Als die Knospen an den Pappeln der Kais aufsprangen, als der Tag länger
zögerte, bis er unterging, und den Liebespaaren erlaubte, sich nach den
Bürostunden in die Gärten zu setzen, glaubte sie sich endlich stark genug, es
mit Jacqueline aufzunehmen. Im Winter war sie ihr zu unbesiegbar erschienen, zu
schillernd, unberührbar, unzugänglich unter ihren frostigen Pelzen. Jacqueline
wußte es. Der Frühling bot ihr nur Kostüme, flache Schuhe, Pullover. Mit ihrem
kurzgeschnittenen, glatten Haar sah sie schließlich aus, wie eines der kecken
Schulmädchen, die O mit sechzehn Jahren, als sie ebenfalls noch ins Lyzeum
ging, an den Handgelenken gepackt und schweigend in eine leere Garderobe
gezerrt, [126] gegen die aufgehängten Mäntel gedrängt hatte. Die Mäntel fielen
von den Haken. O wurde von einem Lachanfall geschüttelt. Sie trugen
Uniformblusen aus Kattun, ihre Initialen waren in roter Baumwolle auf die
Brusttasche gestickt. In drei Kilometern Entfernung hatte die um drei Jahre
jüngere Jacqueline in einem anderen Lyzeum die gleichen Blusen getragen. O
erfuhr es eines Tages zufällig, als Jacqueline für Hausmäntel Modell stand und
seufzend sagte, wenn man im Internat wenigstens so hübsche Hausmäntel gehabt
hätte, wäre man glücklicher gewesen. Oder wenn man wenigstens die
vorgeschriebenen hätte tragen dürfen, ohne etwas darunter anzuziehen.
"Wieso ohne etwas darunter? sagte O. - Ohne Kleid natürlich",
erwiderte Jacqueline. Worauf O errötete. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen,
unter ihrem Kleid nackt zu sein, und jedes zweideutige Wort erschien ihr eine
Anspielung auf ihren Zustand. Vergeblich sagte sie sich, daß man unter
irgendeinem Kleidungsstück immer nackt sei. Nein, sie fühlte sich nackt wie
jene Veroneserin, die zum Heerführer der Belagerer gegangen war, um ihre Stadt
zu retten: nackt unter einem Mantel, den man nur zurückzuschlagen brauchte. Es
schien ihr auch, als wolle sie damit etwas einhandeln, genau wie die
Italienerin, aber was? Jacqueline war ihrer sicher, und den Beweis dafür
brauchte sie nicht erst einzuhandeln; ein Blick in den Spiegel genügte. O
betrachtete sie voll Demut und dachte, man könnte ihr, ohne sich schämen zu
müssen, keine anderen Blumen schenken als Magnolien, deren dicke und matte
Blütenblätter leicht ins bräunliche spielen, wenn sie welken, oder Kamelien, in
deren wächsernem Weiß zuweilen ein rosiges Licht spielt. [127]
Der Winter rückte immer ferner, und mit der Erinnerung an den Schnee verblaßte
auch eine leichte Tönung, die Jacquelines Haut vergoldete. Bald würden nur noch
Kamelien am Platze sein. Aber O fürchtete, sich lächerlich zu machen mit solch
melodramatischen Blumen. Sie brachte ihr eines Tages einen großen Strauß blauer
Hyazinthen, deren Duft dem der Tuberosen ähnlich ist und einem zu Kopf steigt:
ölig, heftig, haftend, genau der Duft, den die Kamelien haben sollten und den
sie nicht haben. Jacqueline steckte ihre Mongolennase in die steifen, lauen
Blüten, ihre Lippen, die seit vierzehn Tagen rosa geschminkt waren, nicht mehr
rot. Sie sagte: "Sind die für mich?" Wie die Frauen sagen, denen alle
Welt allezeit Geschenke macht. Dann sagte sie danke, dann fragte sie, ob René
kommen werde, um O abzuholen. Ja, er werde kommen, sagte O. Er wird kommen,
sagte sie bei sich und für ihn wird Jacqueline in gespielter Regungslosigkeit,
in gespieltem Schweigen eine Sekunde die eisigfeuchten Augen heben, die
niemandem ins Gesicht schauten. Jacqueline würde man nichts mehr lehren müssen:
nicht schweigen, nicht die offenen Hände an den Seiten herabhängen lassen,
nicht den Kopf halb in den Nacken beugen. O starb fast vor Verlangen danach,
die allzu hellen Haare im Nacken zu packen, den willigen Kopf weit
zurückzubeugen, wenigstens mit den Fingerspitzen die Linie der Brauen
nachzuziehen. Aber auch René würde danach verlangen. Sie wußte genau, warum
ihre frühere Kühnheit solcher Schüchternheit gewichen war, warum sie seit zwei
Monaten Jacqueline begehrte, ohne sich mit einem Wort oder einer Geste zu
verraten, warum sie vor sich selbst fadenscheinige Begründungen für ihre [128]
Zurückhaltung anführte. Es stimmte nicht, daß Jacqueline unnahbar war. Das
Hindernis lag nicht bei Jacqueline, es lag in O selbst und war von einer Art,
wie es ihr nie zuvor begegnet war. Es bestand darin, daß René ihr Freiheit ließ
und daß sie ihre Freiheit verabscheute. Ihre Freiheit war schlimmer als alle
Ketten. Ihre Freiheit trennte sie von René. Zehnmal schon hätte sie, ohne ein
Wort zu sagen, Jacqueline bei den Schultern nehmen, sie mit beiden Händen an
eine Wand nageln können, wie man einen Schmetterling aufspießt; Jacqueline
hätte sich nicht bewegt, sie hätte bestimmt nicht einmal gelächelt. Aber O war
wie ein wildes Tier geworden, daß man in Gefangenschaft gehalten hat und das
jetzt dem Jäger als Lockvogel dient, das seine Beute nur noch für ihn schlägt,
nur auf seinen Befehl zuspringt. Sie selbst lehnte sich nun manchmal bleich und
zitternd an die Wand, festgenagelt durch ihr Schweigen, festgebunden durch ihr
Schweigen, und so glücklich, weil sie schwieg. Sie erwartete mehr als eine
Erlaubnis, denn die Erlaubnis hatte sie bereits. Sie erwartete einen Befehl. Er
kam nicht von René, er kam von Sir Stephen.
Monate waren vergangen, seit René sie Sir Stephen übergeben hatte, und O
bemerkte mit Schrecken die zunehmende Bedeutung, die Sir Stephen in den Augen
ihres Geliebten gewann. Zugleich dachte sie, daß sie sich vielleicht täuschte,
daß es sich bei dem, was sie für eine fortschreitende Entwicklung der Tatsachen
oder der Gefühle hielt, lediglich um eine fortschreitende Erkenntnis dieser
Tatsachen oder dieser Gefühle handelte. Auf jeden Fall hatte sie bald bemerkt,
daß René [129] stets dann die Nacht bei ihr zubrachte, ja, nur noch dann, wenn
sie am vorhergegangenen Abend bei Sir Stephen gewesen war (Sir Stephen behielt
sie die ganze Nacht über nur dann, wenn René nicht in Paris war.) Sie hatte
zudem festgestellt, daß er sie an diesen Abenden, wenn auch er bei Sir Stephen
war, niemals berührte, es sei denn, um sie für Sir Stephen leicht zugänglich zu
machen, sie in ihrer Stellung festzuhalten, wenn sie sich wehrte. Er blieb nur
sehr selten und stets angekleidet, wie beim ersten Mal, verhielt sich
schweigend, rauchte eine Zigarette nach der anderen, legte Holz im Kamin nach,
brachte Sir Stephen zu trinken - er selbst trank jedoch nicht. O spürte, daß er
sie beobachtete, wie ein Dompteur das von ihm dressierte Tier beobachtet, das
ihm durch seinen blinden Gehorsam Ehre machen soll, oder wie im Beisein eines
Fürsten der Leibwächter, eines Bandenchefs der Handlanger die Dirne im Auge
behält, die er ihm von der Straße geholt hat. Daß er das Gesicht Sir Stephens
beobachtete, nicht das ihre, war der Beweis, daß er hier die Stellung eines
Dieners oder eines Akolyten ausübte, und O fühlte sich unter seinen Augen sogar
um die Wollust gebracht, in der ihre Züge ertranken: seine Bewunderung und
selbst die Dankbarkeit dafür galt Sir Stephen, der diese Wollust erregt hatte,
er war glücklich, weil Sir Stephen geruhte, sich an einer Sache zu erfreuen,
die er ihm geschenkt hatte. Zweifellos wäre alles viel einfacher gewesen, wenn
Sir Stephen die jungen Männer geliebt hätte, und O zweifelte nicht, daß René,
der keine Männer liebte, dennoch leidenschaftlich allen noch so geringen oder
noch so ungeheuerlichen Forderungen Sir Stephens zu willen gewesen wäre. Aber
Sir Stephen [130] liebte nur Frauen. Sie begriff, daß die beiden über ihren
Körper, den sie sich teilten, zu einer geheimnisvolleren und vielleicht
tieferen Bindung gelangten, als es ein Liebesverhältnis gewesen wäre, zu einer
Bindung, deren bloße Vorstellung ihr unerträglich war, deren Realität und Macht
sie dennoch nicht leugnen konnte. Warum aber war diese Teilung in gewissem
Sinne abstrakt? In Roissy hatte O im gleichen Augenblick, in der gleichen
Umgebung René und anderen Männern angehört. Warum verzichtete René in Sir
Stephens Gegenwart nicht nur darauf, sie zu nehmen, sondern auch darauf, ihr
Befehle zu geben? (Er übermittelte ihr lediglich die Befehle Sir Stephens). Sie
stellte ihm die Frage und wußte die Antwort schon im voraus. "Aus
Respekt", antwortete René. "Aber ich gehöre dir", sagte O.
"In erster Linie gehörst du Sir Stephen." Und das stimmte, zumindest
insofern, als die Rechte, die René seinem Freund über sie eingeräumt hatte,
total waren, als die kleinsten Wünsche Sir Stephens den Vorrang hatten vor
Renés Entscheidungen oder seinen Ansprüchen an sie. Hatte René beschlossen, daß
er mit O zu Abend essen und ins Theater gehen wolle, so brauchte Sir Stephen
ihn nur eine Stunde zuvor anzurufen um O zu sich zu bestellen und René holte
sie am Studio ab, wie sie es vereinbart hatten, aber um sie vor Sir Stephens
Tür abzusetzen. Einmal, nur ein einziges Mal, hatte O René gebeten, er möge Sir
Stephen einen anderen Tag vorschlagen, weil sie sich so sehr wünschte, René zu
einer Abendveranstaltung zu begleiten, die sie gemeinsam besuchen sollten. René
hatte es ihr abgeschlagen. "Mein armes Kind, hatte er gesagt hast du noch
immer nicht begriffen, daß du nicht mehr dir selbst gehörst und [131] daß nicht
mehr ich über dich verfüge?" Er hatte es ihr nicht nur abgeschlagen, er
hatte Sir Stephen von Os Bitte unterrichtet und ihn in ihrer Gegenwart gebeten,
sie so grausam dafür zu bestrafen, daß sie nie mehr auf den Gedanken käme,
widerspenstig zu sein. "Gewiß", hatte Sir Stephen erwidert. Sie waren
in dem kleinen, ovalen Zimmer mit dem eingelegten Fußboden, in dem als einziges
Möbelstück ein schwarzes Tischchen mit Perlmuttintarsien stand und das an den
großen gelbgrauen Salon anschloß. René blieb nicht länger, als die drei
Minuten, die er brauchte, um O zu verraten und Sir Stephens Antwort zu hören.
Dann winkte er Sir Stephen einen Gruß zu, lächelte O zu und ging. Durchs
Fenster sah sie ihn über den Hof gehen; er drehte sich nicht um; sie hörte die
Autotür zuschlagen, den Motor aufheulen und sah in einem kleinen Wandspiegel
ihr eigenes Bild: sie war weiß vor Verzweiflung und vor Furcht. Dann warf sie
mechanisch einen Blick auf Sir Stephen, der ihr die Tür zum Salon aufhielt und
zurücktrat, während sie hindurchging; er war genauso bleich, wie sie. Wie ein
Blitz durchzuckte sie die Gewißheit, daß er sie liebte. Wie ein Blitz erlosch
sie wieder. Doch obwohl sie nicht daran glaubte, sich selbst verlachte, war ihr
dieser Gedanke ein Trost und sie entkleidete sich gehorsam auf seinen Wink. Und
zum ersten Mal, seit er sie zwei-, dreimal in der Woche kommen ließ - wobei er
sich immer Zeit nahm, sich ihr zu nähern, sie oft eine Stunde nackt warten
ließ, ihr Flehen anhörte, ohne jemals darauf zu antworten, denn sie flehte ihn
zuweilen an, zur gleichen Zeit die gleichen Befehle wiederholte, wie nach einem
Ritual, so daß sie genau wußte, wann ihr Mund ihn berühren mußte, [132] wann
sie ihm, auf den Knien liegend, den Kopf in die Seide des Sofas gepreßt, nur
ihre Lenden bieten durfte, deren er sich nun bediente, ohne O zu verletzen, so
sehr hatte sie sich ihm geöffnet - zum ersten Mal und trotz der Furcht, die sie
zersetzte oder vielleicht dank dieser Furcht, trotz der Verzweiflung, in die
Renés Verrat sie gestürzt hatte aber vielleicht auch gerade dank dieser
Verzweiflung gab sie sich völlig hin. Und ihre willigen Augen waren so
zärtlich, als sie Sir Stephens hellem, brennendem Blick begegneten, daß dieser
zum ersten Mal plötzlich mit ihr französisch sprach und sie du nannte: "O,
ich werde dich knebeln, weil ich dich bis aufs Blut peitschen möchte, sagte er.
Erlaubst du es mir? - Ich gehöre Ihnen", sagte O. Sie stand in der Mitte
des Salons, ihre erhobenen und zusammengebundenen Hände, die von den Armreifen
aus Roissy und einer Kette an dem Ring festgebunden waren, an dem früher ein
Lüster von der Decke hing, ließen ihre Brüste vorspringen. Sir Stephen berührte
ihre Brüste, küßte sie dann, dann küßte er Os Mund, einmal, zehnmal. (Er hatte
sie noch nie auf den Mund geküßt.) Und als er ihr den Knebel einsteckte, der
ihren Mund mit dem Geschmack von feuchter Leinwand füllte, ihr die Zunge bis in
den Schlund zurückschob und in den ihre Zähne kaum beißen konnten, faßte er sie
sanft bei den Haaren. Sie schwankte auf ihren nackten Füßen, die Kette hielt
sie im Gleichgewicht. "O, verzeih mir", flüsterte er (noch nie hatte
er sie um Verzeihung gebeten), dann ließ er sie los und schlug zu.
Als René nach Mitternacht zu O kam, nachdem er allem die Veranstaltung besucht
hatte, zu der sie gemeinsam hatten gehen wollen, fand er sie im Bett, zitternd
[133] im weißen Nylon ihres langen Nachthemds. Sir Stephen hatte sie selbst
nach Hause und zu Bett gebracht und sie noch einmal auf den Mund geküßt. Sie
sagte es René. Sie sagte ihm auch, daß sie nicht mehr den Wunsch verspüre, Sir
Stephen nicht zu gehorchen und sie wußte sehr gut, daß René daraus den Schluß
zog, die Peitsche sei notwendig und angenehm für sie, was auch stimmte (aber
nicht der einzige Grund war). Zudem war sie überzeugt, es sei auch für René
notwendig, daß sie die Peitsche bekam. So sehr er es verabscheute, sie selbst
zu schlagen - er hatte sich nie dazu entschließen können - so sehr liebte er
es, zuzusehen, wie sie sich unter den Schlägen wand, zu hören, wie sie schrie.
Ein einziges Mal hatte Sir Stephen sie vor René mit dem Reitstock geschlagen.
René hatte O über den Tisch gelegt und sie so festgehalten, daß sie sich nicht
bewegen konnte. Ihr Rock war herabgeglitten: er hatte ihn wieder
hochgeschlagen. Vielleicht lag ihm noch mehr an dem Gedanken, daß O, während er
nicht bei ihr war, während er spazieren ging oder arbeitete, sich unter der
Peitsche wand, stöhnte und weinte, um Gnade bettelte und sie nicht erhielt -
und wußte, daß dieser Schmerz und diese Demütigung ihr durch den Willen ihres
Geliebten zugefügt wurden und zu seiner Lust. In Roissy hatte er sie von den
Dienern peitschen lassen. In Sir Stephen hatte er den unbarmherzigen Gebieter
gefunden, der er selbst nicht sein konnte. Die Tatsache, daß der Mann, den er
auf der Welt am meisten bewunderte, an O Gefallen fand und sich der Mühe
unterzog, sie gefügig zu machen, steigerte Renés Leidenschaft für sie, das sah
O genau. Jeder Mund, der sich auf ihren Mund gepreßt hatte, jede Hand, die ihre
Brüste und ihren Leib berührte, jedes [134] Geschlecht, das in sie eingedrungen
war, sie alle, die so eindeutig den Beweis erbrachten, daß sie prostituiert
wurde, hatten zugleich den Beweis erbracht, daß sie dessen würdig war, hatten
sie in gewisser Weise geheiligt. Aber das alles galt in Renés Augen nichts im
Vergleich zu dem Beweis, den Sir Stephen gab. Sooft sie aus Sir Stephens Armen
kam, suchte René auf ihr die Spur eines Gottes. O wußte, daß er sie vor ein
paar Stunden nur verraten hatte, um neue und grausamere Spuren zu schaffen. Das
war der einzige Grund. Sie wußte aber auch, daß Sir Stephen gar keiner Gründe
bedurft hätte. Umso schlimmer. (Sie aber dachte, umso besser). Erschüttert
betrachtete René lange Zeit den schlanken Körper, auf dem dicke, blaurote
Striemen sich wie Schnüre von Schulter zu Schulter spannten, über den Rücken,
die Lenden, über Leib und Brüste, sich da und dort überschnitten. An manchen
Stellen perlte ein bißchen Blut. "Ah! ich liebe dich" flüsterte er.
Er zog sich mit bebenden Händen aus, löschte das Licht und legte sich neben O.
Sie stöhnte im Dunkeln, während er sie nahm.
Die Striemen auf Os Körper verblaßten erst nach einem Monat. Auch danach noch
blieb dort, wo die Haut geplatzt war, eine weißliche Linie sichtbar, wie eine
sehr alte Narbe. Doch selbst wenn O hätte vergessen können, so würde die
Haltung Renés und Sir Stephens sie wieder daran erinnert haben. René hatte
selbstverständlich einen Schlüssel zu Os Wohnung. Er war nicht auf den Gedanken
gekommen, auch Sir Stephen einen Schlüssel zu geben, wahrscheinlich weil Sir
Stephen bisher niemals den Wunsch geäußert hatte, O [135] aufzusuchen. Aber die
Tatsache, daß er sie an jenem Abend nachhause gebracht hatte, brachte René
plötzlich auf die Idee, daß diese Tür, die nur O und er öffnen konnten, von Sir
Stephen als Hindernis betrachtet werden könnte, als Schranke oder als von René
beabsichtigte Einschränkung, und daß es lächerlich war, ihm O zu geben, wenn er
ihm nicht zugleich die Möglichkeit gab, jederzeit nach Belieben zu ihr zu
kommen. Kurz, er ließ einen Schlüssel anfertigen, händigte ihn Sir Stephen aus
und sagte O erst Bescheid, nachdem Sir Stephen ihn angenommen hatte. Sie dachte
nicht daran, zu protestieren und bemerkte bald, daß die ständige Erwartung der
Ankunft Sir Stephens sie in einen Zustand unbegreiflicher Fröhlichkeit
versetzte. Sie wartete lange, sie fragte sich, ob er sie wohl in tiefer Nacht
überraschen werde, ob er Renés Abwesenheit benutzen wolle, ob er allein kommen,
ob er überhaupt kommen würde. Sie wagte nicht, mit René darüber zu sprechen.
Eines Morgens, als die Aufwartefrau zufällig nicht da war und O früher als
gewöhnlich aufgestanden und schon um zehn Uhr zum Ausgehen angezogen war, hörte
sie wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Sie lief zur Tür und rief
"René" (denn René kam manchmal um diese Zeit und sie hatte nur noch
an ihn gedacht!). Es war Sir Stephen, der lächelte und sagte: "Gut, rufen
wir René an." Aber René wurde durch eine geschäftliche Besprechung in
seinem Büro festgehalten und würde erst in einer Stunde kommen können. O sah
mit heftig klopfendem Herzen zu (und sie fragte sich, wieso) wie Sir Stephen
den Hörer auflegte. Er setzte sie aufs Bett, nahm ihren Kopf zwischen seine
Hände und öffnete ihr den Mund, um sie zu küssen. Er benahm ihr so sehr den
Atem, daß [136] sie aufs Bett gefallen wäre, wenn er sie nicht festgehalten
hätte. Aber er hielt sie fest und richtete sie auf. Sie begriff nicht, warum
ihr diese Verwirrung, diese Angst die Kehle zuschnürte, denn konnte sie von Sir
Stephen noch etwas zu fürchten haben, was ihr noch nicht widerfahren war? Er
bat sie, sich auszuziehen und sah wortlos zu, wie sie gehorchte. War sie nicht
wahrhaftig gewöhnt, nackt vor ihm zu stehen, so wie sie an sein Schweigen
gewöhnt war, gewöhnt war, auf seine Entscheidungen zu warten? Sie mußte
zugeben, daß sie sich einer Täuschung hingab, daß sie zwar verwirrt sein mochte
durch den Ort und die Stunde, durch die Tatsache, daß sie in diesem Zimmer noch
nie für einen anderen als für René nackt gewesen war, daß jedoch der tiefere
Grund für ihre Verwirrung der gleiche war wie immer: ihre völlige
Selbstaufgabe. Heute war diese Selbstaufgabe ihr nur dadurch spürbarer
geworden, daß sie sich nicht an einem Ort vollzog, wo sie gewissermaßen nur zu
diesem Zweck hingegangen war, und nicht bei Nacht, so daß sie als ein Teil
eines Traums gelten mochte oder einer geheimen zweiten Existenz und sich zur
Zeit des Tages verhielt wie der Aufenthalt in Roissy sich zur Zeit ihres Lebens
mit René verhalten hatte. Das helle Licht eines Maimorgens machte das Heimliche
offenbar: von nun an würden die Realität der Nacht und die Realität des Tages
die gleiche Realität sein. Von nun an - und O dachte: endlich. Daraus entsprang
ohne Zweifel die seltsame, mit Schrecken gemischte Sicherheit, in die sie sich
gleiten fühlte und die sie geahnt hatte, ohne sie zu begreifen. Von nun an
würde es keine Unterbrechung mehr geben, keine tote Zeit, keine Pause. Was man
erwartet ist, eben weil man es erwartet, [137] bereits gegenwärtig, bereits
herrschend. Sir Stephen war ein anderer Gebieter als René, auf andere Weise
fordernd, aber auch auf andere Weise sicher. Und so leidenschaftlich O René
liebte und er sie, so herrschte doch zwischen ihnen eine Gleichheit (und wenn
es nur die Gleichheit des Lebensalters gewesen wäre) die in ihr das Gefühl
aufhob, daß sie ihm gehorchte, das Bewußtsein, daß sie unterworfen wurde. Was
er von ihr forderte, das wollte sie selbst sofort, einzig deshalb, weil er es
forderte. Den Befehlen Sir Stephens jedoch gehorchte sie, weil es Befehle waren
und sie war ihm dankbar, daß er sie ihr gab. Ob er mit ihr französisch oder
englisch sprach, sie du oder Sie nannte, O nannte ihn stets nur Sir Stephen,
wie eine Fremde, wie eine Bediente. Sie sagte sich, das Wort "Seigneur"
hätte besser zu ihm gepaßt, wenn sie gewagt hätte, es auszusprechen, so wie ihr
vor ihm das Wort Sklavin angestanden hätte. Sie sagte sich auch, daß das alles
ganz in Ordnung sei, denn René war glücklich, in ihr die Sklavin Sir Stephens
zu lieben. Nun hatte sie also ihre Kleider auf das Fußende ihres Bettes gelegt,
ihre hochhackigen Pantöf-felchen angezogen und wartete mit gesenkten Augen vor
Sir Stephen, der ans Fenster gelehnt stand. Die strahlende Sonne schien durch
die Gardinen aus Erbsenmousseline, sie war schon sehr heiß und wärmte ihr die
Füße. O versuchte nicht, eine bestimmte Stellung einzunehmen, aber sie dachte
geschwind, daß sie sich stärker hätte parfümieren sollen, daß sie die Spitzen
ihrer Brüste nicht geschminkt hatte und daß sie froh war, ihre Pantöffelchen
anzuhaben, weil der Lack an ihren Zehen abblätterte. Dann kam ihr plötzlich zum
Bewußtsein, daß sie eigentlich erwartete, Sir Stephen [138] werde ihr in die
Stille hinein bedeuten, sie solle vor ihn niederknien, seine Kleidung öffnen
und ihn mit dem Mund berühren. Aber nein. Daß sie allein daran gedacht hatte,
trieb ihr die Röte ins Gesicht und noch während sie errötete, schalt sie sich
töricht, weil sie es tat: soviel Schamgefühl bei einer Dirne! In diesem
Augenblick bat Sir Stephen O, sich vor ihren Frisiertisch zu setzen und ihm
zuzuhören. Der Frisiertisch war nicht eigentlich ein Frisiertisch, sondern ein
großer Drehspiegel im Stil der Restaurationszeit neben einer niedrigen
Wandkonsole, auf der Bürsten und Flakons Platz fanden. Wenn O auf dem kleinen
Polstersessel saß, konnte sie sich ganz sehen. Während er sprach, ging Sir
Stephen hinter ihr auf und ab; sein Bild erschien und verschwand im Spiegel,
hinter Os Bild, doch es war ein Bild, das fern wirkte, weil der Belag des Spiegels
grünlich war, und leicht getrübt. O, die mit geöffneten Händen und gespreizten
Knien dasaß, hätte das Bild packen und anhalten mögen, um sich das Antworten zu
erleichtern. Denn Sir Stephen stellte in präzisem Englisch Fragen über Fragen,
die letzten, die O aus seinem Munde erwartet hätte, sofern sie überhaupt welche
erwartete. Er hatte noch kaum damit begonnen, als er sich unterbrach, um O in
ihrem Sessel zurückzukippen und sie zugleich weiter nach vorn zu ziehen; nun
bot sie sich, das linke Bein über der Sessellehne und das rechte leicht
angewinkelt, im vollen Licht im Spiegel ihren eigenen Blicken und den Blicken
Sir Stephens dar, so ganz geöffnet, als hätte ein unsichtbarer Geliebter sich
aus ihr zurückgezogen und sie so verlassen. Sir Stephen fragte weiter mit der
Festigkeit eines Richters, der Geschicklichkeit eines Beichtvaters. O sah ihn
nicht sprechen, [139] sah sich aber antworten. Ob sie, seit ihrer Rückkehr aus
Roissy, anderen Männern als René und ihm angehört habe? Nein. Ob sie den Wunsch
gehabt habe, anderen, die sie getroffen hatte, anzugehören? Nein. Ob sie sich
bei Nacht, wenn sie allein sei, selbst berühre? Nein. Ob sie Freundinnen habe,
die sie berühre und von denen sie sich berühren lasse? Nein (das nein kam
zögernder). Aber Freundinnen, die sie begehrte? Nun ja, Jacqueline, nur sei
Freundin zu viel gesagt. Kollegin würde richtiger sein, oder vielleicht
Gefährtin, wie die höheren Töchter in den feinen Pensionaten einander
bezeichnen. Darauf fragte Sir Stephen, ob sie Photos von Jacqueline habe und
half ihr, aufzustehen, damit sie sie holen konnte. René, der atemlos hereinkam,
weil er die vier Treppen im Laufschritt genommen hatte, fand die beiden im
Salon: O stand vor dem großen Tisch, auf dem alle Bilder Jacquelines in weiß
und schwarz glänzten wie Wasserpfützen in der Nacht. Sir Stephen halb auf dem
Tisch sitzend, nahm eines nach dem anderen auf, wie O sie ihm reichte, und
legte sie dann wieder auf den Tisch; mit der anderen Hand hielt er O am Schoß
gepackt. Von diesem Augenblick an richtete Sir Stephen, der René begrüßt hatte,
ohne sie loszulassen - sie spürte sogar, daß seine Hand tiefer in sie eindrang
- seine Worte nicht mehr an O, sondern nur noch an René. Der Grund dafür schien
ihr klar: sobald René zugegen war, bestand zwar ihretwegen zwischen Sir Stephen
und ihm ein Einverständnis, von dem sie aber ausgeschlossen war, sie war nur
Anlaß oder Objekt, man hatte ihr keine Fragen mehr zu stellen, sie hatte keine
mehr zu beantworten: was sie tun sollte, sogar was sie sein sollte, wurde ohne
ihr Zutun entschieden. Es ging auf Mittag. Die Sonne, [140] die mit voller
Macht auf den Tisch schien, rollte die Ecken der Photos auf. O wollte sie
beiseite schieben und sie glätten, damit sie nicht verdorben würden, aber sie
war ihrer Bewegungen nicht sicher, sie mußte ein Stöhnen unterdrücken, so sehr
brannte sie Sir Stephens Hand. Sie konnte nicht mehr, stöhnte wirklich und fand
sich plötzlich auf dem Rücken quer über dem Tisch liegend, mit gespreizten,
herabhängenden Beine, mitten in den Photos, wohin Sir Stephen sie geworfen
hatte, nachdem er seine Hand entfernt hatte. Ihre Füße berührten den Boden
nicht, eines der Pantöffelchen glitt hinunter, fiel lautlos auf den weißen
Teppich. Ihr Gesicht war in der prallen Sonne: sie schloß die Augen.
Später, viel später sollte sie sich an etwas erinnern, was ihr im Augenblick
gar nicht bewußt wurde: daß sie so auf dem Tisch liegend, das Gespräch zwischen
Sir Stephen und René mithörte, so als ginge es sie nichts an und doch das
Gefühl hatte, als erlebte sie etwas zum zweiten Mal. Und es stimmte, daß sie
eine ähnliche Szene bereits erlebt hatte; denn als René sie zum ersten Mal zu
Sir Stephen geführt hatte, hatten die beiden in der gleichen Weise über sie
gesprochen. Aber dieses erste Mal war sie Sir Stephen unbekannt gewesen und
René hatte das Gespräch geführt. Inzwischen hatte Sir Stephen sie allen seinen
Launen gefügig gemacht, hatte sie nach seinem Willen geformt, hatte von ihr die
unerhörtesten Dinge gefordert und erhalten, als verstehe sich das von selbst. Sie
hatte nichts mehr zu geben, was er nicht schon besaß. Wenigstens glaubte sie
das. Jetzt sprach er, der vor ihr im allgemeinen so schweigsam war, und seine
Worte, wie auch die Erwiderungen Renés [141] zeigten, daß sie ein Thema
wiederaufnahmen, das sie schon häufig besprochen hatten und das sie zum
Gegenstand hatte. Es ging darum, wie man sie am besten verwenden, und die
Erfahrungen, die sie beide mit ihr gemacht hatten, am besten ausnutzen könne.
Sir Stephen gab gern zu, daß O unendlich erregender wirkte, wenn ihr Körper von
Malen irgendwelcher Art gezeichnet war, und sei es nur deshalb, weil diese Male
ihr eine Täuschung unmöglich machten und auf den ersten Blick kundtaten, daß
ihr gegenüber alles erlaubt war. Denn das Wissen, war eine Sache: den Beweis
dafür vor Augen zu haben, den ständig erneuerten Beweis, war eine andere. René,
so sagte Sir Stephen, habe recht gehabt mit seiner Forderung, daß sie
gepeitscht werden solle. Sie beschlossen, daß sie nicht nur um des Vergnügens
willen, das ihre Schreie und ihre Tränen gewähren mochten, gepeitscht werden
solle, sondern um dafür zu sorgen, daß ständig Spuren an ihr zu sehen sein
würden. O hörte, noch immer auf dem Rücken liegend und innerlich brennend,
unbeweglich zu und es schien ihr, als spreche Sir Stephen in wunderlicher
Stellvertretung für sie, an ihrer Stelle. Als wäre er in ihrem Körper, als
hätte er die Unruhe, die Angst, die Schande empfunden, aber auch den geheimen
Stolz und die ätzende Lust, die sie empfand, besonders wenn sie allein auf der
Straße inmitten der Passanten ging oder einen Autobus bestieg, oder wenn sie
mit den Mannequins und den Technikern im Studio war und sich sagte, daß jeder
dieser Menschen, wenn ihm ein Unfall zustoßen und man ihn auf die Straße betten
oder einen Arzt rufen müßte, selbst noch nackt sein Geheimnis bewahren würde,
sie dagegen nicht: ihr Geheimnis war nicht allein durch ihr [142] Schweigen zu
bewahren, hing nicht allein von ihr ab. Sie durfte sich, selbst wenn sie
gewollt hätte, nicht die kleinste Schwäche erlauben - genau das war der Sinn
einer der Fragen Sir Stephens - ohne sich sogleich zu erkennen zu geben, sie
konnte sich nicht die unschuldigsten Vergnügungen erlauben, Tennisspielen oder
Schwimmen. Sie empfand es als wohltuend, daß ihr das alles faktisch unmöglich
gemacht war, so wie das Gitter des Klosters es den Nonnen faktisch unmöglich
macht, sich selbst zu gehören oder zu fliehen. Aber wie konnte sie Jacqueline
gewinnen, ohne ihr gleichzeitig, wenn nicht die ganze Wahrheit, so doch einen
Teil der Wahrheit sagen zu müssen?
Die Sonne war weitergewandert, weg von ihrem Gesicht. Ihre Schultern klebten an
der Glasur der Photos, über denen sie lag und an ihrem Knie spürte sie den
rauhen Rand der Jacke Sir Stephens, der sich ihr genähert hatte. René und er
nahmen sie bei den Händen und setzten sie auf. René hob ihre Pantoffel auf. Sie
mußte sich anziehen. Während des Mittagessens, das sie danach in Saint-Cloud
einnahmen, am Ufer der Seine, setzte Sir Stephen, der jetzt mit ihr allein war,
sein Verhör fort. Am Fuß einer Ligusterhecke, die die schattige Terrasse mit
den weißgedeckten Tischen säumte, lief ein Streifen dunkelroter, aufgeblühter
Pfingstrosen. O brauchte lange, bis sie mit ihren nackten Schenkeln den
eisernen Stuhl gewärmt hatte, auf den sie sich gehorsam mit hochgeschlagenem
Rock gesetzt hatte, ohne Sir Stephens Zeichen abzuwarten. Man hörte das Wasser
an die Boote klatschen, die am Ende der Terrasse an einem Brettersteg vertäut
lagen. Sir Stephen saß vor O, die langsam sprach, entschlossen, nicht ein Wort zu
[143] sagen, das unwahr wäre. Sir Stephen wollte wissen, warum Jacqueline ihr
gefalle. Ah! das war nicht schwierig: einfach weil O sie schön fand, zu schön,
wie die lebensgroßen Puppen, die man den armen Kindern schenkt und die diese
Kinder niemals anzufassen wagen. Und zugleich wußte sie, daß sie mit Jacqueline
im Grund nur deshalb nicht sprach, sich ihr nur deshalb nicht näherte, weil sie
nicht wirklich Lust dazu hatte. Hier hob sie die Augen, die sie bisher auf die
Pfingstrosen gesenkt hatte und sah, daß Sir Stephen den Blick auf ihre Lippen
geheftet hielt. Hörte er ihr zu oder achtete er nur auf ihre Stimme, auf die
Bewegung ihrer Lippen? Sie schwieg abrupt und Sir Stephens Blick hob sich und
begegnete dem ihren. Was sie darin las, war dieses Mal so klar und es war ihr
so klar, daß sie richtig gelesen hatte, daß sie nun ihrerseits erbleichte. Wenn
er sie so liebte, würde er ihr verzeihen, daß sie es bemerkt hatte? Sie konnte
weder die Augen abwenden, noch lächeln oder sprechen. Wenn er sie liebte, was würde
sich ändern? Nicht um ihr Leben wäre sie imstande gewesen, die geringste
Bewegung zu machen, zu fliehen, ihre Knie hätten sie nicht getragen. Zweifellos
wollte er nie etwas anderes von ihr als die Erfüllung seines Verlangens,
solange dieses Verlangen andauerte. Doch erklärte dieses Verlangen allein
schon, daß er sie, seit dem Tag, an dem René sie ihm übergeben hatte, immer
häufiger rief und bei sich behielt, manchmal nur ihre Gegenwart wollte, nichts
weiter? Er saß vor ihr, stumm und unbeweglich wie sie; am Nachbartisch
unterhielten sich Geschäftsleute bei einem Kaffe, der so stark war, daß man ihn
noch an ihrem Tisch riechen konnte; zwei Amerikanerinnen, hochmütig und
gepflegt, [144] zündeten sich schon während des Essens Zigaretten an; der Kies
knirschte unter den Schritten der Kellner - einer trat an den Tisch, um Sir
Stephens zu dreiviertel geleertes Glas nachzufüllen, aber wozu einer Statue,
einer Schlafwandlerin, zu trinken geben? Er ging wieder weg. O spürte voll
Wonne, daß der graue und brennende Blick ihre Augen nur verließ, um sich auf
ihre Hände zu heften, ihre Brüste. Endlich sah sie den Schatten eines Lächelns
auftauchen, und wagte, es zu erwidern. Aber auch nur ein einziges Wort zu
sprechen, war ihr unmöglich. Sie atmete kaum. "O ...", sagte Sir
Stephen. "Ja", sagte O ganz schwach. "O, was ich Ihnen jetzt
sagen will, habe ich zusammen mit René beschlossen. Dennoch möchte ich
..." Er unterbrach sich. O erfuhr nie, ob er es deshalb tat, weil sie vor
Erregung die Augen geschlossen hatte oder ob auch ihm das Atmen schwerfiel. Er
wartete, der Kellner wechselte die Teller, brachte O die Karte, damit sie ihr
Dessert wählen konnte. O gab die Karte Sir Stephen. Ein Souffle? Ja, ein
Souffle. Dauert zwanzig Minuten. Schön, zwanzig Minuten. Der Kellner ging.
"Ich brauche länger als zwanzig Minuten", sagte Sir Stephen. Und er
sprach mit gelassener Stimme weiter und was er sagte, bewies O sogleich, daß
zumindest eine Sache feststand, nämlich daß, selbst falls er sie liebte, nichts
dadurch geändert würde, es sei denn, man wolle diesen seltsamen Respekt, diese
Glut, mit der er zu ihr sprach, als Änderung werten: "Ich würde glücklich
sein, wenn Sie sich bereitfänden ..." anstatt sie einfach aufzufordern,
seinen Wünschen nachzukommen. Denn es handelte sich um nichts anderes als um
Befehle, denen O sich ohnehin nicht hätte entziehen können. Sie machte Sir
Stephen [145] darauf aufmerksam. Er gab es zu. "Antworten Sie
trotzdem", sagte er. "Ich werde tun, was Sie wünschen",
antwortete O und das Echo dessen, was sie gesagt hatte, klang ihr im Ohr:
"Ich werde tun, was du wünschst", hatte sie zu René gesagt. Sie
flüsterte: "René ..." Sir Stephen hatte es gehört. "René weiß,
was ich von Ihnen will. Hören Sie mir zu." Er sprach englisch, aber mit
einer tiefen und tonlosen Stimme, die man an den Nebentischen nicht hören
konnte. Wenn die Kellner in die Nähe kamen, schwieg er, nahm den Satz wieder
auf, sobald sie sich entfernten. Was er sagte, schien unerhört an diesem
jedermann zugänglichen und friedlichen Ort, das Unerhörteste war jedoch, daß er
mit solcher Selbstverständlichkeit es sagen und daß O es anhören konnte. Er
erinnerte sie zunächst, daß sie am ersten Abend, den sie bei ihm verbrachte,
einem seiner Befehle nicht gehorcht hatte und machte sie darauf aufmerksam, daß
er diesen Befehl, obwohl er sie damals dafür geohrfeigt hatte, nicht wiederholt
habe. Würde sie ihm jetzt gewähren, was sie damals verweigert hatte? O begriff,
daß sie nicht nur schweigend nicken sollte, sondern daß er in entsprechenden
Worten aus ihrem Munde hören wollte, ja, sie würde sich selbst berühren, sooft
er es von ihr verlange. Sie sagte es und sah wieder den gelb und grauen Salon
vor sich, René, ihre Auflehnung an diesem ersten Abend, das Feuer, das zwischen
ihren gespreizten Knien glühte, als sie nackt auf dem Teppich lag. Heute Abend,
in diesem gleichen Salon ... Aber nein, Sir Stephen machte keine genauen
Angaben, er fuhr fort. Er wies sie darauf hin, daß sie in seiner Gegenwart
niemals René angehört habe, (auch keinem anderen Mann) wie sie in Renés
Gegenwart ihm angehört hatte (und in [146] Roissy vielen anderen Männern). Sie
dürfte daraus nicht schließen, daß ihr von René allein die Demütigung zuteil
werde, sich einem Mann hingeben zu müssen, der sie nicht liebte - vor einem
Mann, der sie liebte. (Es blieb bei diesem Thema, so lang, mit so brutaler
Ausführlichkeit: sie würde bald ihren Schoß und ihre Lenden und ihren Mund
allen seinen Freunden öffnen, die sie kennenlerne und Verlangen nach ihr haben
würden - daß O zweifelte, ob diese Brutalität nicht ebensosehr gegen ihn selbst
wie gegen sie gerichtet sei und sie behielt nur das Ende des Satzes: ein Mann,
der sie liebte. Welches andere Geständnis wollte sie hören?) Im übrigen wollte
er selbst sie im Lauf des Sommers nach Roissy zurückbringen. Hatte sie sich
niemals darüber gewundert, daß zuerst René und dann er selbst sie so isoliert
gehalten hatten? Sie sah nur sie beide, sei es zusammen, sei es einzeln. Wenn
Sir Stephen in seinem Haus in der Rue de Poitiers Gäste hatte, holte er O
niemals. Nie hatte sie bei ihm zu Mittag oder zu Abend gegessen, niemals hatte
René ihr seine Freunde vorgestellt, mit Ausnahme Sir Stephens. Zweifellos würde
er sie auch weiterhin von allen fernhalten, denn von nun an besaß Sir Stephen
das Verfügungsrecht über sie. Sie dürfe nicht glauben, daß sie als sein
Eigentum nun weniger wie eine Gefangene behandelt würde, im Gegenteil. (Aber O
begriff schlagartig nur das eine: daß Sir Stephen ihr gegenüber die gleiche
Rolle spielen würde wie René, mit ihm identisch sein würde.) Der Ring aus Eisen
und Gold, den sie an der linken Hand trug - erinnerte sie sich, wie er ihn so
eng gewählt hatte, daß sie ihn nur mit Mühe an den Ringfinger stecken konnte?
Sie konnte ihn nicht mehr abziehen - war das Zeichen, [147] daß sie Sklavin
war, aber Sklavin aller. Der Zufall hatte es gewollt, daß sie seit dem Herbst
keine Gäste des Schlosses von Roissy getroffen hatte, die ihre Eisen bemerkt
und Konsequenzen daraus gezogen hatten. Das Wort Eisen, im Plural gebraucht, in
dem sie ein Wortspiel gesehen hatte, als Sir Stephen ihr damals sagte, die
Eisen stünden ihr gut, war keineswegs ein Wortspiel, sondern eine Losung. Sir
Stephen hatte die zweite Losung nicht anzuwenden brauchen: nämlich, wem die
Eisen gehörten, die sie trug. Aber was würde O antworten, wenn man ihr diese
Frage heute stellte? O zögerte: "René und Ihnen", sagte sie. -
"Nein", sagte Sir Stephen, "mir. René wünscht, daß Sie vor allem
von mir abhängen sollen." O wußte es genau, warum versuchte sie, falsch zu
spielen? In kurzer Zeit, auf jeden Fall vor ihrer Rückkehr nach Roissy, würde
sie ein endgültiges Kennzeichen erhalten, das sie nicht davon befreien werde,
die Sklavin aller zu sein, sie jedoch unter anderen als seine besondere Sklavin
ausweisen werde und neben dem die Spuren der Peitsche oder des Reitstocks auf
ihrem Körper, selbst wenn sie dauernd erneuert würden, diskret und flüchtig
wirkten. (Aber welches Kennzeichen, worin würde es bestehen, wieso würde es
endgültig sein? O war schreckensstarr, fasziniert, sie starb vor Neugier, es zu
erfahren und zwar sofort. Aber Sir Stephen wollte sich offenbar nicht näher
erklären. Und es stimmte, daß sie ja sagen, zustimmen sollte im wahren Sinne
des Wortes, denn es würde ihr nichts gewaltsam angetan werden, dem sie nicht
vorher zugestimmt hätte, sie konnte sich weigern, nichts hielt sie in ihrer
Sklaverei, als ihre Liebe und eben ihr Sklaventum. Was hinderte sie daran,
fortzugehen?) Aber ehe [148] dieses Kennzeichen ihr aufgeprägt würde, auch ehe
Sir Ste-phen zu der Gewohnheit übergehen würde, sie, wie er mit René
beschlossen hatte, so zu peitschen, daß die Spuren dauernd sichtbar sein würde,
sollte ihr ein Aufschub gewährt werden - soviel Zeit, wie sie brauchte, um
Jacquelines Widerstand zu brechen. Hier hob O verwundert den Kopf und sah Sir Stephen
an. Warum? Warum Jacqueline? Und wie hänge Sir Stephens Interesse für
Jacqueline mit O zusammen? "Es gibt zwei Gründe", sagte Sir Stephen.
"Der erste und weniger wichtige ist der, daß ich sehen möchte, wie Sie
eine Frau küssen und berühren." - "Aber wie glauben Sie", rief
O, "daß sie sich dazu, wenn überhaupt, in Ihrer Gegenwart
bereitfindet?" "Das ist eine Kleinigkeit", sagte Sir Stephen,
"notfalls kann man sie hintergehen, und ich rechne damit, daß Sie noch
viel mehr bei ihr erreichen, denn der zweite Grund, warum ich will, daß sie
sich Ihnen ergibt, ist der, daß Sie Jacqueline nach Roissy bringen
müssen." O stellte die Kaffeetasse ab, die sie in der Hand hielt, sie
zitterte so sehr, daß sie den Rest aus Kaffeesatz und Zucker auf das Tischtuch
verschüttete. Wie eine Seherin erblickte sie in dem größer werdenden braunen
Fleck unerträgliche Bilder: Jacquelines Eisaugen vor dem Diener Pierre, ihre
Hüften, die bestimmt ebenso goldfarben waren wie ihre Brüste und die O noch nie
gesehen hatte, von ihrem weiten, hochgeschürzten Samtkleid entblößt, auf dem
Flaum der Wangen Tränen und der geschminkte Mund aufgerissen und schreiend und
das glatte Haar wie geschnittenes Stroh in ihrer Stirn, nein, das war
unmöglich, nicht sie, nicht Jacqueline. "Das ist nicht möglich, das geht
nicht", sagte sie. - "Oh doch", erwiderte Sir Stephen. "Wie
glauben Sie [149] denn, daß die Mädchen nach Roissy kommen? Sobald Sie sie
einmal dorthin gebracht haben, geht das ganze Sie nichts mehr an und außerdem,
wenn sie weg will, kann sie ja weg. Kommen Sie." Er war abrupt
aufgestanden und hatte das Geld für die Rechnung auf den Tisch gelegt. O folgte
ihm zum Wagen, stieg ein, setzte sich. Sie waren kaum im Bois de Boulogne, als
er einen Umweg einschlug, um in einer kleinen Seitenallee zu parken und sie in
seine Arme nahm. [151]
III ANNEMARIE UND DIE RINGE
O hatte geglaubt, oder, um eine Entschuldigung zu haben, glauben wollen, daß
Jacqueline unnahbar sei. Sie wurde eines anderen belehrt, sobald ihr darum zu
tun war. Das sittsame Gehabe, das Jacqueline an den Tag legte, wenn sie die Tür
des kleinen Spiegelkabinetts schloß, wo sie ihre Kleider an und auszog, war nur
darauf berechnet, O zu locken, ihr Appetit darauf zu machen, eine Tür
aufzubrechen, die sie nicht hätte durchschreiten wollen, wenn sie offen gewesen
wäre. Daß Os Entschluß jedoch von einem fremden Willen bestimmt wurde, nicht
das Resultat dieser primitiven Strategie war, ahnte Jacqueline nicht im
entferntesten. O machte das zuerst Spaß. Wenn zum Beispiel Jacqueline jetzt,
nachdem O ihr beim Frisieren geholfen hatte, ihre Vorführkleider auszog und den
hochgeschlossenen Pullover und die Türkiskette anlegte, die so gut zu ihren
Augen paßte, empfand O ein seltsames Vergnügen bei dem Gedanken, daß noch am
gleichen Abend Sir Stephen von jeder Bewegung Jacquelines erfahren würde, ob
sie O erlaubt hatte, die beiden kleinen, weit auseinanderstehenden Brüste unter
dem Pullover zu berühren, ob ihre Lider die Wimpern, die heller waren, als ihre
Haut, auf die Wangen gesenkt hatten, ob sie gestöhnt hatte. Wenn O sie küßte,
wurde sie in ihren Armen ganz schwer, unbeweglich und erwartungsvoll, ließ sich
den Mund öffnen und die Haare in den Nacken ziehen. O [152] mußte immer darauf
achten, sie an eine Türfüllung zu lehnen oder gegen einen Tisch und sie an den
Schultern festzuhalten. Sie wäre sonst zu Boden geglitten, mit geschlossenen
Augen, ohne einen Klagelaut. Sobald O sie losließ, wurde sie wieder zu Rauhreif
und Eis, lachend und fremd, sie sagte: "Ihr Lippenstift hat
abgefärbt" und wischte sich den Mund ab. An dieser Fremden wollte O Verrat
üben, wenn sie so sorgfältig - um nichts zu vergessen und alles berichten zu
können - das langsame Erröten ihrer Wangen beobachtete, den Salbeigeruch ihres
Schweißes einatmete. Man konnte nicht sagen, daß Jacqueline sich verteidigte
oder argwöhnisch war. Wenn sie sich von O küssen ließ - sie hatte bisher die
Küsse nur hingenommen, ohne sie zu erwidern - dann gab sie sich ohne Zögern,
rückhaltlos, wurde plötzlich ein anderes Wesen, zehn Sekunden lang, fünf Minuten
lang. Die übrige Zeit war sie zugleich herausfordernd und ängstlich,
unglaublich geschickt im Ausweichen, nie unterlief ihr ein Fehler in dem
Bemühen, sich weder mit einer Geste noch mit einem Wort oder auch nur einem
Blick eine Blöße zu geben, die es erlaubt hätte, Jacqueline die Siegerin und
Jacqueline die Besiegte als eine Person zu sehen, verraten hätte, daß es so
leicht war, ihren Mund zu erobern. Das einzige Indiz, das Aufschluß gab und
vielleicht die Bewegung unter dem stillen Wasserspiegel ihres Blicks verriet,
war der Schatten eines unwillkürlichen Lächelns, der gelegentlich über das
dreieckige Gesicht glitt, so rätselhaft und flüchtig wie ein Katzenlächeln und
genauso beunruhigend. O brauchte jedoch nicht lange, bis sie herausfand, daß
zwei Dinge dieses Lächeln zeitigten, ohne daß Jacqueline sich seiner bewußt
wurde. Einmal die Geschenke, [153] die man ihr machte, zum zweiten der Anblick
des Begehrens, das sie erweckte - vorausgesetzt allerdings, daß dieses Begehren
sich bei jemandem zeigte, der ihr nützlich sein konnte oder ihr schmeichelte.
In welcher Hinsicht konnte O ihr wohl nützlich sein? Oder fand Jacqueline
ausnahmsweise einfach Gefallen daran, von ihr begehrt zu werden, weil die
Bewunderung, die O ihr entgegenbrachte, ihr wohltat und auch, weil das Begehren
einer Frau keine Gefahr und keine Folgen mit sich bringt? O war überzeugt, daß
sie Jacqueline anstelle des Perlmutterclips oder des letzten Hermes-Halstuchs
mit dem aufgedruckten Ich liebe dich in sämtlichen Sprachen der Welt, nur die hundert
oder zweihundert Francs hätte schenken brauchen, die Jacqueline ständig zu
fehlen schienen, und sie hätte nicht mehr behauptet, keine Zeit zu haben, um zu
O zum Mittagessen oder einem Imbiß zu kommen, hätte sich nicht mehr ihren
Berührungen entzogen. Aber den Beweis dafür bekam O niemals. Sie hatte kaum
darüber zu Sir Stephen gesprochen, der ihr vorwarf, zu langsam vorzugehen, als
auch schon René eingriff. Die fünf-sechs Male, die René O abgeholt hatte, waren
sie alle drei entweder zu Weber gegangen oder in eine der englischen Bars rund
um die Madeleine; René betrachtete Jacqueline mit genau der gleichen Mischung
aus Interesse, Sicherheit und Unverschämtheit, mit der er in Roissy die Mädchen
betrachtete, die ihm ausgeliefert waren. Von Jacquelines strahlender und fester
Rüstung glitt die Unverschämtheit wirkungslos ab, Jacqueline bemerkte sie nicht
einmal. O dagegen wurde widersinnigerweise davon betroffen, sie fand eine
Haltung, die sie sich selbst gegenüber richtig und natürlich fand, Jacqueline [154]
gegenüber beleidigend. Wollte sie Jacquelines Verteidigung übernehmen oder
wünschte sie, Jacqueline allein zu besitzen? Sie hätte es selbst kaum sagen
können, zumal sie Jacqueline ja nicht besaß - noch nicht. Aber sollte es ihr
gelingen, so müßte sie zugeben, daß sie es René zu verdanken hätte. Dreimal
hatte er sie nach dem Besuch einer Bar, wo er Jacqueline viel mehr Whisky zu
trinken gegeben hatte, als sie vertragen konnte - ihre Wangen wurden rosig und
glänzend, ihre Augen hart - nach Hause gebracht, eh er mit O zu Sir Stephen
gefahren war. Jacqueline wohnte in einer dieser düsteren Familienpensionen in
Passy, wo die Weißrussen sich in den ersten Tagen der Einwanderung
zusammengedrängt hatten, um sich nie wieder wegzurühren. Die Diele hatte einen
Anstrich, der wie Eichentäfelung aussehen sollte, zwischen den Stäben des
Treppengeländers lag dicker Staub und der grüne Läufer wies große abgetretene
Flecken auf. René - der niemals die Schwelle überschritten hatte - wollte
jedesmal mit hineingehen, jedesmal rief Jacqueline nein, rief danke schön,
sprang aus dem Wagen und warf die Tür hinter sich zu, als hätte eine
Flammenzunge sie plötzlich erfassen und verbrennen können. Und es stimmte,
dachte O, daß das Feuer hinter ihr her war. Es war bewundernswert, daß sie es
ahnte, eh noch irgend etwas sie gewarnt hatte. Zumindest wußte sie, daß sie
sich vor René hüten mußte, so ungerührt sie auch sein Desinteresse zu lassen
schien (aber tat es das wirklich? denn was das Ungerührtscheinen anlangte, so
schauspielerte er genauso gut wie sie). Als Jacqueline sie ein einziges Mal
hatte ins Haus und in ihr Zimmer kommen lassen, verstand O, warum sie René so
ungestüm den Eintritt [155] verwehrte. Was wäre aus ihrem Prestige geworden,
aus ihrer schwarz-weiß Legende auf den Glanzpapierseiten der teueren Modehefte,
wenn jemand anderer als eine Frau wie sie, O, gesehen hätte, aus welcher
schmutzigen Höhle das seidigglänzende Raubtier hervorkam? Das Bett wurde nie
gemacht, nur eine Decke darübergeworfen unter der ein graues, fettiges Laken
hervorschaute, denn Jacqueline legte sich niemals schlafen, ohne ihr Gesicht
mit Nährcreme zu massieren und sie schlief immer ein, eh sie es wieder
abwischen konnte. Früher einmal mußte ein Vorhang die Waschecke verborgen
haben, nun baumelten noch zwei Ringe an der Stange, von denen ein paar
Stoffetzen hingen. Nichts hatte mehr Farbe, weder der Teppich noch die Tapete,
an der die grau-rosa Blumen sich hochrankten wie wilde und versteinerte
Gewächse an einem aufgemalten weißen Spalier. Man hätte alles abreißen müssen,
die Wände freilegen, die Teppiche hinauswerfen, den Fußboden abhobeln. Auf
jeden Fall sofort die Schmutzbahnen wegscheuern, die wie eine Marmorierung das
Emaille des Waschbeckens streiften, sofort die Flaschen mit Reinigungsmilch und
die Cremetöpfe säubern und ordnen, die Puderdose abwischen, den Frisiertisch
abwischen, die gebrauchten Wattebäusche wegwerfen, die Fenster öffnen. Doch
Jacqueline kerzengerade, sauber und nach Zitronelle und wilden Blumen riechend,
untadelig und unberührbar, bedrückte diese Höhle überhaupt nicht. Was sie
dagegen bedrückte, was ihr auf die Nerven ging, war ihre Familie. Die Höhle,
über die O zu René offen sprach, gab den Anstoß, daß René über O den Vorschlag
machte, der ihrer aller Leben ändern sollte, aber die Familie bewirkte, daß
Jacqueline diesen [156] Vorschlag annahm. Nämlich daß Jacqueline zu O ziehen
solle. Eine Familie war gelinde ausgedrückt, es war eine Sippe oder vielmehr
eine Horde. Großmutter, Tante, Mutter und sogar eine Dienerin, vier Frauen zwischen
fünfzig und siebzig Jahren, geschminkt, laut, erstickend unter schwarzen Seiden
und Jettschmuck, schluchzend um vier Uhr morgens im Zigarettenqualm vor dem
roten Lämpchen der Ikonen, vier Frauen im Klirren der Teegläser und im rauhen
Gezisch einer Sprache, die Jacqueline um den Preis ihres halben Lebens hätte
vergessen mögen. Es machte Jacqueline verrückt, daß sie ihnen gehorchen mußte,
sie anhören, allein schon, daß sie sie überhaupt sehen mußte. Wenn sie sah, wie
ihre Mutter beim Teetrinken ein Zuckerstück zum Mund führte, dann stellte sie
ihr eigenes Glas wieder ab, floh in ihren staubigen und kargen Stall und ließ
die drei, die Großmutter, die Mutter, die Schwester ihrer Mutter - alle drei
mit schwarzgefärbten Haaren und zusammengewachsenen Brauen, großen,
vorwurfsvollen Rehaugen - im Zimmer ihrer Mutter zurück, das auch als Salon
diente. Jacqueline floh, schlug die Türen hinter sich zu und man rief ihr nach
"Choura, Choura, mein Täubchen", wie in den Romanen von Tolstoi, denn
sie hieß nicht Jacqueline. Den Namen Jacqueline hatte sie sich für ihren Beruf
zugelegt, hatte ihn sich zugelegt, um ihren wirklichen Namen zu vergessen und
mit diesem wirklichen Namen die zärtliche Nestwärme des schmierigen
Frauengemachs, um sich einen Platz im hellen Licht Frankreichs zu schaffen, in
einer soliden Welt, in der es Männer gibt, die einen heiraten und die nicht auf
geheimnisvollen Expeditionen verschwinden wie ihr Vater, den sie nie [157]
gekannt hatte, der baltische Seemann, der im Polareis verschollen war. Ihm allein
war sie ähnlich, sagte sie sich voll Zorn und Entzücken, von ihm hatte sie das
Haar und die Wangenknochen und die getönte Haut und die schräggeschnittenen
Augen. Sie war ihrer Mutter einzig dafür dankbar, daß sie ihr diesen blonden
Teufel zum Vater gegeben hatte, der in den Schoß des Schnees zurückgekehrt war
wie andere Menschen in den Schoß der Erde. Aber sie zürnte ihr, weil sie ihn so
gründlich hatte vergessen können, daß eines Tages ein kleines, dunkles Mädchen,
das Kind einer kurzen Liaison, geboren wurde, eine Halbschwester, Vater
unbekannt, die Natalie hieß und jetzt fünfzehn Jahre alt war. Man bekam Natalie
nur in den Ferien zu Gesicht. Ihren Vater niemals. Aber er bezahlte für Natalie
das Pensionsgeld in einem Internat bei Paris und für Natalies Mutter eine
Rente, von der die drei Frauen und die Dienerin - und sogar Jacqueline bis dato
- bescheiden lebten, in einem Müßiggang, der für sie das Paradies war. Was
Jacqueline in ihrem Beruf als Mannequin verdiente, oder als Modell, wie man
nach amerikanischem Stil sagte, und was sie nicht für Schminken oder Wäsche
ausgab oder für Schuhe aus ersten Häusern oder Kleider aus ersten Häusern -
Käufe zu Vorzugspreisen, die jedoch immer noch sehr hoch waren - floß in die
Familienkasse und verschwand auf unerklärliche Weise. Sicher, Jacqueline hätte
sich aushaken lassen können, an Gelegenheit dazu hätte es ihr nicht gefehlt.
Sie hatte sich einen oder zwei Liebhaber zugelegt, weniger weil sie ihr
gefielen - sie mißfielen ihr nicht - als um sich zu beweisen, daß sie imstande
war, Begehren und Liebe zu wecken. Der eine der beiden, der zweite, der reich
[158] war, hatte ihr eine sehr schöne, rosig getönte Perle geschenkt, die sie
an der linken Hand trug, aber sie hatte sich geweigert, bei ihm zu wohnen und
da er sich weigerte, sie zu heiraten, hatte sie ihn ohne großes Bedauern
verlassen, erleichert darüber, daß sie nicht schwanger war (sie hatte es
befürchtet und ein paar Tage lang in Entsetzen gelebt). Mit diesem Geliebten
zusammenzuwohnen, hieß, das Gesicht zu verlieren, die Chance auf eine Zukunft
zu verlieren, es wäre das, was ihre Mutter mit Natalies Vater gemacht hatte, es
war unmöglich. Aber mit O war alles anders. Eine höfliche Fiktion erlaubte die
Auslegung, Jacqueline installiere sich einfach bei einer Freundin, mache
Halbpart mit ihr. O erfüllte einen doppelten Zweck, sie spielte für Jacqueline
die Rolle des Geliebten, der das Mädchen unterhält, das er liebt, oder zu ihrem
Unterhalt beiträgt, und die im Prinzip entgegengesetzte Rolle einer moralischen
Bürgschaft. Renés Anwesenheit war nicht so offiziell, daß sie die Fiktion
ernstlich gefährdet hätte. Doch wer konnte sagen, ob der Grund, warum
Jacqueline das Angebot angenommen hatte, nicht eben diese Anwesenheit Renés
war? Sicher war jedenfalls, daß es Os und ausschließlich Os Sache war, bei
Jacquelines Mutter vorzusprechen. Niemals hatte O sich so entschieden als
Verräterin, als Spionin gefühlt, als Abgesandte einer verbrecherischen
Organisation, als vor dieser Frau, die ihr für ihre Freundlichkeit gegenüber
der Tochter dankte. Zugleich verleugnete sie im Grund ihres Herzens ihren
Auftrag und den Grund ihres Kommens. Ja, Jacqueline würde zu ihr ziehen, aber
nie, niemals würde O ihren Gehorsam gegenüber Sir Stephen so weit treiben
können, daß sie Jacqueline ins Verderben [159] zöge. Und doch... Denn
Jacqueline hatte sich kaum bei O installiert, und zwar - auf Renés Verlangen -
in dem Zimmer, das René zuweilen scheinbar bewohnte (scheinbar, da er immer in
Os großem Bett schlief), als O sich wider alle Erwartung von dem heftigen
Begehren überrascht fand, Jacqueline zu besitzen, koste es, was es wolle, und
wenn sie, um ihr Ziel zu erreichen, Jacqueline ausliefern müßte. Schließlich,
sagte sie sich, war Jacquelines Schönheit ihr bester Schutz, was habe ich mich
einzumischen, und wenn man sie soweit bringen sollte, wie man mich gebracht
hat, ist das ein so großes Unglück? - und sie gestand sich selbst nicht ein,
obgleich der Gedanke daran sie berauschte, wie köstlich es sein würde,
Jacqueline nackt und wehrlos vor sich zu sehen.
Während der Woche von Jacquelines Einzug, nachdem ihre Mutter in alles
eingewilligt hatte, zeigte René sich höchst aufmerksam, er lud die jungen
Mädchen jeden zweiten Tag zum Abendessen ein, führte sie in Filme, die er
eigens auswählte, sonderbarerweise lauter Kriminalfilme, die von
Rauschgifthandel oder Menschenschmuggel handelten. Er setzte sich zwischen die
beiden, nahm jede sanft bei der Hand und sprach kein Wort. Aber O sah, wie er
bei jeder Gewaltszene auf eine Regung in Jacquelines Zügen lauerte. Es zeigte
sich darin nur ein leichter Ekel, der die Mundwinkel nach unten zog. Danach
brachte er sie nach Hause und im offenen Wagen mit den herabgelassenen Scheiben
peitschten der Nachtwind und die Geschwindigkeit Jacquelines helles und buschiges
Haar über die harten Wangen, die kleine Stirn und bis in ihre Augen. Sie
schüttelte den Kopf, um sie zurückzuwerfen, fuhr mit [160] der Hand hindurch,
wie ein Junge. Sobald sie sich an die Tatsache gewöhnt hatte, daß sie bei O
wohnte und daß O die Geliebte Renés war, schien Jacqueline Renés
Vertraulichkeiten als natürliche Begleiterscheinungen zu werten. Sie ließ es
ohne weiteres zu, daß René in ihr Zimmer kam, unter dem Vorwand, er habe irgend
ein Dokument dort vergessen, was nicht wahr war, O wußte es, sie hatte selbst
die Schubladen des großen holländischen Schreibschranks mit der Intarsienarbeit
und der lederbezogenen Schreibplatte, der so wenig zu René paßte, geleert.
Warum hatte er diesen Schrank? Von wem? Seine schwere Eleganz, die hellen
Hölzer waren der einzige Luxus in diesem ein wenig düsteren Nordzimmer, das auf
den Hof hinausging und dessen stahlgraue Wände und kalter, wohlgewachster
Fußboden einen solchen Kontrast bildeten zu den fröhlichen Zimmern der
Quaiseite. Das war ausgezeichnet, Jacqueline würde es dort nicht gefallen. Sie
würde um so eher einverstanden sein, mit O die beiden Vorderzimmer zu teilen,
bei O zu schlafen, wie sie vom ersten Tag an einverstanden war, Badezimmer und
Küche, die Schminken, die Parfüms und die Mahlzeiten mit ihr zu teilen. Worin O
sich täuschte. Jacqueline hing leidenschaftlich an Dingen, die ihr gehörten -
an ihrer rosa Perle zum Beispiel - war aber absolut gleichgültig gegen alles,
was ihr nicht gehörte. Sie hätte ein Palais bewohnen können, es wäre ihr
gleichgültig geblieben, bis man ihr gesagt hätte: das Palais gehört Ihnen, und
es ihr durch notarielle Bestätigung bewiesen hätte. Ob das graue Zimmer
ansprechend war oder nicht, ließ sie völlig kalt, und wenn sie doch in Os Bett
schlief, so nicht, um dieses Zimmer zu meiden. Eher um O eine [161] Dankbarkeit
zu beweisen, die sie nicht empfand - die dafür O ihr entgegenbrachte - und aus
der sie doch mit Freuden Kapital schlug, wie sie glaubte. Jacqueline liebte die
Wollust und fand es angenehm und praktisch, sie von einer Frau zu empfangen,
bei der sie nichts riskierte. Am fünften Tag nach ihrem Einzug, als René die
beiden zum dritten Mal gegen zehn Uhr nach einem gemeinsamen Abendessen nach
Hause gebracht hatte und wieder weggefahren war - denn wie die beiden ersten Male
fuhr er wieder weg - erschien sie einfach, nackt und noch feucht von ihrem Bad,
in der Tür zu Os Zimmer, sagte zu O: "Er kommt nicht zurück, sind Sie
sicher?" und ohne die Antwort abzuwarten schlüpfte sie in das große Bett.
Sie ließ sich mit geschlossenen Augen küssen und liebkosen, erwiderte keine
einzige Liebkosung, stöhnte zuerst ein bißchen, dann stärker, dann noch stärker
und schrie endlich laut. Sie schlief unter dem vollen Licht der rosa Lampe ein,
quer über dem Bett liegend mit gestreckten und gespreizten Knien, den
Oberkörper leicht zur Seite gedreht, die Hände geöffnet. Man sah den Schweiß
zwischen ihren Brüsten glänzen. O deckte sie zu, löschte die Lampe. Als sie sie
zwei Stunden später im Dunkeln nahm, ließ Jacqueline es geschehen, murmelte nur:
"Ermüde mich nicht zu sehr, ich muß morgen früh aufstehen."
Um diese Zeit nahm Jacqueline neben ihrer saisonbedingten Arbeit als Mannequin
ein nicht minder unregelmäßiges, aber anspruchsvolleres Metier auf: sie bekam
ein Engagement für kleine Filmrollen. Es war schwer zu sagen, ob sie stolz
darauf war oder nicht, ob sie darin den Anfang einer Laufbahn sah, von der sie
[162] sich Ruhm erhoffte. Sie riß sich morgens mit mehr Wut als Schwung aus dem
Bett, duschte und schminkte sich hastig, nahm nur die große Tasse Kaffee zu
sich, die O ihr gerade noch bereiten konnte und ließ sich mechanisch lächelnd
und wütend starrend die Fingerspitzen küssen: O war süß und lau in ihrem weißen
Morgenrock aus Vicunawolle, mit gebürstetem Haar und gewaschenem Gesicht, dem Aussehen
eines Menschen, der sich gleich nochmals Schlafen legt. Aber das tat sie nicht.
O hatte noch nicht gewagt, Jacqueline den Grund dafür zu erklären. An den
Tagen, an denen Jacqueline in das Studio nach Boulogne ging, um die Zeit, zu
der die Kinder zur Schule gehen und die kleinen Angestellten in ihre Büros, zog
auch O, die früher tatsächlich fast den ganzen Vormittag zuhause geblieben war,
sich an: "Ich schicke Ihnen meinen Wagen, hatte Sir Stephen gesagt, er
wird Jacqueline nach Boulogne bringen und danach Sie abholen." O begab
sich also jeden Morgen zu Sir Stephen, wenn die Sonne in den Straßen erst die
Ostseite der Häuser traf; die anderen Mauern waren kühl, aber in den Gärten
wurden die Schatten unter den Bäumen kürzer. In der Rue de Poitiers war der
Haushalt noch nicht in Schwung. Norah, die Mulattin führte O in das Zimmer, wo
Sir Stephen sie am ersten Abend allein hatte schlafen und weinen lassen,
wartete, bis O ihre Handschuhe, die Tasche und die Kleider auf dem Bett
abgelegt hatte, nahm alles und verwahrte es vor O in einem Wandschrank, dessen
Schlüssel sie an sich nahm, dann gab sie O hochhackige Lackpantöffelchen, die
beim Gehen klapperten und ging ihr voraus, öffnete ihr die Türen, führte sie
vor Sir Stephens Büro, trat zurück und ließ sie hineingehen. O gewöhnte sich
[163] niemals an diese Vorbereitungen und sich vor dieser geduldigen Frau
auszuziehen, die nie zu ihr sprach und sie kaum ansah, erschien ihr genauso
gräßlich, wie nackt vor den Blicken der Diener in Roissy zu stehen. Auf Filzpantoffeln,
wie eine Nonne, glitt die Mulattin geräuschlos dahin. Während sie ihr folgte,
vermochte O den Blick nicht von den beiden Zipfeln ihres Kopftuchs zu wenden
und von der braunen, mageren Hand, die sich, sooft sie eine Tür öffnete, um den
Porzellanknauf legte und hart zu sein schien wie altes Holz. Zugleich empfand O
dank eines, dem Schrecken genau entgegengesetzten Gefühls, das die Alte ihr
einflößte - O konnte sich diesen Widerspruch nie erklären - eine Art Stolz,
weil diese Dienerin Sir Stephens (Was war sie für Sir Stephen und warum
betraute er sie mit dieser Rolle der Kupplerin für die sie so gar nicht
geschaffen schien?) sah, daß auch sie, O, - wie vielleicht so manche andere,
die genau so von der Alten zu ihm geführt wurden, wer weiß - würdig war, Sir
Stephen zu dienen. Denn Sir Stephen liebte sie vielleicht, liebte sie ohne
Zweifel, und O fühlte, daß der Augenblick nicht mehr fern war, wo er es ihr
nicht mehr zu verstehen geben, sondern es ihr sagen würde - doch im gleichen
Maß, in dem seine Liebe zu ihr oder sein Verlangen nach ihr wuchsen, stellte er
auch immer größere Forderungen an ihre Geduld, ihre Ausdauer, ihre Genauigkeit.
Er behielt sie ganze Vormittage lang bei sich, berührte sie manchmal kaum,
verlangte nur, daß sie ihn mit dem Mund berührte und sie tat alles, worum er
sie bat mit einer Dankbarkeit, die um so größer war, je mehr die Bitte die Form
eines Befehls annahm. Jede Hingabe war ihr die Garantie dafür, daß man eine
noch weitergehende [164] Hingabe von ihr fordern werde, sie entledigte sich
ihrer wie einer Schuld; seltsam, daß es sie überglücklich machte, aber das war
sie. Sir Stephens Büro lag über dem gelb und grauen Salon, wo er sich des
Abends aufhielt und war kleiner und niedriger. Es stand weder Sofa noch Liege
darin, nur zwei mit geblümtem Gobelin bezogene Régence-Sessel. Dorthin setzte O
sich manchmal, doch meist wollte Sir Stephen sie ganz in der Nähe haben, in
Reichweite, und auch während er sich nicht mit ihr beschäftigte, mußte sie zu
seiner Linken auf dem Schreibtisch sitzen. Der Schreibtisch stand senkrecht zur
Wand. O konnte sich an die Regale lehnen, die Wörterbücher und gebundene
Adreßbücher enthielten. Das Telephon stand neben ihrem linken Schenkel und sie
fuhr zusammen, sooft es klingelte. Sie nahm den Hörer ab, meldete sich, sagte:
"Wer spricht, bitte?" wiederholte den Namen mit lauter Stimme, gab
das Gespräch entweder an Sir Stephen weiter oder sagte, er sei nicht zu
sprechen, je nach dem Zeichen, das er ihr machte. Wenn er einen Besucher
empfangen mußte, meldete die alte Norah ihn an, Sir Stephen ließ bitten, zu
warten, inzwischen führte Norah O wieder in das Zimmer, wo sie sich ausgezogen
hatte und wo Norah sie wieder abholte, wenn der Besucher fort war und Sir
Stephen klingelte. Da Norah allmorgendlich mehrmals das Arbeitszimmer betrat
und verließ, sei es, um Sir Stephen Kaffee zu bringen oder die Post, sei es, um
die Jalousien hochzuziehen oder herunterzulassen oder die Aschenbecher zu
leeren, und da sie allein die Erlaubnis hatte, das Zimmer zu betreten, aber auch
den Befehl, niemals anzuklopfen, passierte es, daß O einmal gerade über dem
Schreibtisch lag, Kopf und Arme auf den Lederbelag [165] gestützt, Kruppe
hochgereckt, als Norah eintrat. Sie hob den Kopf. Hätte Norah sie, wie sonst,
nicht angesehen, so hätte O nicht weiter darauf geachtet. Doch dieses Mal war
es klar, daß Norah Os Blick begegnen wollte. Die glänzenden, harten schwarzen
Augen, von denen man nicht wußte, ob sie gleichgültig waren oder nicht, das
zerfurchte und unbewegliche Gesicht, machten O so befangen, daß sie zu einer
Bewegung ansetzte, um sich Sir Stephen zu entziehen. Er begriff, preßte ihre
Taille mit einer Hand fest auf den Tisch, so daß sie nicht entschlüpfen konnte,
öffnete sie mit der anderen. Sie, die sich ihm sonst stets willig darbot, wurde
unwillkürlich verkrampft und eng und Sir Stephen mußte Gewalt anwenden. Selbst
als er in sie gelitten war spürte sie noch, daß der Muskelring sich fest um ihn
schloß und er Mühe hatte, ganz in sie einzudringen. Er zog sich erst aus ihr
zurück, nachdem der Weg bequem geöffnet war. Dann, kurz eh er sie wieder nahm,
sagte er zu Norah, sie könne warten und O zum Ankleiden führen, wenn er mit ihr
fertig sei. Doch bevor er sie wegschickte, küßte er O zärtlich auf den Mund.
Und dieser Kuß gab ihr den Mut, ihm ein paar Tage später zu sagen, daß sie sich
vor Norah fürchte. "Das hoffe ich sehr", sagte er. "Und wenn Sie
- Ihr Einverständnis vorausgesetzt - bald mein Zeichen und meine Eisen tragen
werden, dann werden Sie noch weit mehr Grund für diese Furcht haben. - Warum?
sagte O und welches Zeichen und welche Eisen? Ich trage bereits diesen Ring ...
- Das besorgt Anne-Marie, der ich versprach, daß ich Sie ihr zeigen würde. Wir
werden nach Tisch zu ihr fahren. Ist es Ihnen recht? Ich bin mit ihr befreundet
und Sie wissen, daß ich Sie bisher mit keinem meiner Freunde [166]
bekanntgemacht habe. Wenn Sie aus ihren Händen kommen, werde ich Ihnen gute
Gründe geben, vor Norah Angst zu haben." O wagte nicht, weiterzufragen.
Diese Anne-Marie, die man ihr androhte, beunruhigte sie noch mehr als Norah.
Von ihr hatte Sir Stephen bereits bei jenem Mittagessen in Saint-Cloud
gesprochen. Und es stimmte, daß O mit keinem der Freunde, keinem der Bekannten
Sir Stephens zusammengekommen war. Sie lebte im Grunde in Paris, in ihr Geheimnis
eingesperrt, wie man in ein Bordell eingesperrt ist; den einzigen Menschen,
denen ihr Geheimnis ausgeliefert war, René und Sir Stephen, war zugleich auch
ihr Körper ausgeliefert. Sie dachte, daß der Ausdruck, offen sein, will heißen,
sich ohne Rückhalt jemandem anvertrauen, für sie nur einen einzigen und zwar
buchstäblichen Sinn hatte, einen physischen und absoluten Sinn, denn an ihrem
Körper war tatsächlich alles offen, was sich öffnen ließ. Es schien überdies,
daß darin ihr Daseinszweck lag, Sir Stephen war sich darin mit René einig, denn
wenn er von seinen Freunden sprach, wie er es in Saint-Cloud getan hatte, so
nur um ihr zu sagen, daß sie allen, mit denen er sie bekanntmachen würde,
selbstverständlich zur Verfügung stehen müsse, wenn sie das wünschten. Unter
Anne-Marie und dem, was Anne-Marie mit ihr tun sollte, konnte O sich nichts
vorstellen, selbst ihr Erlebnis in Roissy half ihrer Phantasie nicht auf die
Sprünge. Sir Stephen hatte auch gesagt, er wolle sehen, wie sie eine Frau
berühre, ging es darum? (Aber er hatte ausdrücklich gesagt, daß es sich um
Jacqueline handle ...) Nein, darum ging es nicht. "Sie ihr zeigen",
hatte er gesagt. Genau. Aber als sie Anne-Marie verließ, wußte O so wenig wie
zuvor. [167]
Anne-Marie wohnte in der Nähe des Observatoriums, in einer Wohnung neben einer
Art großem Atelier im obersten Stockwerk eines neuen Wohngebäudes hoch über den
Baumwipfein. Sie war eine schlanke Frau in Sir Stephens Alter, das schwarze
Haar mit grauen Locken durchsetzt. Die Augen von einem so tiefen Blau, daß sie
schwarz wirkten. Sie bot Sir Stephen und O zu trinken an, einen sehr schwarzen
Kaffee in winzigen Täßchen, kochendheiß und bitter, der O gut tat. Als sie
ausgetrunken hatte und von ihrem Sessel aufgestanden war, um ihre leere Tasse auf
einem Tischchen abzustellen, ergriff Anne-Marie ihr Handgelenk und sagte, zu
Sir Stephen gewandt: "Sie erlauben?" "Bitte", sagte Sir
Stephen. Anne-Marie, die bisher kein Wort und kein Lächeln an O gerichtet
hatte, auch nicht zur Begrüßung, auch nicht, als Sir Stephen ihr O vorstellte,
sagte jetzt mit einem so zärtlichen Lächeln, als machte sie ihr ein Geschenk:
"Komm her, laß deinen Schoß sehen, Kleine, und deinen Popo. Aber zieh dich
ganz aus, das ist besser." Während O gehorchte, zündete sie sich eine
Zigarette an. Sir Stephen hatte den Blick von O gewendet. Die beiden ließen sie
vielleicht fünf Minuten dastehen. Es war kein Spiegel im Zimmer, aber O konnte
ihr eigenes Bild undeutlich im schwarzen Lack eines Wandschirms sehen.
"Zieh auch die Strümpfe aus", sagte Anne-Marie plötzlich. "Weißt
du," fuhr sie fort, "du darfst keine Strumpfbänder tragen, du wirst
dir die Beine verderben." Und sie zeigte O mit den Fingerspitzen die
leichten Druckstellen über dem Knie, dort, wo O ihre Strümpfe flach um das breite
Gummiband rollte. "Wer hat gesagt, daß du das tun sollst?" Eh O
antworten konnte sagte Sir Stephen: "Der Junge, der sie mir [168]gegeben
hat, Sie kennen ihn, René." Und dann: "Aber er wird bestimmt Ihren
Rat befolgen." Schön, sagte Anne-Marie. "Ich werde dir sehr lange
dunkle Strümpfe geben lassen, O, und einen Strumpfgürtel, aber einen mit
Stäbchen, der die Taille betont." Nachdem Anne-Marie geläutet und ein
blondes junges Mädchen sehr dünne, schwarze Strümpfe gebracht hatte und ein
Taillenmieder aus schwarzem Nylontaft mit eng aneinanderliegenden, über Leib
und Hüften nach innen gebogenen breiten Fischbeinstäbchen versteift, zog O,
noch immer stehend und auf einem Bein balancierend, die Strümpfe an, die bis
hoch über die Schenkel reichte. Das blonde junge Mädchen legte ihr das
Taillenmieder an, das sich mittels einer seitlichen Häkchenleiste im Rücken
schließen und öffnen ließ. Ebenfalls im Rücken konnte man eine breite
Verschnürung, wie bei den Miedern in Roissy, nach Belieben enger oder weiter
machen. O hakte ihre Strümpfe vorn und an den Seiten an den vier Strumpfhaltern
fest, dann machte das junge Mädchen sich daran, sie so eng wie möglich zu
schnüren. O spürte, wie ihre Taille und ihr Leib von den Fischbeinstangen
zusammengepreßt wurden, die vorn bis zum Schamhügel reichten, den sie
freiließen, genau wie die Hüften. Hinten war das Mieder kürzer, es ließ die
Kruppe völlig frei. "Sie wird viel besser sein, wandte Anne-Marie sich an
Sir Stephen, wenn ihre Taille ganz schmal geworden ist; und wenn Sie einmal
nicht Zeit haben, sie sich ausziehen zu lassen, so werden Sie sehen, daß das
Taillenmieder nicht stört. Komm jetzt her, O." Das junge Mädchen ging
hinaus, O trat zu Anne-Marie, die auf einem Sessel saß, einem niedrigen
Polstersessel mit kirschrotem Samtbezug. Anne-Marie [169] strich ihr leicht mit
der Hand über den Popo, legte sie dann rücklings über einen zu dem Sessel
passenden Hocker, hob ihre Beine an und öffnete sie, befahl ihr dann, sich
nicht zu rühren und ergriff die beiden Lippen. So lüpft man auf dem Markt,
dachte O, die Kiemen der Fische, die Nüstern der Pferde. Sie erinnerte sich
auch, wie der Diener Pierre an dem ersten Abend in Roissy, nachdem er sie
angekettet hatte, genauso verfahren war. Aber was tat das, sie gehörte nicht
mehr sich selbst, und am allerwenigsten gehörte ihr sicherlich diese Hälfte
ihres Körpers, die sich so gefügig und gewissermaßen losgelöst von der übrigen
Person verwenden ließ. Warum überraschte dieser Gedanke sie nicht, sondern
setzte sich von Mal zu Mal tiefer in ihr fest und löste in ihr unweigerlich
jene lähmende Verwirrung aus, die sie weit weniger dem auslieferte, in dessen
Händen sie sich befand, als vielmehr dem, der sie fremden Händen überlassen
hatte: sie in Roissy René auslieferte, während andere von ihr Besitz ergriffen,
und sie hier wem ausliefern würde? René oder Stephen? Ah! sie wußte es nicht
mehr. Weil sie es nicht mehr wissen wollte, denn sie gehörte Sir Stephen, seit
... seit wann? Anne-Marie hieß sie aufstehen und sich wieder ankleiden.
"Sie können sie mir bringen, wann immer Sie wollen, sagte sie zu Sir
Stephen, ich werde ab übermorgen in Samois sein (Samois ... O hatte erwartet:
Roissy, aber nein, es handelte sich nicht um Roissy, worum handelte es sich
dann?). Es wird sich sehr gut machen lassen." (Was würde sich sehr gut
machen lassen?) "In zehn Tagen, wenn es Ihnen recht ist, erwiderte Sir
Stephen, Anfang Juli."
Im Wagen, der O nach Hause brachte - Sir Stephen [170] war bei Anne-Marie
geblieben - erinnerte sie sich an die Statue, die sie als Kind im
Luxembourg-Garten gesehen hatte: eine Frau, deren geschnürte Taille zwischen
den schweren Brüsten und den fülligen Hüften so schmal wirkte - sie stand
vorgebeugt, um sich in einer Quelle zu spiegeln, die, ebenfalls sorgfältig in
Marmor gemeißelt, zu ihren Füßen lag - daß man fürchtete, der Marmor könne
brechen. Wenn Sir Stephen es wünschte ... Zu Jacqueline konnte man einfach
sagen, es handele sich um eine Laune Renés. Womit O wieder bei einer Sorge
angelangt war, die sie immer wieder von sich weisen wollte und die ihr dennoch
zu ihrem eigenen Erstaunen nicht übermäßig auf der Seele brannte: Warum bemühte
René sich seit Jacquelines Anwesenheit, sie einerseits mit Jacqueline allein zu
lassen, was verständlich war, und andererseits selber nicht mehr mit O allein
zu bleiben? Der Juli war nahe, er würde verreisen, würde sie nicht bei dieser
Anne-Marie besuchen, wohin Sir Stephen sie schicken würde. Müßte sie sich also
damit abfinden, daß sie ihn nur noch abends wiedersehen wollte, wenn er Lust
hatte, Jacqueline und sie einzuladen, oder - und sie wußte nicht, welcher
Gedanke bestürzender war (denn zwischen ihnen bestand nur diese von Grund auf
verfälschte Beziehung, verfälscht, weil sie so eingeschränkt war) - oder
vielleicht am Vormittag, wenn sie bei Sir Stephen war und Norah ihn
hereinführen würde, nachdem sie ihn angemeldet hatte? Sir Stephen empfing ihn
immer, immer küßte René O, streichelte die Spitzen ihrer Brüste, machte mit Sir
Stephen Pläne für den nächsten Tag, in denen von ihr nicht die Rede war, und ging
wieder. Hatte er sie so völlig an Sir Stephen abgetreten, daß er sie nicht mehr
[171] liebte? Was würde geschehen, wenn er sie nicht mehr liebte? O war so sehr
von Panik erfaßt, daß sie automatisch am Kai vor ihrem Haus ausstieg, anstatt
den Wagen zu behalten, und sich daher nach einem Taxi umsehen mußte. Auf dem
Quai de Bethune findet man wenig Taxis. O lief bis zum Boulevard Saint-Germain
und mußte noch eine Weile warten. Sie war in Schweiß gebadet, weil das Mieder
ihr den Atem nahm, als endlich ein Taxi an der Ecke der Rue du Cardinal-Lemoine
hielt. Sie winkte es herbei, gab die Adresse von Renés Büro an und stieg dort
die Treppe hinauf, ohne zu wissen, ob René da war, und wenn ja, ob er sie
empfangen würde, sie war noch nie in seinem Büro gewesen. Sie war nicht
überrascht, weder von dem großen Gebäude in einer Seitenstraße der
Champs-Elysees, nicht von den amerikanisch eingerichteten Büros, aber die
Haltung Renés, der sie unverzüglich hereinbitten ließ, brachte sie aus der
Fassung. Nicht, daß er ärgerlich gewesen wäre oder ihr Vorwürfe gemacht hätte.
Vorwürfe wären ihr lieber gewesen, denn schließlich hatte er ihr nicht erlaubt,
ihn hier zu stören und vielleicht störte sie ihn sehr. Er schickte seine
Sekretärin hinaus, bat sie, niemanden anzumelden und keine Telephongespräche
durchzugeben. Dann fragte er O, was passiert sei. "Ich habe Angst gehabt,
daß du mich nicht mehr liebst", sagte O. Er lachte. "Ganz plötzlich,
nur so? - Ja, im Wagen, auf der Rückfahrt von ... - Auf der Rückfahrt von
wem?" O schwieg. René lachte wieder: "Aber ich weiß doch, du Dummes.
Von Anne-Marie. Du gehst in zehn Tagen nach Samois. Sir Stephen hat es mir
gerade am Telephon gesagt." René saß auf dem einzigen bequemen Sessel des
Büros, vor dem Schreibtisch und O hatte sich [172] in seine Arme gepreßt.
"Was sie mit mir machen, ist mir gleichgültig, flüsterte sie, aber sag
mir, ob du mich noch liebst." - "Mein Herz, ich liebe dich sagte
René, aber ich will, daß du mir gehorchst, und du gehorchst mir sehr schlecht.
Hast du Jacqueline gesagt, daß du Sir Stephen gehörst, hast du ihr von Roissy
erzählt?" O schüttelte den Kopf. Jacqueline ließ sich ihre Liebkosungen
gefallen, aber sobald sie erfahren würde, daß O ... René ließ sie nicht zu Ende
sprechen, er hob sie auf, lehnte sie gegen den Sessel, aus dem er aufgestanden
war und schlug ihren Rock hoch. "Ah! das Mieder, sagte er. Du wirst
wirklich viel angenehmer sein, wenn deine Taille sehr schmal geworden
ist." Dann nahm er sie. O, die schon gezweifelt hatte, ob er sie überhaupt
noch begehrte - das letzte Mal lag schon so lange zurück - sah darin einen
Beweis seiner Liebe. "Es ist dumm von dir, sagte er danach zu ihr, daß du
nicht mit Jacqueline sprechen willst. Wir brauchen sie in Roissy, es wäre viel
einfacher, wenn du sie mitbringen würdest. Außerdem, wenn du von Anne-Marie
kommen wirst, kannst du deine wahre Situation nicht mehr vor ihr
verbergen." O fragte warum. "Das wirst du schon sehen, erwiderte
René. Du hast noch fünf Tage Zeit, nur noch fünf Tage, denn Sir Stephen beabsichtigt,
fünf Tage eh du zu Anne-Marie geschickt wirst, dich wieder täglich
auszupeitschen, die Spuren werden zweifellos zu sehen sein. Wie willst du das
Jacqueline erklären?" O antwortete nicht. René wußte ja nicht, daß
Jacqueline an O nur die Leidenschaft interessierte, die O ihr bezeugte, daß sie
sie niemals ansah. Und wenn sie mit Peitschenwunden bedeckt wäre, würde es
genügen, daß sie sich nie vor Jacqueline badete und immer ein Nachthemd anzog.
[173] Jacqueline würde nichts sehen. Sie hatte nicht bemerkt, daß O keinen Slip
trug, sie bemerkte überhaupt nichts: O interessierte sie nicht. "Hör zu,
fuhr René fort, eines wenigstens wirst du ihr auf jeden Fall sagen und zwar
sofort: daß ich in sie verliebt bin. - Und stimmt das? sagte O. - Ich will sie
haben, sagte René, und weil du nichts tun kannst oder nichts tun willst, werde
ich alles nötige tun. - Nach Roissy würde sie nie gehen, sagte O. Nein? sagte
René. Na schön, dann wird man sie dazu zwingen."
Am Abend, nach Einfall der Dunkelheit, als Jacqueline schon im Bett lag und O
die Decke zurückgeschlagen hatte, um sie im Lampenlicht anzuschauen, nachdem
sie ihr gesagt hatte, und zwar sogleich, "René ist in dich verliebt",
wiederholte sie sich Renés letzte Worte, und der Gedanke, diesen zarten und
schmalen Körper unter der Peitsche zu sehen, diesen engen Schoß gespreizt, den
reinen Mund schreiend geöffnet und den Flaum dieser Wangen von Tränen verklebt,
dieser Gedanke, der noch vor einem Monat solches Grauen in ihr erweckt hatte,
machte sie jetzt glücklich.
Nachdem Jacqueline abgereist war und sicherlich erst Anfang August, nach
Beendigung der Dreharbeiten an dem Film, bei dem sie mitwirkte, zurückkommen
würde, hielt O nichts mehr in Paris. Der Juli war nah, in allen Gärten standen
die scharlachroten Geranien in voller Blüte, alle Markisen an den Südseiten
waren heruntergelassen, René seufzte, daß er nach Schottland fahren müsse. O
hoffte einen Augenblick lang, daß er sie mitnehmen werde. Doch er nahm sie
niemals zu seiner Familie mit und außerdem wußte sie, daß er sie [174] Sir
Stephen überlassen würde, falls dieser den Wunsch äußerte. Sir Stephen ließ
wissen, daß er sie am Tag von Renés Abflug nach London abholen werde. Sie hatte
Urlaub. "Wir fahren zu Anne-Marie, sagte er, sie erwartet Sie. Nehmen Sie
keinen Koffer mit, Sie brauchen nichts." Es war nicht die Wohnung beim
Observatorium, wo O Anne-Marie zum ersten Mal gesehen hatte, sondern ein
niedriges Haus hinter einem großen Garten, am Saum des Waldes von
Fontainebleau. O trug seit damals das fischbeinversteifte Taillenmieder, das
Anne-Marie so unerläßlich erschienen war: sie schnürte es jeden Tag enger, man
konnte ihre Taille jetzt beinah mit den Händen umspannen, Anne-Marie würde
zufrieden sein. Als sie ankamen war es zwei Uhr mittags, das Haus schlief und
der Hund bellte leis, als die Glocke anschlug: ein großer flandrischer
Schäferhund mit struppigem Fell, der Os Knie unter ihrem Kleid beschnüffelte.
Anne-Marie saß unter einer Rotbuche am Ende des Rasens, der in einer Ecke des
Gartens unter den Fenstern ihres Zimmers lag. Sie stand nicht auf. "Hier
ist O, sagte Sir Stephen, Sie wissen, was Sie mit ihr machen sollen, wann wird
sie soweit sein?" Anne-Marie sah O an. "Sie haben ihr noch nichts
gesagt? Gut, ich werde sofort anfangen. Wir müssen dann wohl mit zehn Tagen
rechnen. Ich nehme an, Sie wollen die Ringe und die Buchstaben selbst
anbringen? Kommen Sie in vierzehn Tagen wieder. Danach wird nach weiteren
vierzehn Tagen sicherlich alles fertig sein." O wollte sprechen, eine
Frage stellen. "Einen Augenblick, O, sagte Anne-Marie, geh hier in dieses
Zimmer, zieh dich aus, behalte nur die Sandaletten an und komm wieder
her." Das Zimmer war leer, ein großes, weißes [175] Zimmer mit violetten
Gardinen aus Jouy-Leinen. O legte Tasche, Handschuhe und Kleider auf einen
kleinen Stuhl neben der Tür eines Wandschranks. Es gab keinen Spiegel. Sie ging
langsam hinaus, die Sonne blendete sie, eh sie den Schatten der Buche
erreichte. Sir Stephen stand noch immer vor Anne-Marie, der Hund lag zu ihren
Füßen. Anne-Maries schwarz-graues Haar glänzte wie geölt, ihre blauen Augen
wirkten schwarz. Sie trug ein weißes Kleid, einen Lackgürtel um die Taille und
Lacksandaletten an den nackten Füßen, die Zehen waren in der gleichen Farbe
lackiert wie ihre Fingernägel. "O, sagte sie, knie vor Sir Stephen
hin." O kniete sich hin, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt, die Spitzen
ihrer Brüste bebten. Der Hund machte Miene, sich auf sie zu stürzen.
"Platz, Türk, sagte Anne-Marie. Willst du, O, die Ringe und die Buchstaben
tragen, mit denen du nach Sir Stephens Wunsch gezeichnet werden sollst, ohne
daß du weißt, wie sie an dir angebracht werden? - Ja, sagte O. - Ich bringe Sir
Stephen hinaus, bleib hier." Sir Stephen beugte sich nieder und faßte Os
Brüste, während Anne-Marie aus ihrem Liegestuhl aufstand. Er küßte O auf den
Mund und flüsterte: "Gehörst du mir, O, gehörst du wirklich mir?"
dann verließ er sie und folgte Anne-Marie. Das Tor fiel zu, Anne-Marie kam
zurück. O kauerte auf den Fersen und hatte die Arme auf die Knie gelegt, wie
eine ägyptische Statue.
Im Hause wohnten noch drei Mädchen, jede in einem Zimmer des ersten Stockwerks;
O bekam ein kleines Zimmer im Erdgeschoß, neben dem Anne-Maries. Anne-Marie
rief sie alle in den Garten herunter. Alle drei waren nackt, wie O. In diesem
Frauenhaus, das [176] durch die hohen Parkmauern und die geschlossenen Läden
der Fenster, die auf ein staubiges Gäßchen hinausgingen, wohl geschützt war,
trugen nur Anne-Marie und das Personal Kleider: eine Köchin und zwei
Aufwärterinnen, älter als Anne-Marie und streng in mächtige schwarze
Alpakaröcke und gestärkte Schürzen gekleidet. "Sie heißt O, sagte
Anne-Marie, die sich wieder gesetzt hatte. Bringt sie zu mir, damit ich sie in
der Nähe sehe." Zwei der Mädchen richteten O auf, sie waren beide dunkel,
die Haare schwarz wie das Vlies, die Brustspitzen lang und blau violett. Die
dritte war klein, rund und rothaarig, und auf der kreidigen Haut ihrer Brust
sah man ein erschreckendes Netzwerk grüner Adern. Die beiden Mädchen schoben O
dicht vor Anne-Marie, die mit dem Finger auf die drei schwarzen Streifen
deutete, die quer über die Vorderseite der Schenkel liefen und sich auf den
Lenden fortsetzten. "Wer hat dich gepeitscht, sagte sie, Sir Stephen? -
Ja, sagte O. - Womit, und wann? - Vor drei Tagen, mit dem Reitstock. - Von
morgen an wirst du einen Monat lang nicht gepeitscht werden, aber heute
bekommst du die Peitsche, zum Einstand, wenn ich dich inspiziert habe. Hat Sir
Stephen dir nie die Innenseite der Schenkel bei weit gespreizten Beinen
gepeitscht? Nein? Nun, die Männer haben keine Ahnung. Aber das machen wir
später. Zeig deine Taille. Ah! Schon besser!" Anne-Marie zog an Os
geschmeidiger Taille, um sie noch mehr zusammenzupressen. Dann schickte sie die
kleine Rothaarige um ein anderes Mieder und ließ es O anziehen. Es war
ebenfalls aus schwarzem Nylon, so stramm gesteift und so eng, daß es wie ein
sehr breiter Ledergürtel wirkte, und wie ein Gürtel hatte es keine
Strumpfhalter. [177] Eines der dunklen Mädchen, der Anne-Marie befahl, mit
aller Kraft anzuziehen, schnürte es. "Furchtbar, sagte O. Das Mieder,
sagte Anne-Marie, hat dich schon viel schöner gemacht, aber du hast es nicht
genug geschnürt, du wirst es jetzt täglich so tragen. Sag mir jetzt, wie Sir
Stephen sich deiner am liebsten bediente. Ich muß das wissen." Sie hielt
mit der ganzen Hand Os Schoß gepackt und O konnte nicht antworten. Zwei der
Mädchen hatten sich auf den Boden gesetzt, die dritte, dunkle, ans Fußende von
Anne-Maries Liegestuhl. "Dreht sie um, ihr zwei, sagte Anne-Marie, damit
ich ihre Lenden sehe." O wurde umgedreht und nach vorn gekippt und die
Hände der beiden Mädchen öffneten sie. "Ganz klar, sagte Anne-Marie, du
brauchst mir nicht zu antworten, hier mußt du gezeichnet werden. Steh auf. Du
bekommst deine Armspangen, Colette hol das Kästchen, wir losen, wer dich
peitschen soll. Colette bring die Jetons, dann gehen wir ins Musikzimmer."
Colette war die größere der beiden dunklen Mädchen, die andere hieß Ciaire, die
kleine Rothaarige Yvonne. O hatte nicht darauf geachtet, daß sie alle, wie in
Roissy, ein Lederhalsband und lederne Armspangen trugen. Außerdem trugen sie
die gleichen Spangen an den Fußgelenken. Als Yvonne die passenden Spangen für O
ausgesucht und befestigt hatte, reichte Anne-Marie O vier Jetons, und bat sie,
jeder von ihnen einen zu geben, ohne die aufgedruckte Zahl anzusehen. O
verteilte ihre Jetons. Jedes der drei Mädchen schaute den seinen an, wortlos,
sie warteten, bis Anne-Marie sprach. "Ich habe zwei, sagte Anne-Marie, wer
hat eins?" Es war Colette. "Nimm O mit, sie gehört dir." Colette
packte Os Arme, schloß ihr die Hände hinter dem Rücken zusammen, [178] indem
sie die Armspangen einklinkte, und schob sie vor sich her. An der Schwelle
einer Fenstertür, die zu einem kleinen Seitenflügel führte, zog Yvonne, die vor
ihnen herging, O die Sandaletten aus. Die Fenstertür erhellte einen Raum,
dessen rückwärtiger Teil eine Art erhöhte Rotunde bildete; den ganz leicht
gewölbten Plafond stützten zwei schlanke Säulen, die im Abstand von zwei Metern
am Ansatz der Rundung standen. Die vier Stufen hohe Estrade bildete zwischen
den beiden Säulen einen halbrunden Vorsprung. Der Boden des Rundbaus war, wie
der des übrigen Raumes, mit einem roten Filzteppich ausgelegt. Die Wände waren
weiß, die Fenstervorhänge rot, die Sofas, die an der Wand der Rotunde entlang
standen, mit dem gleichen roten Filz bezogen aus dem der Teppich bestand. Im
rechtwinkeligen Teil des Raumes war ein sehr breiter, nicht sehr tiefer Kamin
und vor dem Kamin ein großes Radiogerät mit Plattenspieler, daneben Regale mit
Schallplatten. Daher hieß der Raum das Musikzimmer. Es war durch eine Tür neben
dem Kamin direkt mit Anne-Maries Schlafzimmer verbunden. Das Pendant zu dieser
Tür war die Tür eines Wandschranks. Außer den Sofas und dem Musikschrank war
das Zimmer unmöbliert. Colette setzte O auf den Rand der Estrade, die in der
Mitte senkrecht anstieg, - die Stufen waren rechts und links der beiden Säulen
-, die beiden anderen Mädchen schlössen die Fenstertür, nachdem sie die
Jalousien ein wenig heruntergelassen hatten. O stellte überrascht fest, daß es
sich um ein Doppelfenster handelte und Anne-Marie sagte lachend: "Damit
man dich nicht schreien hört. Die Wände sind mit Kork belegt, man hört draußen
nichts von dem, was hier vorgeht. Leg dich hin." Sie nahm sie [179] an den
Schultern, legte sie auf den roten Filz und zog sie ein Stück nach vorn; Os
Hände klammerten sich an den Rand der Estrade, wo Yvonne sie an einem Ring
festmachte, ihre Lenden hingen in der Luft. Anne-Marie ließ sie die Knie bis
zur Brust hochziehen, dann fühlte O, wie ihr die Beine über den Kopf gezogen
und nach hinten gespannt und gestreckt wurden: Gurte, die durch ihre Fußspangen
gezogen wurden, befestigten ihre Beine, ein Stück höher als ihr Kopf lag, an
den Säulen zwischen denen sie auf der Estrade so erhöht und ausgelegt war, daß
man von ihr nur die Öffnung ihres Schoßes und der gewaltsam gespreizten Lenden
sah. Anne-Marie streichelte ihr die Innenseite der Schenkel. "An dieser
Stelle des Körpers ist die Haut am zartesten, sagte sie, man darf sie nicht
verderben. Sei vorsichtig, Colette." Colette stand über ihr, die Füße zu
beiden Seiten ihrer Taille und O sah in der Schneise zwischen den braunen
Beinen die Schnüre der Peitsche, die sie in der Hand hielt. Bei den ersten
Schlägen, die ihren Schoß verbrannten, stöhnte O. Colette schlug von links nach
rechts, machte eine Pause, fing wieder an, O wand sich aus Leibeskräften, sie
glaubte, daß die Gurte sie zerreißen würden. Sie wollte nicht um Schonung
bitten, nicht um Gnade flehen. Aber Anne-Marie wußte ihren Widerstand zu
brechen. "Schneller, sagte sie zu Colette, und fester." O versuchte
sich zu beherrschen, aber vergebens. Nach einer Minute ließ sie ihren Schreien
und Tränen freien Lauf, während Anne-Marie ihr Gesicht streichelte. "Noch
einen Augenblick, sagte sie, dann ist es vorbei. Nur fünf Minuten. Fünf Minuten
lang wirst du wohl schreien können. Es ist fünf vor halb. Colette, um halb
hörst du auf, wenn ich es dir sage." Aber O [180] heulte, nein, nein,
bitte, sie konnte nicht mehr, nein, sie konnte diese Qual nicht eine Sekunde
länger ertragen. Sie ertrug sie dennoch bis zum Ende und Anne-Marie lächelte
ihr zu, als Colette von der Estrade stieg. "Danke mir", sagte
Anne-Marie zu O und O dankte ihr. Sie wußte genau, warum Anne-Marie sie vor
allem erst einmal hatte auspeitschen lassen. Daß eine Frau ebenso grausam und
noch unerbittlicher sein kann, wie ein Mann, hatte sie nie bezweifelt. Aber O
dachte, daß Anne-Marie weniger ihre Macht über sie hatte beweisen wollen, als
vielmehr eine Komplizität zwischen sich selbst und O herstellen. O hatte das
starre Geflecht ihrer widersprüchlichen Gefühle nie begriffen, aber sie hatte
gelernt, es als eine unleugbare und wichtige Tatsache zu akzeptieren: sie
liebte den Gedanken an die Marter, wenn sie sie erlitt, hätte sie die ganze
Welt verraten, um loszukommen, wenn es vorbei war, war sie glücklich, sie
erlitten zu haben, umso glücklicher, je grausamer und je andauernder diese
Marter gewesen war. Anne-Marie hatte sich weder durch Os Gefügigkeit noch durch
ihre Auflehnung täuschen lassen und wußte genau, daß ihr Dank keine Farce war.
Dennoch hatte ihr Vorgehen noch einen dritten Grund gehabt, den sie O jetzt
erklärte. Sie wollte jedem Mädchen, das in ihr Haus kam und hier in einem
weiblichen Universum lebte, klarmachen, daß das ausschließliche Zusammenleben
mit anderen Frauen ihre Weiblichkeit nicht aufhob, sondern sie vielmehr noch
gegenwärtiger und spürbarer machte. Aus diesem Grunde verlangte sie, daß die
Mädchen stets nackt waren; die Art, wie O gepeitscht und die Stellung, in der
sie festgebunden worden war, bezweckten nichts anderes. Heute würde [181] O für
den Rest des Nachmittags - noch drei Stunden - mit gespreizten und angehobenen
Beinen, Gesicht zum Garten, auf der Estrade ausgelegt bleiben. Sie würde
unaufhörlich wünschen müssen, die Beine zu schließen. Morgen würde es Ciaire
sein oder Colette oder Yvonne, die O dann ihrerseits anschauen würde. Diese
Prozedur ging viel zu langsam und erforderte zu viel Sorgfalt (genau wie die
besondere Anwendung der Peitsche), als daß man sie in Roissy anwenden könnte.
Aber O würde sehen, wie wirkungsvoll sie war. Nicht nur würde sie bei ihrer
Abreise die Ringe und Buchstaben tragen, sie würde auch so weit geöffnet und so
tief versklavt zu Sir Stephen zurückkehren, wie sie es nie für möglich gehalten
hätte.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück forderte Anne-Marie O und Yvonne auf, ihr
in ihr Schlafzimmer zu folgen. Sie nahm ein grünes Lederkästchen aus ihrem
Schreibtisch, legte es auf ihr Bett und öffnete es. Die beiden Mädchen setzten
sich ihr zu Füßen. "Hat Yvonne dir nichts gesagt?" wollte Anne-Marie
von O wissen. O schüttelte den Kopf. Was hatte Yvonne ihr zu sagen? "Sir
Stephen auch nicht, das weiß ich. Hier also sind die Ringe, die er dich tragen
lassen will." Es waren Ringe aus nichtrostendem Stahl, genau wie der
goldgefütterte Fingerring. Sie hatten die Stärke eines dicken Farbstifts, waren
aus Rundstäben gearbeitet und von länglicher Form: die Glieder der schweren
Eisenketten sehen ähnlich aus. Anne-Marie zeigte O, daß jeder Ring aus zwei
U-förmigen Teilen bestand, die ineinandergepaßt wurden. "Dies hier ist nur
das Probiermuster, sagte sie. Es ist abnehmbar. Das richtige Modell hat eine
[182] Innenfeder, die man zusammendrücken muß, damit das Gegenstück in die
Führung eindringen kann, wo es dann stecken bleibt. Wenn der Ring einmal
geschlossen ist, kann man ihn nicht mehr abnehmen, man müßte ihn
durchfeilen." Jeder Ring hatte die Länge von zwei Kleinfingergliedern und
man konnte den kleinen Finger hineinstecken. An jedem hing, wie ein weiteres
Kettenglied, oder wie die Befestigungsöse eines Ohrrings, die im Ohr selbst
angebracht wird und eine Verlängerung darstellt, eine Scheibe aus dem gleichen
Metall, ebenso groß wie der Ring. Auf der einen Fläche ein Triskel in
Nielloarbeit, auf der anderen nichts. "Auf die andere, sagte Anne-Marie,
kommt dein Name, Sir Stephens Titel, Name und Vorname, und darunter, über
Kreuz, eine Peitsche und ein Reitstock. Yvonne trägt eine solche Scheibe an
ihrem Halsband. Aber du, du wirst sie an deinem Schoß tragen. Aber ..., sagte
O. Ich weiß, erwiderte Anne-Marie, eben deshalb habe ich Yvonne mitgebracht.
Zeig deinen Schoß, Yvonne." Das rothaarige Mädchen stand auf und legte
sich über das Bett. Anne-Marie öffnete ihr die Schenkel und zeigte O, daß eines
der beiden Fleischläppchen in der Mitte und ganz unten durchgebohrt war wie mit
der Lochzange. Der Eisenring paßte genau in die Öffnung. "Ich werde dich
gleich nachher durchbohren, O, sagte Anne-Marie, es ist im Handumdrehen
geschehen, dagegen dauert es länger, bis die Klammern gesetzt sind, die die
Epidermis und die darunterliegende Schleimhaut zusammenheften. Es tut viel
weniger weh als die Peitsche. - Schläfern Sie mich denn nicht ein? rief O
zitternd. - Kommt nicht in Frage, erwiderte Anne-Marie, du wirst ein bißchen
fester gebunden als gestern, das genügt. Komm." [183]
Acht Tage später nahm Anne-Marie die Klammern heraus und paßte O den Probering
an. So leicht er war - leichter als er aussah, denn er war hohl - er wog
schwer. Das harte Metall, das ins Fleisch schnitt, schien ein Folterinstrument
zu sein. Wie würde es erst werden, wenn der zweite, schwere Ring hinzukäme?
Diese barbarische Vorrichtung würde auf den ersten Blick zu sehen sein.
"Natürlich, sagte Anne-Marie, als O eine entsprechende Bemerkung machte.
Du hast doch wohl begriffen, was Sir Stephen will? Wer immer, in Roissy, oder
anderwärts, er selbst oder irgend jemand sonst, sogar du selbst vor dem
Spiegel, wer immer deinen Rock hochhebt, sieht sofort Sir Stephens Ringe an
deinem Schoß und wenn man dich umdreht die Buchstaben auf deinen Lenden. Du
kannst vielleicht eines Tages die Ringe abfeilen lassen, aber die Buchstaben
sind nicht mehr zu entfernen. - Ich habe geglaubt, sagte Colette, daß man eine
Tätowierung sehr wohl wieder entfernen könnte." (Sie selbst hatte auf
Yvonnes weiße Haut über dem Dreieck des Schoßes in blauen Zierbuchstaben, wie
ein Stickereimonogramm, die Initialen von Yvonnes Gebieter tätowiert). "O
wird nicht tätowiert", erwiderte Anne-Marie. O schaute Anne-Marie an.
Colette und Yvonne schwiegen ratlos. Anne-Marie zögerte. "So sagen Sie es
doch, sagte O. - Meine arme Kleine, ich wagte nicht, es dir zu sagen: du wirst
mit Eisen gezeichnet. Sir Stephen hat sie mir vor zwei Tagen geschickt. - Mit
Eisen? rief Yvonne. - Mit glühenden Eisen."
Vom ersten Tage an hatte O das selbe Leben geführt wie die anderen im Hause.
Der Müßiggang war vollständig und geplant, die Zerstreuungen monoton. Die
Mädchen durften im Garten spazierengehen, lesen, [184] zeichnen, Karten
spielen, Patiencen legen. Sie konnten in ihren Zimmern schlafen oder sich in
der Sonne bräunen lassen. Manchmal unterhielten sie sich zu zweien oder alle
zusammen, stundenlang, manchmal saßen sie schweigend zu Anne-Maries Füßen. Die
Mahlzeiten wurden stets zur gleichen Stunde eingenommen, das Abendessen bei
Kerzenlicht, der Tee wurde im Garten getrunken und es wirkte absurd, mit
welcher Selbstverständlichkeit die beiden Aufwärterinnen die nackten Mädchen an
der festlichen Tafel bedienten. Jeden Abend wählte Anne-Marie eine aus, die bei
ihr schlafen sollte, manchmal mehrere Abende nacheinander die gleiche. Sie
berührte sie oder ließ sich von ihr berühren, meistens gegen Morgengrauen,
schickte danach das Mädchen in ihr Zimmer zurück und schlief wieder ein. Die
violetten Vorhänge, die nur halb zugezogen waren, färbten das erwachende
Tageslicht malvenblau und Yvonne sagte, Anne-Marie sei ebenso schön und
unnahbar in der Lust, die sie sich verschaffen lasse, wie unermüdlich in ihren
Forderungen. Keines der Mädchen hatte sie jemals völlig nackt gesehen. Sie
öffnete ihr Nachthemd aus weißem Nylonjersey oder schob es hoch, zog es jedoch
nie aus. Weder die Wollust, die sie in der Nacht von einem der Mädchen erfahren
hatte, noch die Wahl vom Vorabend beeinflußten die Entscheidung vom nächsten
Nachmittag, die immer durch das Los getroffen wurde. Um drei Uhr brachte
Anne-Marie den Becher mit den Jetons unter die Blutbuche, wo die Gartensessel
um einen runden Tisch aus weißem Stein gruppiert waren. Jedes Mädchen nahm
einen heraus. Wer die niedrigste Zahl zog, wurde in das Musikzimmer geführt und
auf der Estrade zur Schau [185] gestellt, wie O am ersten Tag. Sie (nur O war
bis zu ihrer Abreise davon ausgeschlossen) mußte noch auf Anne-Maries rechte
oder linke Hand deuten, die eine weiße oder schwarze Kugel enthielt. Schwarz:
das Mädchen wurde gepeitscht, weiß: nicht. Anne-Marie mogelte niemals, auch
dann nicht, wenn das Los ein und dasselbe Mädchen mehrmals hintereinander
verurteilte oder verschonte. So wurde die Folterung der kleinen Yvonne, die schluchzend
nach ihrem Geliebten rief, vier Tage nacheinander wiederholt. Ihre Schenkel,
die grün geädert waren wie ihre Brüste, spreizten sich über einem rosigen
Fleisch, das der dicke Eisenring, der jetzt festgemacht war, um so
erschreckender durchstach als Yvonne völlig enthaart war. "Aber warum,
wollte O von Yvonne wissen, und warum der Ring, wenn du die Scheibe an deinem
Halsband trägst? - Er sagt, ich bin noch nackter, wenn ich enthaart bin. Der
Ring, ich glaube, an dem will er mich anhängen." Yvonnes grüne Augen und
ihr kleines, dreieckiges Gesicht erinnerten O an Jacqueline. Ob Jacqueline nach
Roissy ging? Dann würde Jacqueline eines Tages hierherkommen, hier sein, auf
dieser Estrade ausgelegt. "Ich will nicht, sagte O, ich will nicht, ich
werde nichts tun, um sie herzubringen. Ich habe ihr schon viel zu viel davon
erzählt. Jacqueline ist nicht dafür geschaffen, geschlagen und gezeichnet zu
werden." Doch wie gut standen die Peitschenspuren und Eisen der kleinen
Yvonne, wie süß war ihr Schweiß und ihr Stöhnen, wie süß war es, sie dahin zu
bringen. Denn Anne-Marie hatte O schon zweimal die geschwänzte Peitsche
gereicht, und jedesmal damit sie Yvonne schlagen sollte. Beim ersten Mal, im
ersten Augenblick hatte sie gezögert, bei Yvonnes [186] erstem Schrei war sie
zurückgewichen, doch dann hatte sie wieder zugeschlagen und Yvonne hatte
wieder, noch lauter, geschrien, und sie war von einer schrecklichen Lust
ergriffen worden, so durchdringend, daß sie wider Willen vor Freude lachte und
sich zurückhalten mußte, um die Schläge nicht zu schnell und nicht aus voller
Kraft zu verabreichen. Danach war sie bei Yvonne geblieben, solange Yvonne
angebunden lag und hatte sie immer wieder geküßt. Zweifellos war sie ihr in
irgendeiner Weise ähnlich. Wenigstens schien Anne-Maries Verhalten das zu
beweisen. War es Os Schweigsamkeit, ihre Gefügigkeit, die sie reizte? Os Wunden
waren kaum vernarbt: "Wie schade", sagte Anne-Marie, "daß ich
dich nicht peitschen lassen kann. Wenn du wiederkommst ... Na, auf jeden Fall
werde ich dich alle Tage ausstellen lassen." Und jeden Tag, wenn das
Mädchen im Musiksaal losgebunden wurde, legte O sich an ihre Stelle bis die
Glocke zum Abendessen läutete. Und Anne-Marie hatte recht: es stimmte, sie
konnte während dieser ganzen zwei Stunden an nichts anderes denken, als an die
Tatsache, daß sie mit gespreizten Beinen hier lag, an den Ring, der ihren Schoß
beschwerte, seit er angebracht worden war und der noch viel schwerer wog, weil
der zweite Ring dazugekommen war. An nichts anderes als an ihr Sklaventum und
an die Male ihres Sklaventums. Eines Tages war Ciaire mit Colette vom Garten
hereingekommen, zu O hingetreten und hatte die Ringe umgedreht. Sie trugen noch
keine Inschrift. "Wann bist du zum ersten Mal in Roissy gewesen, sagte
sie, hat Anne-Marie dich hingeschickt? - Nein, sagte O. Mich hat Anne-Marie
hingeschickt, vor zwei Jahren. Übermorgen fahre ich wieder hinaus. - [187] Aber
du gehörst doch niemandem? sagte O. Ciaire gehört mir, sagte Anne-Marie, die
unbemerkt eingetreten war. Dein Gebieter kommt morgen, O. Du wirst heute Nacht
bei mir schlafen." Die kurze Sommernacht erhellte sich langsam und gegen
vier Uhr morgens löschte der Tag die letzten Sterne. O, die mit geschlossenen
Knien schlief, wurde durch Anne-Maries Hand zwischen ihren Schenkeln
aufgeweckt. Aber Anne-Marie wollte nur, daß O sie berühren solle. Ihre Augen
glänzten im Halbdunkel und ihr schwarzes, grau durchwehtes, kurz geschnittenes
und vom Kopfkissen hochgeschobenes Haar, das kaum gelockt war, verliehen ihr
das Aussehen eines Grand Seigneurs im Exil, eines furchtlosen Libertins. O
liebkoste mit ihren Lippen die harte Spitze der Brüste, mit der Hand die
Höhlung des Schoßes. Anne-Marie gab sich sehr schnell ihrer Erregung hin - sie
gab sich nicht O hin. Die Wollust, in der sie die Augen weit dem Licht öffnete,
dem sie zugewandt war, war eine anonyme und unpersönliche Lust, O diente ihr
nur als Werkzeug. Es war Anne-Marie gleichgültig, daß O ihr glattes und
verjüngtes Gesicht bewunderte, den schönen, keuchenden Mund, es war ihr gleichgültig,
daß O sie stöhnen hörte, als sie die Fleischknospe in der Furche des Schoßes
zwischen Zähne und Lippen zog. Sie packte O nur beim Haar, um sie stärker an
sich zu pressen und ließ sie nur los, um ihr zu befehlen: "Weiter." O
hatte auf die gleiche Weise Jacqueline geliebt. Sie hatte sie in völliger
Selbstvergessenheit in den Armen gehalten. Sie hatte Jacqueline besessen,
glaubte sie zumindest. Doch die Identität der Gesten hatte nichts zu bedeuten. O besaß Anne-Marie nicht. Niemand
besaß Anne-Marie. Anne-Marie [188] forderte die Liebkosungen ohne sich darum zu
kümmern, was der Gebende empfand und sie überließ sich ihrer Wollust mit
hochmütiger Unbekümmertheit. Dennoch war sie zärtlich und sanft zu O, küßte
ihren Mund und ihre Brüste und hielt sie noch eine Stunde lang an sich gepreßt,
ehe sie sie wegschickte. Sie hatte ihr die Eisen abgenommen. "Es sind die
letzten Stunden, hatte sie zu ihr gesagt, in denen du zu Bett gehst, ohne Eisen
zu tragen. Denn die Eisen, die dir jetzt gleich angelegt werden, sind nicht
wieder abzunehmen." Ihre Hand hatte zart und lange Os Lenden gestreichelt,
dann hatte sie O in ihr Ankleidezimmer geführt, das einzige Zimmer im ganzen
Haus, wo ein dreiteiliger Spiegel stand, der stets zugeklappt war. Sie hatte
den Spiegel geöffnet, damit O sich sehen konnte. "Jetzt siehst du dich zum
letzten Mal unversehrt", sagte sie. "Hier, wo du so rund und glatt
bist, wird man dir Sir Stephens Initialen einbrennen, zu beiden Seiten der
Furche. Ich werde dich am Abend vor deiner Abreise wieder vor diesen Spiegel
führen und du wirst dich nicht wiedererkennen. Aber Sir Stephen hat recht. Geh
schlafen, O." Doch die Angst hielt O wach und als Monique sie um zehn Uhr
holen kam, mußte sie ihr helfen, sich zu baden, zu frisieren und die Lippen zu
schminken. O zitterte an allen Gliedern; sie hatte die Eingangstür gehen hören:
Sir Stephen war da. "Komm doch, O", sagte Yvonne, "er erwartet
dich."
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, kein Lufthauch bewegte die Blätter der
Buche: sie sah aus wie aus Kupfer. Der hitzemüde Hund lag am Fuß des Baumes und
da die Sonne noch nicht hinter der Hauptmasse der Buche stand, drang sie durch
die Spitze des Astes, der [189] als einziger um diese Stunde einen Schatten auf
den Tisch warf: der Stein war mit hellen und blauen Flecken übersät. Sir
Stephen stand regungslos am Tisch, Anne-Marie saß neben ihm. "So",
sagte Anne-Marie, als Yvonne ihr O zugeführt hatte, "die Ringe können
angebracht werden, wenn Sie es wünschen, sie ist vorbereitet." Ohne zu
antworten zog Sir Stephen O in seine Arme, küßte sie auf den Mund, hob sie dann
hoch und legte sie auf den Tisch, beugte sich lange über sie. Dann küßte er sie
nochmals, streichelte ihr die Brauen und das Haar, richtete sich auf und sagte
zu Anne-Marie: "Jetzt gleich, wenn ich bitten darf." Anne-Marie nahm
die Lederkassette, die sie mitgebracht und auf einen Sessel gestellt hatte, und
reichte Sir Stephen die einzelnen Ringe, die Os Namen und den seinen trugen.
"Los", sagte Sir Stephen. Yvonne hob Os Knie hoch und O spürte das kalte
Metall, das Anne-Marie in ihr Fleisch schob. Beim Einfügen der zweiten Hälfte
des Ringes in die erste achtete Anne-Marie darauf, daß die goldbelegte Seite
dem Schenkel zugedreht war, und die Seite mit der Inschrift nach innen schaute.
Aber die Spannfeder gab nicht soweit nach, daß die Zapfen einrasten konnten.
Dann wurde O aufgerichtet, mit gespreizten Beinen über den Rand der Steinplatte
gelegt, die als Amboß diente, auf dem die Enden der beiden Kettenglieder
nacheinander aufgelegt wurden und jetzt konnte man sie durch Schläge
ineinandertreiben. Sir Stephen sah wortlos zu. Als es geschehen war, bedankte
er sich bei Anne-Marie und half O beim Aufstehen. Jetzt bemerkte sie, daß diese
neuen Eisen viel schwerer waren, als diejenigen, die sie während der vergangenen
Tage versuchsweise getragen hatte. Diese waren endgültig. [190] "Jetzt
Ihre Initialen, nicht wahr?" sagte Anne-Marie zu Sir Stephen. Sir Stephen
nickte schweigend und hielt O, die schwankte, um die Taille fest; sie hatte ihr
schwarzes Mieder abgelegt, aber dieses Mieder hatte sie so schmal gemacht, daß
man den Eindruck hatte, sie würde jeden Augenblick zerbrechen. Ihre Hüften
wirkten dadurch um so runder und ihre Brüste um so schwerer. Im Musiksaal,
wohin Sir Stephen O mehr trug als führte, saßen Colette und Ciaire am Fuß der
Estrade. Sie erhoben sich bei ihrem Eintritt. Auf der Estrade stand ein großer,
runder, einflammiger Kocher. Anne-Marie nahm die Gurte aus dem Wandschrank und
ließ O an eine der Säulen stellen und um Taille und Kniekehlen daran
festbinden. Auch ihre Hände und Füße wurden gefesselt. In blindem Entsetzen
spürte sie auf ihren Lenden Anne-Maries Hände, die anwiesen, wo die Eisen
aufzudrücken seien, hörte das Zischen einer Flamme und in der absoluten Stille
das Schließen eines Fensters. Sie hätte den Kopf wenden können, hinsehen. Sie
hatte nicht die Kraft. Ein einziger, grauenhafter Schmerz durchfuhr sie, ließ
sie sich aufheulend und steif in ihren Fesseln bäumen und sie erfuhr niemals,
wer ihr die beiden rotglühenden Eisen gleichzeitig ins Fleisch gepreßt, wessen
Stimme langsam bis fünf gezählt hatte, noch auf wessen Zeichen hin sie
weggenommen wurden. Als man sie losband, glitt sie in Anne-Maries Arme und eh
alles um sie her sich drehte und schwarz wurde und schließlich jedes Gefühl sie
verließ, sah sie gerade noch zwischen zwei dunklen Wogen Sir Stephens
leichenblasses Gesicht.
Sir Stephen brachte O zehn Tage vor Ende Juli nach [191] Paris zurück. Die
Eisen, die den linken Teil ihres Schoßes durchbohrten und in deutlichen
Buchstaben zeigten, daß sie Sir Stephens Eigentum war, hingen bis zu einem
Drittel ihrer Schenkel herab und bewegten sich bei jedem Schritt wie ein
Glockenschwengel zwischen ihren Beinen, da die gravierte Scheibe schwerer und
länger war, als der Ring, an dem sie hing. Die Brandzeichen waren drei Finger
hoch und halb so breit und wie mit dem Meißel fast einen Zentimeter tief in ihr
Fleisch gegraben. Bei der flüchtigsten Berührung spürte man sie unter den
Fingern. Diese Eisen und diese Zeichen erfüllten O mit unsinnigem Stolz. Wäre
Jacqueline dagewesen, sie hätte sie ihr nicht verborgen wie die Spuren der
Peitschenhiebe, mit denen Sir Stephen sie an den letzten Tagen vor ihrer
Abreise gezeichnet hatte, sondern sofort angezeigt. Aber Jacqueline würde erst
in acht Tagen zurückkommen. René war nicht da. Während dieser acht Tage ließ O
sich auf Sir Stephens Geheiß einige Hochsommerkleider und ein paar sehr leichte
Abendkleider machen. Er erlaubte ihr nur die Abwandlungen von zwei
Grundmodellen, eines mit Reißverschluß von oben bis unten (O besaß bereits zwei
ähnliche Kleider), das andere eine Kombination aus Plisseerock, den man mit
einem Griff hochschlagen konnte, einem bis unter die Brust reichenden Mieder
und einem bis zum Hals geschlossenen Bolerojäckchen. Man brauchte nur das
Bolero auszuziehen und Schultern und Brüste waren nackt, und wenn man das
Bolero nicht auszog, es nur zu öffnen, wenn man die Brüste sehen wollte. Ein
Badeanzug kam nicht in Frage: O konnte keinen tragen: man hätte die Eisen an
ihrem Schoß gesehen. Sir Stephen sagte ihr, daß sie in diesem [192] Sommer
nackt baden werde, wenn überhaupt. Eine lange Strandhose, weiter nichts.
Anne-Marie, von der die Entwürfe zu den Kleidern stammten und die wußte, auf
welche Art Sir Stephen sich Os hauptsächlich bediente, hatte eine Strandhose
vorgeschlagen, die an beiden Seiten mittels langer Reißverschlüsse zu öffnen
und vorn in der Taille so gehalten war, daß man, ohne sie auszuziehen, das
Rückenteil herunterklappen konnte. Doch Sir Stephen lehnte ab. Zwar behandelte er
O, wenn er sich nicht ihres Mundes bediente, beinah ausnahmslos wie einen
Knaben. Aber O wußte, daß er jederzeit, solange sie in seiner Nähe war, auch
dann, wenn er sie nicht begehrte, gewissermaßen automatisch nach ihrem Schoß
greifen wollte, mit der ganzen Hand in das Vlies fassen und daran ziehen, sie
öffnen und seine Hand lange in sie versenken. Die Lust, die O selbst empfand,
wenn sie Jacqueline so feucht und glühend sich um ihre Hand schließen fühlte,
war ihr Garant und Zeuge für Sir Stephens Lust. Sie verstand, daß er sich
diesen Zugang nicht erschweren lassen wollte.
Mit den gestreiften oder gepunkteten Baumwollstoffen - grau und weiß,
marineblau und weiß -, die O wählte, in den Plisseeröcken und kleinen, knappen
und hochgeschlossenen Boleros oder den strengeren Kleidern aus schwarzem
Nyloncloque, kaum geschminkt, ohne Hut und mit losem Haar sah sie wie ein
artiges junges Mädchen aus. Wo immer Sir Stephen sie hinführte, hielt man sie
für seine Tochter, oder für seine Nichte, um so mehr, als er jetzt
"du" zu ihr sagte und sie zu ihm weiterhin Sie. Wenn sie beide allein
durch Paris spazierten, Läden anschauten, oder die Kais [193]
entlangschlenderten, wo das Pflaster von der langen Trockenheit staubig waren,
sahen sie ohne Erstaunen, wie die Passanten ihnen zulächelten, wie man
glücklichen Menschen zulächelt. Es kam vor, daß Sir Stephen sie in die Nische
einer Einfahrt oder unter den Torbogen eines Wohnhauses drängte, wo es immer
ein bißchen dunkel ist und ein leichter Kellergeruch aufsteigt, und sie küßte
und ihr sagte, daß er sie liebe. O hakte ihre hohen Absätze in die Schwelle der
Einfahrt, wo die kleine Durchlaßtür eingepaßt ist. Man sah in einen Hinterhof,
wo Wäsche vor den Fenstern trocknete. Über einen Balkon lehnte ein blondes
Mädchen und betrachtete sie mit Ausdauer, eine Katze strich zwischen ihren
Beinen hindurch. Sie gingen auch zur Avenue des Gobelins, nach Saint-Marcel, in
die Rue Mouffetard, das Temple-Viertel, zur Place de la Bastille. Einmal führte
Sir Stephen plötzlich O in ein elendes Stundenhotel, dessen Pächter sie zuerst
Meldezettel ausfüllen lassen wollte, dann sagte, es sei nicht der Mühe wert,
wenn es nur für eine Stunde wäre. Die Tapete im Zimmer war blau mit riesigen
goldenen Pfingstrosen, das Fenster ging auf einen Lichtschacht, aus dem der
Geruch der Abfalltonnen stieg. Trotz der schwachen Birne über dem Bett sah man,
daß auf dem Kaminsims Puder verstreut war und Haarnadeln herumlagen. Am Plafond
über dem Bett war ein großer Spiegel.
Ein einziges Mal lud Sir Stephen zusammen mit O zwei seiner durchreisenden
Landsleute zum Mittagessen ein. Er holte sie eine Stunde eh sie fertig war in
ihrer Wohnung am Quai de Béthume ab, anstatt sie zu sich zu bestellen. O war
gebadet, aber nicht frisiert, nicht zurechtgemacht, nicht angekleidet. Sie
bemerkte [194] überrascht, daß Sir Stephen einen Golfsack in der Hand trug.
Aber ihr Erstaunen legte sich schnell: Sir Stephen befahl ihr, den Sack zu
öffnen. Er enthielt mehrere Reitstöcke aus Leder, zwei dickere aus rotem, zwei
sehr dünne und lange aus schwarzem Leder, eine Riemenpeitsche mit langen grünen
Lederschnüren von denen jede am Ende umgebogen war und einen Ring bildete, eine
weitere Peitsche mit Knotenschnüren, eine Hundepeitsche aus einem dicken
Lederriemen bestehend, der Griff aus Leder geflochten, schließlich
Lederarmbänder wie die von Roissy und Schnüre. O legte Stück für Stück
nebeneinander auf das aufgeschlagene Bett. Sie war daran gewöhnt, sie war
gefaßt, dennoch zitterte sie; Sir Stephen nahm sie in die Arme. "Was ist
dir am liebsten, O?" fragte er sie. Aber sie konnte kaum sprechen und
spürte, wie ihr bereits der Schweiß aus den Achselhöhlen lief. "Was ist
dir am liebsten? wiederholte er. Gut, sagte er, als sie schwieg, zunächst wirst
du mir helfen." Er verlangte Nägel und nachdem er einen passenden Platz
gefunden hatte, wo die gekreuzten Peitschen und Reitstöcke als eine Art
Wandschmuck angebracht werden konnten, zeigte er O, daß die Stelle rechts von
ihrem Stehspiegel und dem Bett gegenüber, eine Holzverkleidung zwischen Spiegel
und Kamin, sich am besten dafür eignete. Er schlug die Nägel ein. Die Peitschen
und Reitstöcke hatten an den Enden Ringe, die man in die Bildernägel einhaken
konnte, sie waren so leicht einzeln abzunehmen und wieder aufzuhängen; zusammen
mit den Armbändern und den Schnüren hatte O also ihrem Bett gegenüber das
vollständige Sortiment ihrer Folterwerkzeuge. Ein hübsches Ensemble, so wohl
abgestimmt wie das Rad und [195] die Zangen auf den Abbildungen der heiligen
Märtyrerin Katharina, wie Hammer und Nägel, Dornenkrone, Lanze und Geißeln auf
den Darstellungen des Kreuzwegs. Wenn Jacqueline zurückkommen würde ... aber es
handelte sich ja gerade um Jacqueline. O mußte Sir Stephens Frage beantworten:
sie konnte nicht, er selbst wählte die Hundepeitsche aus.
Bei La Pérouse, in einem winzigen Séparé im zweiten Stock, wo Watteau-Figuren,
die aussahen wie Akteure eines Puppentheaters in hellen, leicht verblaßten
Farben die dunklen Wände schmückten, mußte O sich allein aufs Sofa setzen. Sir
Stephens Freunde saßen rechts und links von ihr auf Sesseln, Sir Stephen ihr
gegenüber. Einen der Männer hatte sie bereits in Roissy gesehen, aber sie
erinnerte sich nicht, ihm gehört zu haben. Der andere, ein großer junger Mann
mit rotem Haar und grauen Augen, war bestimmt noch nicht fünfundzwanzig. Sir
Stephen erklärte ihnen kurz, warum er O eingeladen habe und was sie war. O
wunderte sich wieder einmal über die Brutalität seiner Sprache. Aber, wie
sollte er sie bezeichnen, wenn nicht als Hure, eine Frau, die sich bereitfand,
vor drei Männern - ganz zu schweigen von den bedienenden Kellnern, die ständig
aus und ein gingen - ihr Mieder zu öffnen um ihre Brüste zu zeigen, deren
Spitzen geschminkt waren, und die zwei violette Streifen quer über die weiße
Haut trugen, Spuren einer Auspeitschung mit dem Reitstock? Die Mahlzeit zog
sich hin und die Engländer tranken viel. Beim Kaffee, die Liköre waren soeben
gebracht worden, schob Sir Stephen den Tisch an die andere Wand zurück und
nachdem er Os Rock hochgeschlagen hatte, damit seine Freunde Os Brandmale und
Eisen sehen konnten, [195] überließ er sie ihnen. Der Mann, den sie in Roissy
gesehen hatte, war schnell mit ihr fertig, er verlangte sofort, ohne von seinem
Sessel aufzustehen oder sie auch nur mit einem Finger zu berühren, daß sie sich
vor ihm hinkniee, sein Geschlecht in den Mund nehme, bis er sich in sie
ergießen konnte. Worauf er seine Kleider von ihr wieder ordnen ließ und
wegging. Aber der rothaarige junge Mann, den Os Gehorsam, ihre Eisen und die
Peitschenmale an ihrem Körper um seine Fassung gebracht hatten, warf sich nicht
auf sie, wie O es erwartet hatte, sondern nahm sie bei der Hand und ging mit
ihr die Treppe hinunter, ohne auf das spöttische Grinsen der Kellner zu achten,
ließ ein Taxi rufen und führte sie in sein Hotelzimmer. Er ließ sie erst bei
sinkender Nacht wieder gehen, nachdem er wie ein Rasender ihren Schoß und ihre
Lenden bearbeitet hatte, die er verletzte, so steif und mächtig war er, so
entfesselt durch das ungewohnte und erstmalig eingeräumte Recht, beide Wege benützen
zu dürfen, sich ihres Mundes so zu bedienen, wie er soeben gesehen hatte, daß
man es von ihr verlangen dürfe (was er noch niemals zu fordern gewagt hatte).
Als O am nächsten Tag um zwei Uhr zu Sir Stephen kam, der sie hatte rufen
lassen, fand sie ihn mit ernster Miene und gealtert vor. "Eric hat sich
sinnlos in dich verliebt, O", sagte er. "Er hat mich heute Morgen
beschworen, dir die Freiheit zurückzugeben, er hat gesagt, er wolle dich
heiraten. Er will dich retten. Du weißt ja, was ich aus dir mache, wenn du mir
gehörst, O, und wenn du mir gehörst, dann kannst du mir nichts verweigern, aber
noch kannst du, und das weißt du auch, dich weigern, mir zu gehören. Ich habe
es ihm gesagt. Er kommt um drei Uhr wieder. O lachte. Ist es [197] nicht ein
bißchen spät?" sagte sie. "Ihr seid alle beide verrückt. Wenn Eric
heute Morgen nicht gekommen wäre, was hätten Sie dann heute Nachmittag mit mir
gemacht? Spazierengegangen, weiter nichts? Schön, dann gehen wir spazieren;
oder vielleicht hätten Sie mich gar nicht rufen lassen? Schön, dann gehe ich
wieder ... - Nein, erwiderte Sir Stephen, ich hätte dich gerufen, O, aber
nicht, um mit dir spazierenzugehen. Ich wollte ... - Sagen Sie es. - Komm, so
geht es leichter." Er stand auf und öffnete die Tür in der Wand gegenüber
dem Kamin, das Pendant zu der Tür, durch die man in sein Arbeitszimmer kam. O
hatte immer geglaubt, es sei die Tür zu einem nicht benutzten Wandschrank. Sie
sah ein winziges Boudoir, frisch getüncht und mit tiefroter Seide
ausgeschlagen, der halbe Raum wurde von einer gerundeten Estrade mit zwei
Säulen eingenommen, wie die Estrade des Musikzimmers in Samois. "Wände und
Plafond sind mit Kork belegt, nicht wahr, sagte O, und die Tür ist gepolstert
und Sie haben ein Doppelfenster einsetzen lassen? Sir Stephen nickte. Aber seit
wann? sagte O. - Seit deiner Rückkehr. - Und warum ...? - Warum ich bis heute
gewartet habe. Weil ich gewartet habe, bis du durch andere Hände als die meinen
gegangen bist. Dafür werde ich dich jetzt bestrafen. Ich habe dich noch niemals
bestraft, O. - Aber ich gehöre Ihnen, sagte O, bestrafen Sie mich. Wenn Eric
wiederkommt ..."
Eine Stunde später wurde der junge Mann vor O geführt, die zwischen den beiden
Säulen grotesk ausgespreizt lag.
Er erbleichte, stammelte etwas und verschwand. O glaubte, ihn niemals
wiederzusehen. Sie traf ihn [198] Ende September in Roissy, wo er sie sich drei
Tage nacheinander ausliefern ließ und sie barbarisch mißhandelte. [199]
IV DAS KÄUZCHEN
O begriff nicht mehr, daß sie jemals Bedenken haben konnte, Jacqueline von dem
zu sprechen, was René zu recht ihre wahre Situation nannte. Anne-Marie hatte
ihr wohl gesagt, sie werde verändert sein, wenn sie ihr Haus verlasse. Aber nie
hätte sie geglaubt, daß sie so völlig anders sein könnte. Es erschien ihr nur
natürlich, sich vor der noch strahlender, noch frischer zurückgekehrten
Jacqueline nicht mehr wie früher zu verstecken, wenn sie badete oder sich
anzog. Doch Jacqueline schenkte allem, was nicht sie selbst betraf, so wenig
Interesse, daß sie auch weiterhin nichts bemerkt hätte, wäre sie nicht am
zweiten Tag nach ihrer Rückkehr zufällig genau in dem Augenblick ins Badezimmer
gegangen, als O aus dem Wasser und über den Rand der Badewanne stieg und die
Eisenringe an ihrem Schoß gegen das Emaille klirrten. Dieses ungewohnte
Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte den Kopf und sah gleichzeitig
die Scheibe, die zwischen Os Beinen baumelte und die Querstreifen, die sich
über Schenkel und Brüste zogen. "Was hast du denn da? sagte sie. Das war
Sir Stephen, erwiderte O, und wie etwas ganz Selbstverständliches fügte sie
hinzu: "René hat mich ihm geschenkt und er hat mir eine Plaquette mit
seinem Namen anschmieden lassen. Schau her." Und während sie sich mit dem
Bademantel abtrocknete, trat sie so nah vor Jacqueline hin, die sich vor
Staunen auf [200] den lackierten Hocker gesetzt hatte, daß Jacqueline die
Scheibe in die Hand nehmen und die Inschrift lesen konnte; dann ließ sie den
Bademantel herabgleiten, drehte sich um und deutete mit der Hand auf das S und das
H, das ihre Lenden höhlte, und sagte: "Er hat mich auch mit seinen
Initialen zeichnen lassen. Das übrige, das kommt von der Reitpeitsche.
Gewöhnlich peitscht er mich selbst, aber manchmal läßt er mich auch von seiner
schwarzen Dienerin auspeitschen." Jacqueline starrte O an, ohne ein Wort
herauszubringen. O lachte, dann wollte sie Jacqueline umarmen. Jacqueline stieß
sie entsetzt von sich und floh ins Schlafzimmer. O trocknete sich in aller Ruhe
vollends ab, parfümierte sich, bürstete ihr Haar. Sie zog das Taillenmieder an,
die Strümpfe, die Pantöffelchen und als sie nun durch die Tür trat, begegnete
sie im Spiegel dem Blick Jacquelines, die sich geistesabwesend vor dem Spiegel
kämmte. "Schnüre mir das Korsett, sagte sie. Du tust so überrascht. René
ist in dich verliebt, hat er dir denn nichts gesagt? - Ich verstehe
nicht", sagte Jacqueline. Und sie platzte sogleich mit dem heraus, was sie
am meisten erstaunte: "Man könnte meinen, du wärst stolz darauf, ich
verstehe das nicht. - Wenn René dich nach Roissy bringt, wirst du es verstehen.
Hast du denn schon mit ihm geschlafen?" Eine Blutwelle überströmte das
Gesicht Jacquelines, sie schüttelte den Kopf, aber so wenig überzeugend, daß O
laut lachen mußte. "Du lügst, mein Herzchen, du bist dumm. Es ist dein
gutes Recht, mit ihm zu schlafen. Und das ist kein Grund, mich zurückzuweisen.
Komm mit mir ins Bett, dann werde ich dir die Geschichte von Roissy
erzählen." Fürchtete Jacqueline eine stürmische Eifersuchtsszene, gab sie
aus [201] Erleichterung oder aus Neugier nach, weil sie von O Erklärungen hören
wollte oder einfach weil sie die Geduld, die Bedächtigkeit, die Leidenschaft
liebte, mit der O sie liebkoste? Sie gab nach. "Erzähle, sagte sie danach
zu O. Ja, sagte O. Aber zuerst mußt du mir die Brüste küssen. Es ist Zeit, daß
du dich daran gewöhnst, wenn du René von irgendeinem Nutzen sein willst."
Jacqueline gehorchte, und so gut, daß sie O zum Stöhnen brachte.
"Erzähle", sagte sie noch einmal.
Os Erzählung erschien Jacqueline trotz aller Genauigkeit und Klarheit, trotz
des greifbaren Beweises, den O selbst darstellte, einfach phantastisch.
"Im September gehst du wieder hin? sagte sie. - Wenn wir aus dem Süden
zurückkommen, sagte O. Ich werde dich mitnehmen, oder René nimmt dich mit. -
Anschauen möchte ich es mir schon einmal, sagte Jacqueline, aber nur anschauen.
- Natürlich, das läßt sich machen", sagte O, die vom Gegenteil überzeugt
war, sich jedoch sagte, daß Sir Stephen ihr Dank wissen würde, wenn sie, O,
Jacqueline dazu bringen könnte, die Schwelle von Roissy zu überschreiten - und
danach würden die Diener, die Ketten und Peitschen da sein, um Jacqueline das
Gehorchen zu lehren. Sir Stephen hatte in der Nähe von Cannes eine Villa
gemietet, wo sie den August verbringen sollte zusammen mit René, Jacqueline und
deren kleiner Schwester, die Jacqueline gebeten hatte, mitbringen zu dürfen -
nicht, weil sie die Kleine gern hatte, sondern weil ihre Mutter ihr dauernd in
den Ohren lag, sie solle O um Erlaubnis bitten - und sie wußte bereits, daß ihr
Schlafzimmer, wo Jacqueline wohl zumindest die Siesta mit ihr verbringen würde,
wenn René nicht da war, von Sir Stephens Zimmer durch eine nur [202] scheinbar
solide Wand getrennt war, hinter deren Trompe-l'oeil-Dekorierung, einem
durchbrochenen Lattenwerk, man nur einen Rollvorhang zu heben brauchte, um
alles, was im Zimmer vorging so genau zu sehen und zu hören, als stünde man
direkt vor dem Bett. Jacqueline würde Sir Stephens Blicken ausgeliefert sein,
wenn O mit ihr im Bett lag, und sie würde es zu spät erfahren, um sich dagegen
wehren zu können. O tat der Gedanke wohl, daß sie Jacqueline durch Verrat
ausliefern würde, denn es kränkte sie, daß Jacqueline ihren Stand einer
gebrandmarkten und gepeitschten Sklavin verachtete, auf den sie so stolz war.
O war noch nie im Süden gewesen. Der stetig blaue Himmel, das Meer, das sich
kaum bewegte, die regungslosen Pinien unter der hohen Sonne, alles erschien ihr
leblos und feindlich. "Keine richtigen Bäume", sagte sie traurig vor
den duftenden Gehölzen voller Maulbeerbäumen und Zimtrosen, wo alle Steine,
alle Moose, sich lauwarm anfühlten. "Das Meer riecht nicht nach
Meer", sagte sie auch. Sie warf ihm vor, nichts als ein paar häßliche,
vergilbte Algen an den Strand zu spülen, die wie Mist aussahen, zu blau zu
sein, das Ufer stets an der gleichen Stelle zu belecken. Aber im Garten der
Villa, eines umgebauten ehemaligen Gehöfts, war man weit vom Meer. Rechts und
links schützten hohe Mauern vor den Nachbarn; der Dienertrakt ging auf der
anderen Seite zur Einfahrt und die Gartenseite, wo Os Zimmer im ersten Stock
direkt auf die Terrasse führte, lag nach Osten. Die Wipfel der hohen, dunklen
Lorbeerbäume reichten bis an die Hohlziegel, die die Einfassung der Terrasse
bildeten; eine [203] Schilfwand hielt die Sonne im Süden ab, der Boden war mit
den gleichen roten Fliesen belegt, wie das Zimmer. Mit Ausnahme der Wand
zwischen Os Zimmer und dem Sir Stephens - es war die Rückwand eines großen
Alkovens, der vom übrigen Raum durch einen Mauerbogen und eine Art Barriere
getrennt war, ähnlich einem Treppengeländer, mit gedrechselten Holzsprossen -
waren alle Wände weiß gekalkt. Die dicken Teppiche auf den Fliesen waren aus
weißer Baumwolle, die Vorhänge aus gelb und weißem Leinen. Es gab zwei Sessel,
mit dem gleichen Leinen bezogen und blaue, dreifach zusammengelegte
Faltmatratzen. Das Mobiliar bestand nur aus einer sehr schönen, bauchigen
Nußbaum-Kommode im Régence-Stil und einem sehr langen, schmalen Bauerntisch aus
hellem Holz, der spiegelblank gescheuert war. O hängte ihre Kleider in einen
Garderobenschrank. Die Kommodenplatte diente ihr als Frisiertisch. Die kleine
Natalie war im Nebenzimmer untergebracht und morgens, wenn sie wußte, daß O auf
der Terrasse ihr Sonnenbad nahm, kam sie zu ihr und legte sich neben sie. Sie
war ein sehr weißes kleines Ding, rundlich und doch zart, ihre Augen waren
schräg geschnitten, wie die ihrer Schwester, aber schwarz und glänzend, wodurch
sie wie eine Chinesin aussah. Ihr schwarzes Haar lag in dichten Fransen über
den Brauen und war im Nacken gerade geschnitten. Sie hatte kleine, bebende
Brüste und kindliche, kaum gerundete Hüften. Auch sie hatte O durch Zufall
gesehen, als sie auf die Terrasse hinausgelaufen war, wo sie ihre Schwester
vermutete und wo O allein bäuchlings auf einer Faltmatratze lag. Doch was Jacqueline
abgestoßen hatte, machte sie vor Verlangen und Neid fast verrückt; [204] sie
befragte ihre Schwester. Die Antworten, mit denen Jacqueline auch ihr Ekel
einflößen wollte - sie erzählte der Kleinen, was O ihr selbst erzählt hatte -
änderten nichts an Natalies Erregung, im Gegenteil. Sie hatte sich in O
verliebt. Es gelang ihr, dieses Geheimnis über eine Woche lang für sich zu
behalten, dann richtete sie es am Spätnachmittag eines Sonntags so ein, daß sie
mit O allein war.
Es war weniger heiß gewesen als sonst. René, der am Vormittag lang geschwommen
war, schlief auf dem Sofa eines kühlen Zimmers im Erdgeschoß. Jacqueline, die
es kränkte, daß er lieber schlafen wollte, hatte O in ihrem Alkoven aufgesucht.
Meer und Sonne hatten sie bereits tief gebräunt: Haar, Brauen, Wimpern, das
Vlies ihres Schoßes, die Achselhöhlen schienen silbrig überpudert zu sein und
da sie nicht geschminkt war, hatte ihr Mund das gleiche Rosa wie die Muschel
ihres Schoßes. Damit Sir Stephen - dessen unsichtbare Gegenwart sie, so sagte
sich O, an Jacquelines Stelle geahnt, gefühlt, erraten hätte - sie in allen
Einzelheiten sehen konnte, hatte O ihr absichtlich mehrmals die Beine
hochgeschlagen und sie bei voller Beleuchtung auseinandergehalten: sie hatte
die Nachttischlampe angezündet. Die Jalousien waren heruntergelassen, das
Zimmer war trotz der Lichtstrahlen, die durch die schlecht gefügten Latten
drangen, fast dunkel. Jacqueline stöhnte fast eine Stunde lang unter Os
Liebkosungen und begann schließlich laut zu schreien, wobei sie mit starren
Brüsten und nach hinten gereckten Armen die beiden Hände um die Holzstangen
krampfte, die das Kopfteil des italienischen Bettes bildeten, während O die von
blassem Haar gesäumten Hügel auseinanderzog und die [205] Zahne langsam in die
Fleischkuppe preßte, wo sich zwischen den Schenkeln die zarten und weichen
kleinen Lippen trafen. O fühlte, wie sie unter ihrer Zunge brannte und steif
wurde und ließ sie ohne Unterlaß schreien, bis sie sich mit einem Schlag
entspannte, wie eine zerbrochene Feder, feucht vor Lust. Später ging Jacqueline
wieder in ihr Zimmer zurück, wo sie sich schlafen legte; sie war wach und
ausgehfertig, als René sie um fünf Uhr zu einer Bootsfahrt mit Natalie abholen
wollte, einer Fahrt in einem kleinen Segelboot, das sie oft benutzten; am
Spätnachmittag erhob sich eine leichte Brise. "Wo ist Natalie?" sagte
René. Natalie war nicht in ihrem Zimmer, sie war nicht im Haus. René rief im
Garten nach ihr. Er ging bis zu dem kleinen Korkeichen-Wäldchen, das sich an
den Garten anschloß, niemand antwortete ihm. "Vielleicht ist sie schon in
der Bucht", sagte René, "oder im Boot." Sie gingen, ohne weiter
zu rufen. In diesem Augenblick sah O, die auf der Terrasse auf der Faltmatratze
lag, Natalie aufs Haus zulaufen. Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an - sie
war nackt gewesen, weil es so heiß war - und band gerade den Gürtel, als
Natalie wie eine Furie hereinstürmte und sich auf sie warf. "Sie ist fort,
endlich ist sie fort", rief sie. "Ich habe sie gehört, O, ich habe
euch beide gehört, ich habe an der Tür gehorcht. Du küßt sie, du streichelst
sie. Warum streichelst du nicht mich, warum küßt du mich nicht? Weil ich
schwarz bin, weil ich nicht hübsch bin? Sie liebt dich nicht, O, aber ich, ich
liebe dich." Und sie brach in Schluchzen aus. "Na schön", sagte
sich O. Sie drückte das kleine Mädchen in einen Sessel, nahm ein großes
Taschentuch aus ihrer Kommode (es war eines von Sir Stephens [206]
Taschentüchern) und als Natalies Schluchzen ein wenig nachgelassen hatte,
trocknete sie ihr das Gesicht, Natalie bat sie um Verzeihung und küßte ihr die
Hände. "Laß mich bei dir sein O, auch wenn du mich nicht küssen willst.
Laß mich immer bei dir sein. Wenn du einen Hund hättest, ließest du ihn auch
immer bei dir sein. Wenn du mich nicht küssen willst, sondern mich lieber
schlagen möchtest, dann kannst du mich schlagen, aber schick mich nicht
weg." - "Schweig, Natalie, du weißt nicht, was du sagst",
flüsterte O ganz leise. Die Kleine ließ sich O zu Füßen sinken, umklammerte
ihre Knie und erwiderte, ebenfalls ganz leise: "Oh doch! Ich weiß es sehr
gut. Ich habe dich neulich morgens auf der Terrasse gesehen. Ich habe die
Buchstaben gesehen und daß du große, blaue Male hast. Und Jacqueline hat mir
gesagt - Hat dir was gesagt? - Wo du gewesen bist, O, und was man mit dir
gemacht hat. - Sie hat dir von Roissy erzählt? - Sie hat mir auch gesagt, du
wärst, du hättest... Ich hätte was? - Du trügst eiserne Ringe, - Ja, sagte O,
was noch? - Daß Sir Stephen dich alle Tage peitscht. - Ja, sagte O wieder, und
er wird jetzt jeden Augenblick kommen. Geh, Natalie." Natalie rührte sich
nicht, sie hob nur den Kopf und O begegnete ihrem bewundernden Blick.
"Nimm mich in die Lehre, O, ich bitte dich, sagte sie, ich möchte sein wie
du. Ich werde alles tun, was du mir sagst. Versprich mir, daß du mich
mitnimmst, wenn du nach Roissy gehst. - Du bist noch zu klein, sagte O. - Nein,
ich bin nicht zu klein, ich bin schon fünfzehn, rief sie wütend, ich bin nicht
mehr zu klein, frag Sir Stephen", wiederholte sie - denn er trat soeben
ein.
Natalie erhielt die Erlaubnis, bei O zu bleiben, und [207] das Versprechen, daß
sie nach Roissy gebracht würde. Aber Sir Stephen verbot O, ihr die kleinste
Liebkosung beizubringen, sie zu küssen, und sei es auch nur auf den Mund, und
sich von ihr küssen zu lassen. Sie sollte nach Roissy kommen, ohne von irgend
jemandes Händen oder Lippen berührt worden zu sein. Dagegen verlangte er, da
sie ohnehin immer bei O bleiben wollte, daß sie ihr auch nicht einen Augenblick
von der Seite weichen solle, daß sie zusehen sollte, wie Os Mund ihre Schwester
oder ihn selbst berührte, wie sie sich ihm hingab, sogar wie sie von ihm
gepeitscht oder von der alten Norah mit Ruten geschlagen wurde. Die Küsse, mit
denen O ihre Schwester bedeckte, Os Mund auf dem Mund ihrer Schwester, ließen
Natalie vor Eifersucht und Neid zittern. Aber sie saß unbeweglich auf dem
Teppich des Alkovens am Fußende des Bettes, wie die kleine Dinarzade am Bett
der Scheherezade, und sah jedesmal zu, wie O, am Holzgeländer festgebunden,
sich unter der Reitpeitsche wand, wie O, auf den Knien liegend, demütig Sir
Stephens mächtiges, aufgerichtetes Glied in ihrem Mund empfing, wie O,
hingestreckt, selbst mit beiden Händen ihre Schenkel auseinanderhielt, um ihm
ihre Lenden zu bieten, und sie empfand dabei nichts als Bewunderung, Ungeduld
und Neid.
Vielleicht hatte O sich in Jacqueline getäuscht, als sie ihr eine Art
gleichmütige Sinnlichkeit zuschrieb, vielleicht glaubte Jacqueline naiverweise,
es könne ihr bei René schaden, wenn sie sich O hingebe, jedenfalls hörte sie
plötzlich damit auf. Gleichzeitig schien es, als halte René, mit dem sie beinah
alle ihre Nächte und alle ihre Tage zubrachte, auf Distanz. Nie benahm sie sich
ihm gegenüber wie eine Verliebte. Sie sah ihn mit kalten [208] Blicken an und
wenn sie ihm zulächelte, so stieg das Lächeln nicht bis zu ihren Augen. Selbst
wenn sie sich bei René ebenso rückhaltlos ihrer Wollust hingab wie bei O, und
das war wohl der Fall, so konnte O sich des Gedankens nicht erwehren, daß diese
Hingabe nicht sehr tief ging. Während man René in ihrer Gegenwart vor Verlangen
vergehen sah, gelähmt von einer Liebe, die ihm fremd gewesen war, einer
ängstlichen Liebe, die stets fürchtete, einseitig zu sein, auf Ablehnung zu
stoßen. Er lebte und schlief im gleichen Haus mit Sir Stephen, im gleichen Haus
mit O, er frühstückte, aß mit Sir Stephen, mit O, ging mit ihnen aus, machte
Spaziergänge, plauderte mit ihnen: er sah sie nicht, er hörte sie nicht. Er
sah, hörte, sprach durch sie hindurch, an ihnen vorbei, und in einem stummen
und erschöpfenden Bemühen, so wie man sich im Traum abmüht, eine abfahrende
Tram zu erreichen, sich an die Brüstung der einstürzenden Brücke zu klammern,
versuchte er unablässig, den Daseinszweck, die Wahrheit Jacquelines zu
ergründen, die irgendwo unter ihrer goldenen Haut existieren mußte, wie der
Mechanismus unter dem Porzellan, der die Puppen schreien läßt. "Da ist er
also", sagte sich O, "jetzt ist er da, der Tag, den ich so sehr
gefürchtet habe, der Tag, an dem ich für René nur noch ein Schatten aus einem
früheren Leben sein würde. Und ich bin nicht einmal traurig, und er tut mir nur
leid, und ich kann ihn tagtäglich sehen, ohne Bitterkeit, ohne Bedauern, und es
kränkt mich nicht, daß er mich nicht mehr begehrt. Dabei ist es erst ein paar
Wochen her, daß ich zu ihm lief und ihn anflehte, mir zu sagen, ich liebe dich.
War das meine ganze Liebe? So oberflächlich, so leicht zu trösten? Nicht einmal
Trost brauche ich: Ich [209] bin glücklich. Brauchte er denn, damit ich mich
von ihm löste und in anderen Armen so leicht zu einer neuen Liebe finde, weiter
nichts zu tun, als mich Sir Stephen zu geben?" Aber was war René denn
neben Sir Stephen? Stricke aus Heu, Seile aus Stroh, Kugeln aus Kork, das waren
Symbole für die Bande, mit denen er sie an sich gefesselt hatte, sonst hätte er
nicht so schnell aufgegeben. Welche Beruhigung dagegen, welche Wonne der
Eisenring, der das Fleisch durchbohrt und für immer lastet, das Brandmal, das
nie mehr erlischt, die Hand eines Gebieters, die einen auf ein Felsenbett streckt,
die Liebe eines Gebieters, der sich mitleidlos zu nehmen weiß, was er liebt.
Und O sagte sich, daß sie letztlich René nur deshalb geliebt habe, um die Liebe
zu lernen und sich um so besser als glückliche Sklavin Sir Stephen hingeben zu
können. Aber wenn sie sah, wie René, der mit ihr so frei umgegangen war - und
sie hatte ihn deswegen geliebt - jetzt wie mit bleiernen Füßen umherging, als
wären seine Beine im Wasser und Schilfwerk eines scheinbar unbeweglichen
Teiches gefangen, den unterirdische Strömungen durchziehen, empfand O wilden
Haß auf Jacqueline. Erriet René das, ließ O es unvorsichtigerweise
durchblicken? Sie beging einen Fehler. Die beiden Mädchen waren eines
Nachmittags allein nach Cannes zum Friseur gefahren und hatten danach auf der
Terrasse von La Réserve Eis gegessen. Jacqueline, in schwarzen Seeräuberhosen
und schwarzem Leinenpullover, war so glatt, so golden, so hart und so klar in
der strahlenden Sonne, daß sie sogar die Kinder ausstach, und so nonchalant, so
verschlossen. Sie sagte O, daß sie mit dem Regisseur verabredet sei, mit dem
sie in Paris gearbeitet hatte, da [210] Außenaufnahmen gemacht werden sollten,
wahrscheinlich in den Bergen hinter Saint-Paul-de-Vence. Der junge Mann war
schon da, energisch und entschlossen. Er brauchte nicht zu sprechen. Daß er in
Jacqueline verliebt war, merkte man auch so. Man brauchte ihn nur anzusehen.
Das war nicht weiter überraschend. Weit überraschender war Jacqueline. Sie lag
in einem Schaukelstuhl, hörte ihm zu, wie er von den Daten sprach, die festgelegt,
Verabredungen, die getroffen werden müßten und von der Schwierigkeit, genügend
Geld aufzutreiben, um den begonnenen Film fertigzustellen. Er duzte Jacqueline,
die nur durch Nicken und Kopf schütteln antwortete und die Augen halb
geschlossen hielt. O saß ihr gegenüber, der junge Mann zwischen ihnen. Sie
konnte mühelos feststellen, daß Jacqueline hinter ihren gesenkten Lidern und im
Schutz der unbeweglichen Wimpern das Verlangen des jungen Mannes belauerte,
beobachtete, wie sie es immer tat und dabei glaubte, daß niemand es bemerke.
Aber das Seltsamste war ihre Verwirrung, ihre Hände hingen kraftlos herunter,
ihr Gesicht war ernst ohne die Spur eines Lächelns, noch nie hatte O sie so vor
René gesehen. Das Lächeln, das O für den Bruchteil einer Sekunde über ihre
Lippen zucken sah, als sie sich vorbeugte, um ihr Glas mit Eiswasser
abzustellen und ihre Blicke sich kreuzten, bewies, daß Jacqueline sich
durchschaut wußte. Sie nahm es gelassen hin, O dagegen errötete. "Ist dir
zu heiß?" sagte Jacqueline. "Wir gehen in fünf Minuten. Im übrigen
steht es dir sehr gut." Dann lächelte sie wieder, und sah dabei mit so
zärtlicher Hingabe ihren Tischnachbarn an, daß man glaubte, er müsse einfach
aufspringen und sie küssen. Aber nein. Er war zu jung um zu wissen, [211]
wieviel Schamlosigkeit sich in Ruhe und Schweigen ausdrücken kann. Er ließ
Jacqueline aufstehen, ihm die Hand reichen und sich verabschieden. Sie würde
ihn anrufen. Dann verabschiedete er sich von dem Schatten der O für ihn war,
und blieb auf dem Trottoir stehen, bis der schwarze Buick auf der Straße
zwischen den sonnendurchglühten Häusern und dem viel zu blauen Meer
davongeglitten war. Die Palmen wirkten wie aus Blech gestanzt, die
Spaziergänger wie halb geschmolzene Wachspuppen, die ein absurder Mechanismus
in Bewegung hält. "Gefällt er dir so gut?" sagte O zu Jacqueline, als
der Wagen aus der Stadt fuhr und in die obere Corniche einbog. "Geht dich
das etwas an?" erwiderte Jacqueline. "Es geht René an, erwiderte O.
Was René sonst noch angeht und Sir Stephen, außerdem ein paar andere Männer,
wenn ich recht verstanden habe, fuhr Jacqueline fort, ist die Tatsache, daß du
nicht richtig dasitzt. Du wirst dein Kleid verknittern." O rührte sich
nicht. "Und ich habe geglaubt, sagte Jacqueline weiter, daß du auch niemals
die Beine überschlagen darfst?" Aber O hörte nicht mehr zu. Was bedeuteten
ihr Jacquelines Drohungen? Bildete Jacqueline sich ein, ihre Drohung, dieses
kleine Vergehen zu verraten, könnte O daran hindern, sie bei René
anzuschwärzen? Nicht, daß O keine Lust dazu gehabt hätte. Doch René würde den
Gedanken nicht ertragen, daß Jacqueline ihn belog und daß sie frei über sich
selbst verfügen wollte. Wie konnte sie Jacqueline beibringen, daß sie nur
deshalb schweigen würde, damit sie nicht sehen müßte, wie René das Gesicht
verlor, erbleichte um einer anderen willen, und vielleicht schwach genug war,
sie nicht zu bestrafen? Und auch und vor allem, weil sie fürchtete, daß Renés
[212] Zorn sich gegen sie selbst richten könne, die Unglücksbotin, die
Verräterin. Wie konnte sie Jacqueline sagen, daß sie schweigen werde, ohne daß
es nach einem Handel aussehen würde, gibst du mir, so geb' ich dir? Denn
Jacqueline glaubte, O habe schreckliche Angst, eine Angst, die sie zu Eis
erstarren ließ, vor dem, was ihr widerfahren würde, wenn Jacqueline sprechen
sollte. Als sie im Hof des alten Hauses aus dem Wagen stiegen, hatten sie noch
immer kein Wort miteinander gesprochen. Jacqueline pflückte, ohne O anzusehen,
einen weißen Geranienstengel von der Rabatte vor dem Haus. O ging so dicht
hinter ihr, daß sie den zarten und kräftigen Duft des Blattes roch, das
Jacqueline zwischen den Händen zerrieb. Glaubte sie, damit den Geruch ihres
eigenen Schweißes verdecken zu können, der das Gewebe ihres Pullovers unter den
Achseln kleben und noch schwärzer erscheinen ließ? In der großen rotgefliesten
und weißgekalkten Halle war René allein. "Ihr kommt spät, sagte er, als
sie eintraten. Sir Stephen erwartet dich nebenan, fuhr er zu O gewandt fort, er
braucht dich, er ist sehr ärgerlich." Jacqueline lachte laut und O schaute
sie an und errötete. "Ihr hättet euch eine andere Zeit aussuchen
können", sagte René, der Jacquelines Lachen und Os Verwirrung falsch
auslegte. "Nein, nicht das, sagte Jacqueline, aber du weißt nicht, René,
daß eure schöne Folgsame gar nicht so folgsam ist, wenn ihr nicht dabei seid.
Schau ihr Kleid an, wie es verknittert ist." O stand mitten im Zimmer, vor
René. Er sagte, sie sollte sich umdrehen, sie konnte sich nicht bewegen.
"Und sie schlägt die Beine über, fuhr Jacqueline fort, aber das könnt ihr
natürlich nicht feststellen. Auch nicht, daß sie sich junge Männer anlacht.
[213] - Das ist nicht wahr", schrie O, "das tust nur du!" und
sie stürzte sich auf Jacqueline. René hielt sie fest, als wollte sie Jacqueline
schlagen und sie wehrte sich in seinen Händen nur um des Vergnügens willen,
sich als die Schwächere zu fühlen, ihm ausgeliefert. Als sie den Kopf hob, sah
sie Sir Stephen unter der Tür stehen. Jacqueline hatte sich aufs Sofa geworfen,
ihr kleines Gesicht war hart vor Furcht und vor Wut und O fühlte, daß René,
obgleich er alle Hände voll zu tun hatte, sie festzuhalten, nur Jacqueline
ansah. Sie gab ihren Widerstand auf und wiederholte nur, voll Verzweiflung
darüber, in Sir Stephens Gegenwart angeklagt zu werden, diesmal mit leiser
Stimme: "Es ist nicht wahr, ich schwöre, daß es nicht wahr ist."
Wortlos und ohne Jacqueline eines Blickes zu würdigen bedeutete Sir Stephen
René, O loszulassen, und O, hinauszugehen. Doch kaum war sie draußen, als sie
an die Wand gepreßt wurde, an Schoß und Brüsten gepackt, ihr Mund von Sir
Stephens Zunge geöffnet, bis sie vor Glück und Erleichterung stöhnte. Die
Spitzen ihrer Brüste wurden steif unter Sir Stephens Hand. Mit der anderen Hand
griff er so brutal in ihren Schoß, daß sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Würde
sie jemals wagen, ihm zu gestehen, daß keine Wollust, keine Freude, keine
Vorstellung dem Glück nahe kam, das ihr die Freiheit gab, mit der er über sie
verfügte, der Gedanke, daß er wußte, daß er ihr gegenüber keine Schonung zu
üben brauchte, keine Grenzen einzuhalten, wenn er an ihrem Körper seine Lust
suchte. Die Gewißheit, daß er sie nur berührte, um sie zu liebkosen oder zu
schlagen, ihr etwas nur befahl, weil er danach Verlangen trug, die Gewißheit,
daß er nur sein eigenes Begehren stillen wollte, machte O so [214]
überglücklich, daß sich schon beim bloßen Gedanken daran, ein Flammenkleid, ein
brennender Harnisch, der ihr von den Schultern bis zu den Knien reichte, über
sie senkte. So wie jetzt, als sie mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte,
flüsterte "ich liebe Sie", wenn ihr Atem nicht aussetzte und Sir
Stephens Hände an ihr auf und abwanderten und das Feuer noch mehr entflammten,
obgleich sie kühl waren wie Quellwasser. Er ließ behutsam von ihr ab, strich
den Rock wieder über die feuchten Schenkel, schloß das Bolerojäckchen über den
starren Brüsten. "Komm, O", sagte er, "ich brauche dich."
Jetzt schlug O die Augen auf und sah plötzlich, daß noch jemand da war. Der
große, nackte und weißgekalkte Raum, der dem vorhergehenden glich, hatte
ebenfalls eine große Tür auf der Gartenseite, und auf der Terrasse, die vor dem
Garten lag, saß, Zigarette im Mund, in einem Korbstuhl, eine Art kahlköpfiger
Riese, dessen gewaltiger Bauch das offene Hemd und die Leinenhose spannte, und
schaute O an. Er stand auf und trat zu Sir Stephen, der O vor sich herschob. O
sah jetzt, daß der Mann das Abzeichen von Roissy trug, eine Scheibe, die an
einer Uhrkette baumelte. Dennoch stellte Sir Stephen ihn höflich O vor, nannte
ihn "der Kommandeur" ohne einen Namen anzugeben und zum ersten Mal
seit sie mit Gästen des Schlosses Roissy zusammenkam erlebte sie die
Überraschung, daß jemand (Sir Stephen ausgenommen) ihr die Hand küßte. Sie
blieben alle drei im Zimmer, das Fenster blieb geöffnet; Sir Stephen ging zum
Eckkamin und läutete. O sah auf dem chinesischen Tisch neben dem Sofa die
Whiskyflasche, den Siphon und die Gläser. Er klingelte also nicht nach
Getränken. Zugleich sah sie auf dem Boden [215] neben dem Kamin eine große,
weiße Schachtel. Der Mann aus Roissy hatte sich auf einen Strohsessel gesetzt,
Sir Stephen saß schräg auf der Kante des runden Tisches und ließ ein Bein
baumeln. O, der das Sofa angewiesen wurde, hatte gelehrig ihren Rock
hochgeschlagen und spürte den weichen Baumwollpikee der provenzialischen Decke
an ihren Schenkeln. Norah trat ein. Sir Stephen befahl ihr, O zu entkleiden und
ihre Kleider wegzubringen. O ließ sich ihr Bolero ausziehen, ihr Kleid, das
Stäbchenkorsett, das ihr die Taille einschnürte, die Sandalen. Sobald sie nackt
war, ging Norah hinaus und O, die automatisch in die Gepflogenheiten von Roissy
verfiel und überzeugt war, daß Sir Stephen von ihr nur völligen Gehorsam
erwartete, blieb inmitten des Raumes stehen und hielt den Blick so beharrlich
gesenkt, daß sie mehr erriet als sah, wie Natalie, ganz in schwarz wie ihre
Schwester, stumm und barfuß zur Fenstertür hereinglitt. Zweifellos hatte Sir
Stephen bereits von Natalie gesprochen; er begnügte sich damit, dem Besucher,
der keine Fragen stellte, ihren Namen zu nennen und bat sie, die Gläser zu
füllen. Sobald sie Whisky, Soda und Eis herumgereicht hatte (und in der Stille
wirkte das Klirren der Eiswürfel gegen das Glas wie ein ohrenbetäubender Lärm)
erhob der Kommandeur sich mit dem Glas in der Hand von dem Strohstuhl, auf dem
er während Os Entkleidung gesessen war, und trat zu ihr. O glaubte, daß er mit
der freien Hand ihre Brust oder ihren Schoß berühren werde. Aber er rührte sie
nicht an, betrachtete sie nur eingehend, von ihrem geöffneten Mund bis zu den
offenen Knien. Er ging um sie herum, musterte ihre Brüste, ihre Schenkel, ihre
Lenden, und diese schweigende Musterung, die [216] Nähe dieses riesigen Körpers
verwirrten O so sehr, daß sie nicht wußte, ob sie vor ihm fliehen wollte oder
ob sie sich im Gegenteil wünschte, daß er sie zu Boden werfen und erdrücken
würde. Sie war so verwirrt, daß sie die Beherrschung verlor und die Augen
hilfesuchend zu Sir Stephen erhob. Er begriff, lächelte, trat zu ihr, nahm ihre
beiden Hände und hielt sie hinter ihrem Rücken in seiner Hand fest. Sie lehnte
sich mit geschlossenen Augen an ihn und wie in einem Traum oder wie im Dämmer
eines Erschöpfungszustandes hörte sie - so wie sie einmal als Kind kurz nach
dem Erwachen aus einer Narkose die Pflegerinnen, die sie noch bewußtlos glaubten,
über sie hatte sprechen hören, über ihr Haar, ihre blasse Haut, ihren flachen
Bauch, an dem eben der Flaum zu sprossen begann, - die Stimme des Fremden, der
Sir Stephen zu ihr beglückwünschte und besonders auf die Vorzüge ein wenig
schwerer Brüste und einer schmalen Taille hinwies, der Eisen, die dicker,
schwerer und auffallender waren, als üblich. Zugleich wurde ihr klar, daß Sir
Stephen zweifellos versprochen hatte, sie in der kommenden Woche auszuleihen,
weil man ihm dafür dankte. Worauf Sir Stephen sie im Nacken faßte, ihr sanft
gebot, aufzuwachen und zusammen mit Natalie ihn oben in ihrem Zimmer zu
erwarten.
Wie kam es, daß sie so sehr verwirrt war, und daß Natalie, trunken vor Freude
bei dem Gedanken, jemand anders als Sir Stephen würde O öffnen, eine Art
Indianertanz um sie herum aufführte? Sie schrie: "Glaubst du, daß er auch
in deinen Mund will, O? Du hast nicht gesehen, wie er deinen Mund angestarrt
hat. Ah! du Glückliche, alle wollen dich haben. Er wird dich bestimmt
auspeitschen: er hat mindestens dreimal die [217] Striemen geprüft, an denen
man sieht, daß du gepeitscht worden bist. Wenigstens wirst du dann nicht an
Jacqueline denken. - Aber ich denke doch nicht die ganze Zeit an Jacqueline,
erwiderte O, du bist dumm. - Nein! Ich bin nicht dumm, sagte die Kleine, ich
weiß genau, daß sie dir fehlt." Das stimmte, aber nicht ganz. Was O
fehlte, war nicht eigentlich Jacqueline, sondern ganz einfach ein Mädchenkörper
mit dem sie machen konnte, was sie wollte. Wäre Natalie ihr nicht verboten gewesen,
sie hätte Natalie genommen und sie übertrat dieses Verbot nur deshalb nicht,
weil sie sicher war, daß man ihr Natalie in wenigen Wochen in Roissy geben
würde und daß Natalie zum ersten Mal vor ihr, und durch sie und dank ihrer
ausgeliefert würde. Sie brannte darauf, die Mauer aus Luft, aus Raum, aus Leere
niederzureißen, die zwischen Natalie und ihr stand, und zugleich genoß sie die
Erwartung, die ihr auferzwungen war. Sie sagte es Natalie, die den Kopf
schüttelte und ihr nicht glaubte. "Wenn Jacqueline da wäre, sagte sie, und
es sich gefallen ließe, würdest du sie liebkosen. - Natürlich, sagte O und
lachte. Da siehst du ..." fing das Kind wieder an. Wie sollte man, wenn
überhaupt, ihr erklären, daß O keineswegs so sehr in Jacqueline verliebt war,
übrigens auch nicht in Natalie oder in irgend ein Mädchen im besonderen,
sondern einfach in Mädchen ganz allgemein, verliebt wie man in sein eigenes
Bild verliebt sein kann - nur daß sie die anderen immer weit bezaubernder und
weit schöner fand, als sich selbst. Die Lust, die es ihr bereitete, eine Frau
unter ihren Händen keuchen zu hören, zu sehen, wie ihre Augen sich schlossen,
die Spitzen ihrer Brüste sich unter ihren Lippen und ihren Zähnen aufrichteten
- in sie [218] einzudringen, mit ihren Händen in Schoß und Lenden einzudringen
und zu spüren, wie sie sich um ihre Finger schloß und ihr Stöhnen zu hören,
machte O schwindelig - diese Lust war nur deshalb so durchdringend, weil sie O
ständig und zuverlässig bewies, welche Lust sie selbst verschaffte, wenn sie
sich fest und stöhnend um jemand schloß, mit dem Unterschied, daß sie sich
nicht vorstellen konnte, sich einer Frau so hinzugeben, wie diese sich ihr
hingab, sondern nur einem Mann. Außerdem schien es ihr, daß die Mädchen, die
sich ihr hingaben, rechtens das Eigentum des Mannes waren, dem sie selbst
gehörte und daß sie nur als sein Stellvertreter handelte. Wäre Sir Stephen in
den vergangenen Tagen ins Zimmer gekommen, als Jacqueline zur Stunde der Siesta
bei ihr lag, sie hätte ohne das geringste Bedauern, ja mit äußerstem Vergnügen,
Jacquelines Schenkel mit ihren eigenen Händen für ihn auseinandergezwungen,
wenn es ihm gefallen hätte, sie zu nehmen, anstatt sie nur durch die
durchbrochene Zwischenwand zu beobachten, wie er es getan hatte. Man konnte O
auflassen wie einen Jungfalken, sie war ein Raubvogel, der von Natur aus
"abgetragen" und "berichtigt" war und sich auf die Beute
stürzen und sie dem Jäger zutragen würde. Und siehe da ... Als sie jetzt wieder
mit klopfendem Herzen an Jacquelines zarte und rosige Lippen unter dem blonden
Rauchwerk ihres Schoßes dachte, an den noch zarteren und rosigeren Ring
zwischen ihren Lenden, den sie nur dreimal zu durchstoßen gewagt hatte, hörte
sie Sir Stephen in seinem Zimmer. Sie wußte, daß er sie sehen konnte, während
sie selbst ihn nicht sah, und wieder einmal fühlte sie, wie glücklich sie über
diese ständige Gefangenschaft war, in der seine Blicke [219] sie hielten. Die
kleine Natalie saß mitten im Zimmer auf dem weißen Teppich und sah aus wie eine
Fliege in der Milch während O, die vor ihrem improvisierten Frisiertisch, der
bauchigen Kommode stand und sich in dem darüberhängenden alten Spiegel bis zur
Mitte sehen konnte, leicht grünlich und verschwommen wie auf der Oberfläche
eines Teiches, an die Kupferstiche vom Ausgang des vorigen Jahrhunderts
erinnerte, auf denen Frauen abgebildet sind, die im Hochsommer nackt im
Halbdämmer ihrer Gemächer herumgehen. Als Sir Stephen die Tür auf stieß, drehte
sie sich so heftig von der Kommode um, daß die Ringe zwischen ihren Beinen klirrend
an einen der Bronzegriffe schlugen. "Natalie", sagte Sir Stephen,
"hole die weiße Schachtel, die unten im zweiten Zimmer liegt."
Natalie kam zurück, legte den Karton aufs Bett, öffnete ihn und holte den
Inhalt heraus, wickelte Stück für Stück aus der Seidenpapierhülle und reichte
eines nach dem anderen Sir Stephen. Es waren Masken. Kopfputz und Masken
zugleich, sie waren so gearbeitet, daß sie mit Ausnahme von Mund und Kinn, den
ganzen Kopf bedeckten und schmale Schlitze für die Augen freiließen. Sperber,
Falke, Käuzchen, Fuchs, Löwe, Stier, lauter Tiermasken, menschlichen Maßen
angepaßt, aber aus dem Fell oder dem Gefieder der echten Tiere gefertigt, die
Augenhöhlen von Wimpern gesäumt, wenn das betreffende Tier Wimpern hatte (wie
der Löwe). Pelz und Federn reichten dem Träger bis über die Schultern. Man
brauchte nur ein ziemlich breites Band, das unter dieser Art Nackenhaube
verborgen war, festzuziehen und die Maske lag dicht über der Oberlippe (für
jedes Nasenloch war eine Öffnung vorgesehen) und an den Wangen an. [220] Eine
Versteifung aus Pappmache, zwischen dem Überzug und dem Fellfutter hielt das
ganze in der Fasson. Vor dem großen Spiegel, wo sie sich von Kopf bis Fuß sah,
probierte O alle Masken. Die seltsamste Maske, die O am meisten verwandelte und
zugleich am besten zu ihr zu passen schien, stellte ein Käuzchen dar, die
fahlroten und beigen Federn verschmolzen mit ihrer Sonnenbräune; das Federkleid
bedeckte ihre Schultern fast völlig, reichte bis zur Mitte des Rückens und vorn
bis zum Ansatz der Brüste. Sir Stephen gebot ihr, das Lippenrot wegzuwischen,
und als sie die Maske abnahm, sagte er: "Du wirst also beim Kommandeur das
Käuzchen sein. Aber, O, verzeih mir, du wirst an der Kette geführt werden.
Natalie, schau in der ersten Schublade meines Schreibschranks nach, dort wirst
du eine Kette und eine Zange finden." Natalie brachte die Kette und die
Zange, mit der Sir Stephen das letzte Glied der Kette öffnete und in den
zweiten Ring fügte, den O am Schoß trug, es dann wieder zusammendrückte. Die Kette,
die aussah wie eine Hundekette - und auch eine war - war eineinhalb Meter lang
und endete in einem Karabinerhaken. Nachdem O die Maske wieder aufgesetzt
hatte, befahl Sir Stephen Natalie, das Ende der Kette zu nehmen und O im Zimmer
herumzuführen. Natalie machte dreimal die Runde um das Zimmer und zog die
nackte und maskierte O am Schoß hinter sich her. "Ja", sagte Sir
Stephen, "der Kommandeur hat recht gehabt, du mußt auch vollständig
enthaart werden. Das kommt morgen. Heute behältst du deine Kette an."
An diesem Abend saß O zum ersten Mal nackt mit Jacqueline, Natalie, René und
Sir Stephen bei Tisch. Die Kette lief zwischen ihren Beinen hindurch, über die
[221] Lenden nach oben und schlang sich um ihre Taille. Norah bediente allein
und O wich ihrem Blick aus: vor zwei Stunden hatte Sir Stephen sie rufen
lassen.
Die frischen Platzwunden entsetzten das junge Mädchen im Kosmetiksalon, wo O
sich am folgenden Tag epilieren ließ, noch mehr als die Eisen und die
Brandmale. Es nützte nichts, daß O ihr erklärte, diese Enthaarungsmethode, bei
der man das hart gewordene Wachs zusammen mit den Haaren mit einem Griff
abreißt, sei nicht weniger schmerzhaft, als ein Peitschenhieb, daß sie ihr,
wenn sie auch nicht ihre gesamten Lebensumstände darlegte, doch immer wieder
sagte, sogar zu erklären versuchte, wie glücklich sie sei; nichts konnte die
Empörung und das Grauen mildern. Os Beschwichtigungsversuche führten nur dazu,
daß sie danach nicht mehr, wie im ersten Augenblick, mit Mitleid betrachtet
wurde, sondern voll Abscheu. Sie bedankte sich sehr freundlich, als sie fertig
war und die Kabine verließ, in der man sie wie zur Liebe ausgespreizt hatte,
hinterließ ein stattliches Trinkgeld und fühlte dennoch deutlich, daß sie eher
hinausgeworfen als verabschiedet wurde. Was kümmerte es sie! Ihr war es völlig
klar, daß der Kontrast zwischen dem Pelzwerk ihres Schoßes und dem Gefieder der
Maske zu groß war, daß das Aussehen einer ägyptischen Statue, das die Maske ihr
verlieh und das durch die breiten Schultern, schmalen Hüften und langen Beine
noch betont wurde, ein überall gleich glattes Fleisch erforderte. Doch einzig
die Standbilder von Göttinnen wilder Völker zeigten so hoch und deutlich die
Spalte des Schoßes, zwischen deren Lippen der feine Grat noch zarterer Lippen erscheint.
Sah man sie jemals von Ringen durchbohrt? O dachte an das rothaarige, [222]
rundliche Mädchen bei Anne-Marie, die gesagt hatte, daß ihr Gebieter sich ihres
Ringes nur bediene, um sie am Fußende seines Bettes anzuketten und auch, daß
sie stets epiliert sein mußte, weil er sie nur dann völlig nackt fand. O
fürchtete, Sir Stephen zu mißfallen, der sie so gern an ihrem Vlies zog, doch
sie täuschte sich: Sir Stephen fand sie noch erregender, und als sie ihre Maske
wieder aufgesetzt hatte - ihr Mund war ungeschminkt wie die Lippen ihres
Schoßes und so bleich - streichelte er sie beinah schüchtern, wie man ein Tier
streichelt, das man zähmen will. Er hatte nicht gesagt, wohin er sie führen
wollte, auch nicht, wann sie aufbrechen würden oder wen der Kommandeur zu Gast
geladen hatte. Er schlief den ganzen Nachmittag bei ihr und ließ das Abendessen
für sich und O im Schlafzimmer servieren. Sie fuhren eine Stunde vor
Mitternacht im Buick ab, O in einem großen, braunen Lodencape und mit
Holzschuhen an den Füßen; Natalie, in schwarzer Hose und schwarzem Pullover,
hielt sie an der Kette, deren Haken an dem Armband befestigt war, das sie am
rechten Handgelenk trug. Sir Stephen chauffierte. Der Mond war fast voll, er
stand hoch am Himmel und erhellte in großen, schneeweißen Tupfen die Straße,
die Bäume und die Häuser der Dörfer, durch die sie fuhren, ließ alles, was er
nicht beleuchtete, schwarz wie Tusche. Noch standen da und dort ein paar Leute
vor den Haustüren, die neugierig aufsahen, wenn der geschlossene Wagen an ihnen
vorbeifuhr (Sir Stephen hatte das Verdeck nicht zurückgeschlagen). Hunde
bellten. Auf der dem Mondlicht zugewandten Seite sahen die Olivenbäume aus wie
silberne Wolken, die zwei Meter über dem Boden dahinzogen, die Zypressen wie
[223] schwarze Federn. Das einzig wirkliche an dieser Landschaft, die von der
Nacht ins Phantastische überhöht wurde, war der Duft von Salbei und Lavendel.
Die Straße stieg noch immer an, doch noch immer lastete der gleiche Gluthauch
über der Erde. O ließ ihr Cape von den Schultern gleiten. Niemand würde sie
sehen, kein Mensch war unterwegs. Nach weiteren zehn Minuten Fahrt, die an
einem immergrünen Eichenwald über der einen Straßenseite entlangführte, bremste
Sir Stephen vor einer langen Mauer. Beim Herannahen des Wagens öffnete sich ein
Einfahrtstor. Sir Stephen parkte in einem Vorhof, während das Tor hinter ihm
wieder geschlossen wurde, stieg aus, ließ Natalie und O aussteigen, die auf
seinen Befehl Cape und Holzschuhe im Wagen zurückließen. Er öffnete die Tür zu
einem Renaissance-Kreuzgang, der nur aus drei Galerien bestand, auf der vierten
Seite ging der geflieste Innenhof in eine ebenfalls geflieste Terrasse über.
Ein Dutzend Paare tanzte auf der Terrasse und im Hof, einige tief dekolletierte
Frauen und Männer im weißen Smoking saßen an den kleinen, von Kerzen
erleuchteten Tischen, der Plattenspieler stand unter der Galerie zur Linken,
ein Buffett auf der rechten Seite. Aber der Mond gab genauso viel Licht, wie
die Kerzen und als er direkt auf O fiel, die von einem kleinen schwarzen
Schatten Natalies vorwärtsgezogen wurde, hörten die Paare zu tanzen auf und die
Männer, die an den Tischen saßen, erhoben sich. Der Kellner am Plattenspieler,
der spürte, daß etwas im Gange war, drehte sich um und stellte vor Überraschung
den Plattenspieler ab. O ging nicht mehr weiter, Sir Stephen, der unbeweglich
zwei Schritte hinter ihr stand, wartete ebenfalls. Der Kommandeur schob [224]
die Leute beiseite, die sich um O geschart hatten und von denen einige bereits
Fackeln herbeibrachten, um sie genauer zu sehen. "Wer ist sie",
fragten alle, "wem gehört sie?" - "Ihnen, Sie wünschen",
sagte er und zog Natalie und O zu einer Ecke der Terrasse, wo eine Steinbank,
mit einer Faltmatratze bedeckt, an einem Mäuerchen stand. Als O sich gesetzt
hatte, den Rücken an der Mauer, die Hände auf den Knien ruhend, Natalie, die
noch immer die Kette hielt, zur Linken auf dem Boden ihr zu Füßen, drehte er
sich von ihr weg. O suchte mit den Augen Sir Stephen und sah ihn nicht sofort.
Dann erspähte sie ihn in einem Liegesessel in der anderen Ecke der Terrasse. Er
konnte sie sehen, sie war beruhigt. Die Musik hatte wieder eingesetzt, die
Tänzer tanzten wieder. Einige Paare näherten sich ihr zuerst wie zufällig im
Vorübertanzen, dann eines von ihnen ganz unverhohlen, die Frau zog den Mann mit
sich. O starrte sie mit ihren schwarzumrandeten Augen an, die unter dem
Gefieder weit aufgerissen waren wie die Augen des Nachtvogels, den sie
darstellte, und die Illusion war so vollständig, daß niemand auch nur auf den
Gedanken kam, eine Frage zu stellen, ganz als wäre sie wirklich ein Käuzchen,
taub gegen die menschliche Sprache und stumm. Von Mitternacht bis zum ersten
Morgenlicht, das gegen fünf Uhr den Himmel im Osten bleichte, während das Licht
des im Westen untergehenden Mondes schwächer wurde, umkreiste man sie immer
wieder, immer wieder öffnete man ihre Knie, hob die Kette hoch, brachte einen
dieser zweiarmigen provenzialischen Leuchter herbei - und sie spürte, wie die
Kerzenflamme ihr die Innenseite der Schenkel wärmte - um zu sehen, wie die
Kette an ihr befestigt war; ein [225] betrunkener Amerikaner faßte sogar
lachend an das Ende, doch als ihm klar wurde, daß seine Hand das Fleisch
gepackt hielt und das Eisen, das dieses Fleisch durchdrang, wurde er plötzlich
nüchtern und O sah in seinem Gesicht den gleichen Abscheu und die gleiche
Verachtung, die sie bereits im Gesicht des jungen Mädchens im Kosmetiksalon
gesehen hatte; er verschwand; ein sehr junges Mädchen mit nackten Schultern und
einem winzigen Perlenhalsband, in einem weißen Debütantinnenkleid mit zwei
Teerosen an der Taille, kleinen Goldsandalen an den Füßen, wurde von einem
jungen Mann aufgefordert, sich dicht neben O an ihre rechte Seite zu setzen,
dann nahm er ihre Hand, zwang sie, Os Brüste zu streicheln, die unter der
leichten kühlen Hand erbebten, Os Schoß zu berühren und den Ring und das Loch,
durch das der Ring geschoben war; die Kleine gehorchte schweigend und als der
junge Mann ihr sagte, er werde mit ihr das gleiche machen, schreckte sie nicht
zurück. Doch selbst diejenigen, die so über O verfügten, die sie wie ein
Vorführmodell behandelten oder wie ein Demonstrationsobjekt, richteten nicht
ein einziges Mal das Wort an sie. War sie denn eine Steinfigur, eine
Wachspuppe, ein Geschöpf aus einer anderen Welt und glaubte man, daß es keinen
Sinn hätte, sie anzureden oder wagten sie es einfach nicht? Erst als der helle
Tag gekommen war und alle Tänzer weg waren, weckten Sir Stephen und der
Kommandeur die kleine Natalie, die zu Os Füßen schlief, ließen O aufstehen,
führten sie in die Mitte des Hofes, nahmen ihr Kette und Maske ab, legten sie
auf einen Tisch und nahmen sie. [226]
In einem letzten Kapitel das gestrichen wurde, kehrte O nach Roissy zurück, wo
Sir Stephen sie verließ.
Die Geschichte der O hat einen zweiten Schluß. Er lautet: Als O sah, daß Sir
Stephen sie verlassen würde, wünschte sie sich den Tod. Sir Stephen erteilte
seine Zustimmung.
Ein verliebtes Mädchen
Eines Tages sagte ein verliebtes Mädchen zu dem Mann, den es liebte: »Ich
könnte auch Geschichten schreiben, die Ihnen gefallen ...« - »Glauben Sie?«
antwortete er. Sie trafen sich zwei- oder dreimal in der Woche, niemals in den
Ferien, niemals an den Wochenenden. Beide knapsten die Zeit, die sie zusammen
verbrachten, der Familie oder der Arbeit ab. Im Januar oder Februar, wenn die
Tage länger werden und die Sonne vom Westen her einen roten Widerschein auf die
Seine wirft, gingen sie des Nachmittags an den Flußufern spazieren, Quai des
Grands Augustins, Quai de la Tournelle, und küßten sich im Schatten der
Brücken. Ein Clochard rief ihnen einmal zu: »Sollen wir euch ein Zimmer
bezahlen?« Ihre Zufluchtsorte wechselten häufig. Der alte Wagen, den das
Mädchen fuhr, brachte sie in den Zoo, um die Giraffen zu sehen, nach Bagatelle,
um im Frühjahr Iris und Klematis oder im Herbst Astern zu betrachten. Sie
merkte sich die Namen der Astern, blauer Nebel, violett, blaßrosa, warum
eigentlich? Denn niemals hat sie sie pflanzen können (dennoch werden wir die
Astern wiederfinden). Aber es ist weit nach Vincennes oder zum Bois. Im Bois
trifft man Leute, die einen kennen. Tatsächlich blieben nur die Zimmer. Ein und
dasselbe mehrmals hintereinander. Oder andere, wie es der Zufall wollte. Die
dürftige Beleuchtung der Zimmer in den Bahnhofshotels hat etwas merkwürdig
Anheimelndes; der bescheidene Luxus des großen Betts, das man beim Weggehen mit
zerwühlten Laken hinterläßt, hat seinen Reiz. Und es kommt die Zeit, da man das
Geräusch der Gespräche und Seufzer nicht mehr trennen kann von dem unablässig
von der Straße heraufdringenden Dröhnen der Motoren und dem Quietschen der
Reifen. Dieses flüchtige und zärtliche Beisammensein in der Muße, die der Liebe
folgt, war mehrere Jahre lang eingelullt von diesen Erzählungen und, wenn man
das sagen kann, von diesen Rezitierungen, bei denen die Bücher an erster Stelle
stehen. Die Bücher waren ihre einzige völlige Freiheit, ihr gemeinsames
Vaterland, ihre wahren Reisen; in den Büchern, die sie liebten, lebten sie
zusammen wie andere im Schoße der Familie; in den Büchern fanden sie ihre
Landsleute und Brüder; die Dichter hatten für sie geschrieben, die Briefe der
Liebenden von einst erreichten sie trotz der Unverständlichkeit der
altertümlichen Sprache, der überlebten Bräuche und Moden - und all das wurde
mit gedämpfter Stimme vorgelesen in einem unbekannten, schmutzigen Zimmer, das
wunderbarerweise einer Festung glich, die einige Stunden lang vergeblich von
der Außenwelt berannt wurde. Sie hatten keine gemeinsame Nacht. Plötzlich, zu
der und der im voraus festgesetzten Stunde - die Uhr bleibt am Handgelenk -
mußten sie aufbrechen. Jeder mußte wieder in seine Straße, .in sein Haus, in
sein Zimmer, in sein gewohntes Bett, zu jenen, mit denen man durch eine
unsühnbare Liebe von anderer Art verbunden ist, zu jenen, die einem der Zufall oder
die Jugend beschert, oder die man sich selbst ein für allemal aufgeladen hat
und die man weder verlassen noch verletzen kann, wenn man im Mittelpunkt ihres
Lebens steht. Er war in seinem Zimmer nicht allein. Sie war allein in dem
ihren. Eines Abends, nach diesem »Glauben Sie?« der ersten Seite und ohne zu
ahnen, daß sie eines Tages auf einem Katasteramt den Namen Réage finden und
sich erlauben würde, den Vornamen zweier berühmter Kokotten, Pauline Borghese
und Pauline Roland, zu entlehnen, eines Abends begann jene, für die ich heute
spreche, und das mit Fug und Recht, denn wenn ich nichts von ihr habe, hat sie
doch alles von mir, und insbesondere die Stimme; eines Abends also begann
dieses Mädchen, statt ein Buch zur Hand zu nehmen, ehe sie einschlief, krumm
wie ein Fiedelbogen auf der linken Seite liegend, die Geschichte zu schreiben,
die sie versprochen hatte.
Der Frühling ging seinem Ende zu. Die japanischen Kirschen in den großen
Pariser Parks, die Judasbäume, die Magnolien in der Nähe der Teiche, die
Holundersträucher am Rand der alten Stadtbahndämme waren abgeblüht. Die Tage
hörten nicht auf, und zu ungewöhnlichen Stunden drang das Licht des Morgens bis
zu den staubigen schwarzen Vorhängen, den letzten Spuren der
Luftschutzmaßnahmen des Krieges. Aber im Schein der am Kopfende des Bettes
brennenden kleinen Leuchte glitt die Hand, die den Bleistift hielt, unbekümmert
um die Stunde und die Helligkeit, über das Papier. Das Mädchen schrieb, wie man
im Dunkeln mit jenem spricht, den man liebt, wenn die Liebesworte zu lange
zurückgehalten worden sind und nun endlich strömen. Zum ersten Male in ihrem
Leben schrieb sie ohne Zaudern, rastlos, ohne etwas zu ändern oder
auszustreichen, sie schrieb, wie man atmet, wie man träumt. Das fortwährende
Gebrumm der Autos wurde schwächer, man hörte kein Türenschlagen mehr, Paris
wurde still. Sie schrieb noch, als die Stunde der Müllfahrer begann und die
Morgendämmerung anbrach. Die erste Nacht, die sie ganz und gar so verbrachte,
wie zweifellos Nachtwandler die Nächte verbringen, sich selbst entrissen oder -
wer weiß? sich selbst zurückgegeben. Am Morgen verwahrte sie den Block, der die
beiden Anfänge enthielt, die Sie kennen, denn wenn Sie dies hier lesen, haben
Sie sich bereits die Mühe gemacht, die ganze Geschichte zu lesen, von der Sie
heute mehr wissen, als die Autorin damals. Sie mußte jetzt aufstehen, sich
waschen, anziehen, frisieren, den starren Harnisch wieder anlegen, das
alltägliche Lächeln aufsetzen, die übliche stumme Sanftmut zur Schau tragen.
Morgen, nein, übermorgen, würde sie ihm das Heft geben.
Sie reichte es ihm sofort, als er ins Auto stieg, wo sie ihn erwartete, einige
Meter vor einer Straßenkreuzung, in einer kleinen Straße in der Nähe einer
U-Bahnstation und eines Marktes. (Suchen Sie nicht nach der Stelle, es gibt
viele, die ihr ähnlich sind, und es ist kaum wichtig, welche es war.) Gleich
lesen, nicht fragen. Im übrigen stellte sich diese Zusammenkunft als eine von
jenen heraus, zu denen man kommt, um zu sagen, daß man nicht kommt, weil man zu
spät erfährt, daß man absagen muß, und es nicht rechtzeitig tun kann. Immerhin
war es schön, daß er hatte entfliehen können. Sonst hätte sie eine Stunde
gewartet und wäre am nächsten Tag zur selben Stunde wiedergekommen, zur selben
Stelle, nach den uralten Regeln der Vogelfreien. Er sagte entfliehen, denn alle
beide bedienten sich eines Vokabulars von Häftlingen, die sich nicht gegen ihr
Gefängnis empören, und vielleicht waren sie sich darüber klar, daß sie, wenn
sie das Gefängnis schlecht ertrugen, es auch schlecht ertragen würden, daraus
entlassen zu werden, weil sie sich schuldig fühlten. Die Vorstellung, daß man
nach Hause gehen mußte, machte die heimliche Zeit besonders wertvoll, denn sie
siedelte sich außerhalb der wirklichen Zeit an, gleichsam in einer bizarren und
ewigen Gegenwart. In dem Maße, in dem die Jahre vergingen, ohne ihnen mehr
Freiheit zu bringen, hätten sie sich durch die Jahre, die vor ihnen
zusammenschrumpften, gehetzt fühlen müssen. Aber nein. Die Hindernisse jedes
Tages, jeder Woche - entsetzliche Sonntage ohne Briefe, ohne Telefon, ohne daß
ein Wort oder ein Blick möglich waren, entsetzliche Ferien, irgendwo am Ende
der Welt, und immer war jemand da, der fragte: »Woran denkst du?« - diese
Hindernisse genügten, daß sie sich quälten und immer fürchteten, der andere
könne sich verändert haben. Sie erhoben nicht den Anspruch, glücklich zu sein,
aber nachdem sie sich einmal erkannt hatten, flehten sie zitternd darum, daß es
von Dauer sein möge, mein Gott, daß es von Dauer sein möge... daß nicht plötzlich
der eine dem anderen fremd erscheine, daß diese unverhoffte Brüderlichkeit
anhalten möge, die seltener ist als das Begehren und kostbarer als Liebe - oder
die vielleicht schließlich Liebe sein würde. So war alles ein Wagnis: ein
Zusammensein, ein neues Kleid, eine Reise, ein unbekanntes Gedicht. Aber nichts
würde sie hindern, diese Wagnisse auf sich zu nehmen. Das ernsteste an diesem
Tage war indes das Heft. Und wenn die Trugbilder, die es enthüllte, ihren
Geliebten entrüsteten oder, was schlimmer wäre, ihn langweilten oder, was noch
schlimmer wäre, ihm lächerlich erschienen? Natürlich nicht um dessentwillen,
was sie waren, sondern weil sie von ihr stammten, und weil man selten denen,
die man liebt, Freiheiten verzeiht, die man allen anderen zugesteht. Sie hatte
sich zu Unrecht geängstigt: »Ah«, sagte er. »Fahren Sie fort. Was geschieht
dann? Wissen Sie es?« Sie wußte es. Sie verriet es nach und nach. Den ganzen
Spätsommer hindurch, während des ganzen Herbstes, erst am glühendheißen Strand,
dann in einem trostlosen Badeort und schließlich wieder im rötlich-gelben,
versengten Paris schrieb sie, was sie wußte. Jeweils zehn oder fünf Seiten,
ganze Kapitel oder Bruchstücke von Kapiteln steckte sie in einen Umschlag und
schickte diese Seiten im gleichen Format wie der ursprüngliche Block, die
manchmal mit Bleistift, manchmal mit Kugelschreiber oder Füllfederhalter
geschrieben waren, an eine postlagernde Adresse. Weder Kopie, noch Konzept,
nichts hob sie auf. Aber die Post ist zuverlässig. Die Geschichte war noch
nicht fertig, da verlangte der Mann, als sie ihre Zusammenkünfte im
herbstlichen Paris wieder aufgenommen hatten, sie solle ihm die Geschichte nach
und nach laut vorlesen; und in dem schwarzen Wagen, am hellichten Nachmittag in
einer verkehrsreichen und tristen Straße des dreizehnten Arrondissements, in
der Nähe der Butte-aux-Cailles, wo man noch in den letzten Jahren des vorigen
Jahrhunderts zu leben glaubt, oder am Ufer des Kanal St.-Martin, wo die Brücken
fast chinesisch sind, mußte sich das Mädchen, das vorlas, dann und wann
unterbrechen, denn es ist zwar möglich, sich in der Stille die schlimmste und
heikelste Einzelheit auszudenken, sie zu ersinnen und niederzuschreiben, aber
es ist nicht möglich, das laut vorzulesen, was in endlosen Nächten geträumt
wurde.
Indessen hörte die Geschichte eines Tages auf. Für O gab es nichts als diesen
Tod, dem sie insgeheim mit aller Kraft entgegeneilte und zu dem ihr in zwei
Zeilen die Zustimmung erteilt wurde. Was die Frage betrifft, wie das Manuskript
ihrer Geschichte in die Hände von Jean Paulhan geriet, so habe ich versprochen,
das nicht zu verraten, und auch den richtigen Namen von Pauline Réage nicht zu
nennen, wobei ich mich auf die Ritterlichkeit derjenigen verlasse, die ihn
kennen, damit er ebenso lange nicht verbreitet werde, wie es mir unmöglich
erscheint, dieses Versprechen zu brechen. Im übrigen ist nichts trügerischer
und vergänglicher als eine Identität. Wenn man glauben kann, wie es Hunderte
von Millionen Menschen glauben, daß wir mehrere Leben leben, warum soll man
dann nicht auch glauben, daß wir in jedem Leben der Treffpunkt mehrerer Seelen
seien? Wer bin ich schließlich, sagt Pauline Réage, wenn nicht der auf lange
Zeit stumme Teil von irgend jemandem, der nächtliche und geheime Teil, der sich
niemals öffentlich durch eine Tat, durch eine Geste verrät, ja nicht einmal
durch ein Wort, sondern über die Schleichwege des Imaginären mit Träumen
umgeht, die so alt sind wie die Welt? Woher mir diese immer wiederkehrenden und
so hartnäckigen Träume kamen, gerade vor dem Einschlafen, immer dieselben, in
denen die reinste und scheueste Liebe stets die qualvollste Hingabe guthieß
oder vielmehr forderte, in denen kindische Bilder von Ketten und Peitschen der
Gewalt die Symbole der Gewalt hinzufügten, das weiß ich nicht. Ich weiß nur,
daß sie heilsam für mich waren und mich rätselhafterweise beschützten - im
Gegensatz zu den vernünftigen Träumen, die sich um das tägliche Leben drehen
und versuchen, es zu ordnen und zu zügeln. Ich habe es nie verstanden, mein
Leben zu zügeln. Indes ging alles so vor sich, als ob diese seltsamen
Träumereien mir dabei behilflich seien, als ob mit diesen Rasereien und dieser
Wollust des Unmöglichen irgendein Lösegeld bezahlt werde: die Tage, die darauf
folgten, waren dadurch sonderbarerweise leichter geworden, während die
besonnenen Zahlungsanweisungen auf die Zukunft und die Vorausberechnungen des
gesunden Menschenverstandes sich jedesmal durch die Ereignisse widerlegt sahen.
Ich lernte sehr bald, daß man die öden Stunden der Nacht nicht dazu verwenden
durfte, erdachte Wohnungen zu möblieren, nicht existierende, aber mögliche
Wohnungen, wo Verwandte und Freunde zusammen glücklich wären (welche Schimäre!)
- daß man aber unbesorgt geheime Schlösser einrichten könne, vorausgesetzt, man
bevölkert sie mit verliebten Mädchen, prostituiert durch die Liebe und
triumphierend in ihren Ketten. Auch die Schlösser von de Sade, die entdeckt
wurden, nachdem die meinen schon längst in der Stille erbaut worden waren,
haben mich niemals überrascht, ebensowenig wie seine Freunde des Verbrechens:
ich hatte schon meine Geheimgesellschaft, eine viel harmlosere und unmündigere.
Aber er hat mir begreiflich gemacht, daß wir alle in dem Sinne Kerkermeister
und alle im Gefängnis sind, als es in uns immer einen gibt, den wir uns selbst
anketten, den wir einsperren, den wir zum Schweigen bringen. Durch einen
merkwürdigen Rückschlag geschieht es, daß das Gefängnis sogar die Freiheit
erschließt. Die Steinmauern einer Zelle, die Einsamkeit, aber auch die Nacht,
wiederum die Einsamkeit, die wohlige Wärme des Bettes, die Stille befreien
dieses Unbekannte, dem wir den Tag verweigern. Es entflieht uns und entflieht
unaufhörlich, trotz der Mauern, trotz der Zeitalter und Verbote. Es geht von
einem zum anderen von einer Epoche, einem Land zum anderen. Diejenigen, die für
es das Wort ergreifen, sind nur Übersetzer, denen, ohne daß man weiß, warum
(warum gerade sie, warum an jenem Tage?) erlaubt wird, einen Augenblick einige
der Fäden dieses uralten Netzes verbotener Gedanken zu ergreifen. Schließlich,
nach fünfzehn Jahren, warum nicht ich?
Was ihn, für den ich diese Geschichte schrieb, begeisterte, sagt sie noch, war
ihre Ähnlichkeit, die sie mit meinem Leben hatte. Konnte es sein, daß die
Geschichte dessen verzerrtes Spiegelbild war? Daß sie dessen Schlagschatten
war, unkenntlich, verkürzt wie der eines Spaziergängers in der Mittagssonne,
oder auch deshalb unkenntlich, weil er teuflisch verlängert war wie der
Schatten eines Menschen, der an einem leeren Strand vom Atlantischen Ozean
zurückkommt, wenn die Sonne in Flammen hinter ihm versinkt? Zwischen dem, was
ich zu sein glaubte, und dem, was ich erzählte und zu erfinden glaubte, sah ich
zugleich einen so weiten Abstand und eine so nahe Verwandtschaft, daß ich mich
selbst darin nicht erkannte. Zweifellos nahm ich mein Leben nur mit so viel
Geduld (oder Passivität oder Schwäche) hin, weil ich genau wußte, daß ich, wenn
ich es wünschte, dieses andere, verborgene Leben wiederfinden würde, das über
das Leben hinwegtröstet, das sich nicht eingestehen, nicht mit jemandem teilen
läßt - und siehe da, dank ihm, den ich liebte, gestand ich es ein und teilte es
von nun an mit jedem, der wollte, ebenso vollkommen prostituiert in der
Anonymität eines Buches wie in dem Buch dieses Mädchen ohne Gesicht, ohne
Alter, ohne Namen und sogar ohne Vornamen. Über sie hat er niemals eine Frage
gestellt. Er wußte, daß sie eine Idee war, eine flüchtige Vorstellung, ein
Schmerz, die Negation eines Schicksals. Aber die anderen? René, Jacqueline, Sir Stephen, Anne-Marie? Und
die Orte, die Straßen, die Gärten, die Häuser, Paris, Roissy? Und die
Verhältnisse? Ja, die glaubte ich zu kennen.
René zum Beispiel (ein sehnsuchtsvoller Vorname) war die Erinnerung, nein, die
Spuren einer Jugendliebe oder vielmehr einer Hoffnung auf Liebe, die ansonsten
niemals existierte, und René hat niemals geahnt, daß ich ihn lieben könnte.
Aber Jacqueline hat ihn geliebt. Und vor ihm mich. Indes war sie nicht mein
erster Liebeskummer gewesen. Fünfzehn war sie, wie ich, und das ganze Schuljahr
hindurch hatte sie mich verfolgt und sich über meine Kälte beklagt. Kaum war
sie in die Ferien entschwunden, da erwachte ich aus dieser Kälte. Ich schrieb
ihr. Juli, August, September, drei Monate lang lauerte ich dem Briefträger
vergeblich auf. Trotzdem schrieb ich. Diese Briefe haben alles zerstört.
Jacquelines Eltern verboten ihr, mich zu sehen, und von ihr, die nun in eine
andere Klasse ging, erfuhr ich, daß »das eine Sünde sei«. Was war denn
eigentlich eine Sünde? Was warf man mir vor? Der Tag ist auch nicht
unschuldiger... Rosalinde und Celia hatte ich neu erfunden, in aller
Harmlosigkeit - die nicht anhielt. Jacqueline, die wirkliche Jacqueline, kommt
also in der Geschichte nur mit ihrem Vornamen und ihrem hellen Haar vor. Die
Jacqueline der Geschichte ist eher eine blasierte, blasse junge Schauspielerin,
mit der ich eines Tages in der Rue de L'Eperon zu Mittag gegessen hatte. Der
alte Mann, der ihr ihren Schmuck, ihre Schneiderkostüme und ihren Wagen
bezahlte, rief mich als Zeugen an: »Sie ist schön, nicht wahr?« Ja, sie war
schön. Ich habe sie niemals wiedergesehen. Ist René etwas, das ich hätte
erraten können, wenn ich ein Mann gewesen wäre? Einem anderen Mann derart
hörig, daß er ihm alles abtritt und dieses Gebaren eines Vasallen dem Lehensherrn
gegenüber nicht einmal für anachronistisch hält? Das befürchte ich. Während die
imaginäre Jacqueline im wahrsten Sinne des Wortes die Fremde war. Allerdings
brauchte ich lange, um mir darüber klar zu werden, daß ein Mädchen wie sie -
die ich verzweifelt bewunderte - mir in einem anderen Leben meinen Geliebten
genommen hatte. Und ich rächte mich, indem ich sie nach Roissy schickte, ich,
die ich jede Rache zu verachten vorgab und nicht einmal imstande war, es zu
erkennen. Das Ersinnen einer Geschichte ist eine sonderbare Falle. Sir Stephen
hingegen hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Mein damaliger Geliebter,
derselbe, von dem ich gerade gesprochen habe, hat ihn mir eines Nachmittags in
einer Bar in der Nähe der Champs-Elysees gezeigt: halb auf einem Hocker sitzend
vor der Mahagonitheke, schweigend, ruhig, wie ein Fürst aussehend mit jenen
grauen Augen, die junge Männer und Frauen faszinieren - er hat ihn mir gezeigt
und gesagt: »Ich verstehe nicht, daß die Frauen solche Männer nicht den Knaben
von dreißig Jahren vorziehen.« Er war noch keine Dreißig. Ich habe nicht
geantwortet: »Aber sie ziehen sie ihnen ja vor.« Den Unbekannten habe ich lange
angeschaut. Vielleicht fünfzig Jahre, bestimmt Engländer. Und was sonst noch?
Nichts. Aber dieser stumme, einseitige Kontakt zwischen ihm und meinem
Gefährten, zwischen ihm und mir ist zehn Jahre später blitzartig wieder
aufgetaucht, mitten in der Nacht, die nur der Schein der Lampe auf meinem
Nachttisch durchlöcherte, und die Hand auf dem Papier hat ihn mit einer neuen
Bedeutung noch schneller wiedererstehen lassen als die Überlegung. Anne-Marie
kenne ich überhaupt nicht. Eine meiner Freundinnen (die ich respektiere, und
ich respektiere nicht leicht jemanden) könnte sehr wohl Anne-Marie sein, wäre
sie nicht die Keuschheit und Anständigkeit in Person: ich will damit sagen,
Anne-Marie hätte die Entschlossenheit und Strenge von ihr haben können, und die
Unverblümtheit und die tadellose und redliche Art und Weise, wie sie ihr
Gewerbe ausübte. Offen gestanden, die fraglichen Gewerbe (das von O, das von
Anne-Marie, Hure oder Kupplerin, wenn ich mich deutlich ausdrücken muß) kenne
ich nicht. Wenn ein entrüsteter großer Schriftsteller in meiner Erzählung die
Erinnerungen einer Schönen sehen will - und zu seiner Entschuldigung gesteht,
daß er sie nicht gelesen habe - so irrt er zweimal: es sind keine Erinnerungen,
und ich bin keine Schöne, wie ritterlich dieser Ausdruck auch sein mag. Sagen
wir, um ihm eine Freude zu machen, daß ich zweifellos meinen Beruf verfehlt
habe. Ist es nach dem gekürzten Personenverzeichnis, wie im Theater, noch
interessant, die Schauplätze der Handlung genau anzugeben? Sie sind
Allgemeingut. Die Rue de Poitiers und das Séparé bei La Pérouse, das Zimmer im
Stundenhotel in der Nähe der Bastille mit dem Spiegel an der Decke, die Straßen
im Quartier St.-Germain, die sonnigen Quais der Ile St. Louis, der trockene,
weiße Kies im provençalischen Hinterland und dieses Roissy-in-Frankreich, bei
einem kurzen Ausflug im Frühling entdeckt, kaum etwas anderes als ein Name auf
der Landkarte, gewiß, nichts ist erfunden, und ebenso wenig die Astern, von
denen ich Ihnen gesagt habe, daß wir sie wiederfinden würden. Ebenfalls nicht
erfunden - eher gestohlen, und ich bitte ihn nachträglich um Verzeihung, aber
es war ein Diebstahl aus Bewunderung - sind die Masken von Leonor Fini.
Anscheinend habe ich auch den Salon einer Dame gestohlen und ihn einer
abscheulichen Verwendung zugeführt: den Salon von Sir Stephen, stellen Sie sich
das vor! Die Dame hat es mir selbst gesagt, nicht ahnend, mit wem sie sprach
(man weiß nie, mit wem man spricht). Niemals bin ich bei ihr gewesen, niemals
habe ich diesen Salon gesehen. Auch das in einer Bodensenke verborgene Haus
habe ich niemals gesehen (und wußte nicht, daß es existierte), jenes Haus, wo
seit Jahren ein Mädchen, das ich schließlich durch einen Zufall kennenlernte,
dem Mann, den es liebte - und der es mit Hilfe eines unsichtbar in der Wand
angebrachten Spiegels und eines Mikrophons überwachte - die Schauspiele bot,
die Sir Stephen von O verlangte: die Hingabe an Unbekannte, die er anheuerte
und ihr aufzwang. Nein, ich habe die Geschichte dieses Mädchens nicht kopiert,
noch hat sich das Mädchen von der Geschichte, die ich erzähle, beeinflussen
lassen. Aber nachdem einmal dem Phantastischen und der Weitschweifigkeit
Rechnung getragen war, was die Obsessionen mildert (die unaufhörliche
Wiederholung der Freuden und Mißhandlungen war ebenso notwendig wie absurd und
unerfüllbar), überschneidet sich alles, Erlebtes oder Geträumtes, alles erweist
sich als gemeinhin geteilt in dem Universum desselben Wahnsinns - und wenn man
es fertigbringt, diesem Universum ins Angesicht zu sehen, dann ist alles -
Greuel und Wunderbares, Träume und Schäume - Beschwörung und Erlösung.
Pauline Réage
Rückkehr nach Roissy
Die folgenden Seiten sind eine Fortsetzung der Geschichte der O. Sie sind
bewußt ein Abstieg, und sie dürfen niemals in die Geschichte der O einbezogen
werden.
P. R.
Rückkehr nach Roissy
Alles schien geregelt zu sein: der September rückte heran. Mitte September
sollte O wieder nach Roissy gehen und Natalie mitnehmen. René, von einer Reise
nach Nordafrika zurückgekehrt, würde Jacqueline dort hinbringen - zumindest
ließ er das verlauten. Wie lange Natalie und wie lange O dort bleiben würden,
hing für O zweifellos von der Entscheidung ab, die Sir Stephen traf, und für
Natalie von dem Gebieter oder den Gebietern, die ihr das Schicksal in Roissy
bescheren würde. Aber obwohl die fest geplanten und bestimmten Vorhaben
beruhigend waren, machte O sich Sorgen, als ob es sich um ein gefährliches
Vorzeichen handele, um eine Herausforderung des Schicksals, ja, sogar über
diese Gewißheit, von der alle um sie herum erfüllt waren, daß sie tun würden,
was er beschlossen habe, machte sie sich Sorgen. Natalies Freude entsprach
ihrer Ungeduld, und in dieser Freude lag etwas von kindlicher Naivität und von
dem Vertrauen, das Kinder in die Versprechungen von Erwachsenen setzen. Daß O
die Verfügungsgewalt von Sir Stephen über sie anerkannte, erweckte in Natalie
auch nicht den kleinsten Schatten eines Zweifels: Os Unterwürfigkeit war so
unbedingt und stets so unmittelbar, daß Natalie sich nicht vorstellen konnte,
so sehr bewunderte sie O, daß sich jemand Sir Stephen in den Weg stellen könne,
wenn O vor ihm auf den Knien lag. So glücklich O auch war, und gerade weil sie
glücklich war, wagte sie nicht daran zu glauben, und ebenso wenig wagte sie,
Wasser in den Wein von Natalies Ungeduld und Freude zu gießen. Von Zeit zu
Zeit, wenn Natalie halblaut sang, hieß sie sie jedoch schweigen, um das
Schicksal nicht herauszufordern. Sie achtete darauf, niemals den Fuß auf die
Fugen der Fliesen zu setzen, niemals Salz zu verschütten, niemals Messer über
Kreuz oder das Brot umgekehrt hinzulegen. Und was Natalie nicht wußte und sie
ihr nicht zu sagen wagte, war, daß sie sich deshalb so gern peitschen ließ,
weil sie abgesehen von der Lust, die sie bis zu einem gewissen Grad dabei
verspürte, für das Glück, das sie darin fand, sogar über ihren Willen hinaus
preisgegeben zu sein, bei Überschreitung dieses Grades gewissermaßen mit
Schmerzen und Demütigung bezahlte - Demütigung, weil sie es nicht
fertigbrachte, nicht zu flehen und nicht zu schreien, während sie das Glück
empfand und damit vielleicht abergläubisch dessen Dauer sicherstellte. Ah, sich
nicht bewegen, damit auch die Zeit stillstehe! O haßte das Morgengrauen und die
Abenddämmerung, wenn sich alles wendet, seine Form aufgibt und eine andere
annimmt, so verräterisch, so traurig. Machten die Tatsache, daß René sie an Sir
Stephen abgetreten hatte, und gleichzeitig die Leichtigkeit, mit der sie sich
nachgerade umgestellt hatte, es nicht ebenso wahrscheinlich, daß Sir Stephen
sich seinerseits ändern könnte? Als O eines Tages nackt vor ihrer geschweiften
Kommode stand, deren Bronzebeschläge eine chinesische Imitation waren und
Figuren darstellten mit spitzen Hüten wie die Strandhüte, die Natalie trug, kam
es ihr in den Sinn, daß etwas neu war an Sir Stephens Verhalten ihr gegenüber.
Erstens verlangte er von ihr, daß sie von jetzt an in ihrem Zimmer ständig
nackt sei. Selbst die Pantöffelchen waren ihr nicht mehr erlaubt, noch die
Halsbänder oder ein sonstiger Schmuck. Das war nur eine Kleinigkeit. Wenn Sir
Stephen, fern von Roissy, eine Vorschrift wünschte, die ihn an Roissy
erinnerte, stand es O dann zu, sich darüber zu verwundern? Es war etwas
Ernsteres. Gewiß, in jener Ballnacht war O darauf gefaßt gewesen, daß Sir
Stephen sie dem Gastgeber ausliefern mußte. Gewiß, er selbst hatte sie - in
Gegenwart von René zum Beispiel oder von Anne-Marie und seit einiger Zeit
natürlich in Gegenwart von Natalie - schon am hellichten Tage genommen. Aber
vor jener Nacht hatte er sie niemals in seiner Gegenwart von irgendeinem
anderen nehmen lassen und sie auch nicht mit demjenigen geteilt, dem er sie
auslieferte. Und niemals war sie ausgeliefert worden, ohne daß er sie nachher
dafür züchtigte, als ob eben das Ziel, das er verfolgte, wenn er sie
prostituierte, nur ein Vorwand sei, um sie zu bestrafen. Aber nicht an dem Tag
nach dem Ball. Erschien ihm die Schmach, die es für O bedeutete, vor seinen
Augen einem anderen als ihm zu gehören, als ausreichende Buße? Was sie so
bereitwillig hingenommen hatte, als es René war und nicht Sir Stephen. Was sie
so bereitwillig hingenommen hatte, wenn Sir Stephen nicht da war, erschien O
abscheulich in seiner Gegenwart. Zwei Tage vergingen dann, ohne daß er sich ihr
näherte. O wollte Natalie in ihr Zimmer zurückschicken, Sir Stephen verbot es
ihr. O wartete also, bis Natalie eingeschlafen war, um in der Stille und ohne
gesehen zu werden zu weinen. Erst am vierten Tag kam Sir Stephen am späten
Nachmittag, wie es seine Gewohnheit war, zu O, nahm sie und ließ sich von ihr
liebkosen. Als er endlich stöhnte und in seiner Lust ihren Namen rief, wußte
sie, daß sie gerettet war. Aber als sie, längelang, mit geschlossenen Augen,
gebräunt und reglos auf dem weißen Teppich liegend, ihn halblaut fragte, ob er
sie liebe, antwortete er nicht: »Ich liebe dich, O«, sondern sagte nur: »Aber
sicher« und lachte. War das so sicher? »Du wirst am 15. September in Roissy
sein«, hatte er gesagt. »Ohne Sie?« hatte O gefragt. »Ach, ich komme auch«,
hatte er geantwortet. Es war in den letzten Augusttagen; die Feigen und die
blauen Trauben in den Körben zogen die Wespen an, die Sonne war weniger weiß
und verlängerte des Abends die Schatten. O war allein in dem großen
unfreundlichen Haus mit Natalie und Sir Stephen. René hatte Jacqueline
mitgenommen.
Sollte O die Tage zählen, die sie noch vom 15. September trennten, wie Natalie
es machte: noch vierzehn, noch zwölf, oder sollte sie den Entscheidungstag
fürchten? Die so gezählten Tage vergingen still. Natalie und O waren gleichsam
im vorhinein in einem Frauengemach eingeschlossen, das sie nicht zu verlassen
wünschten, wo die Wände das Lachen und die Gespräche und die Fensterscheiben
den Tritt von Schritten so gut dämpften, daß die Schreie von O, wenn sie
geschlagen wurde, das einzige Geräusch waren. Eines Sonntagsabends, als der
Himmel schwarz von Gewitter war, ließ Sir Stephen sie bitten, sich anzuziehen
und herunterzukommen. Sie hatte eine Wagentür klappen hören und durch das
Badezimmerfenster, das auf den Hof ging, das Geräusch von Stimmen. Dann nichts
mehr. Natalie war heraufgerannt und hatte gesagt, sie habe Besucher gesehen:
drei seien es, und einer von ihnen sei zweifellos ein Malaie mit dunkler Haut,
sehr schwarzen Augen, groß, schlank und gut aussehend. Sie sprachen weder
Französisch noch Englisch, Natalie hielt es für Deutsch. Deutsch oder nicht, O
verstand kein Wort von ihrer Sprache, und wie sollte man die Gleichgültigkeit
von Sir Stephen verstehen? Nicht, daß er sich den Anschein gab, sie nicht zu
sehen, im Gegenteil; er lachte und scherzte zweifellos mit seinen Gästen,
während sie sich ihrer bedienten, aber so absolut lässig, so sichtbar
teilnahmslos, daß O im Zweifel war, ob sie nicht dieser Gleichgültigkeit, die
er ihr gegenüber so plötzlich bekundete, Groll oder Verachtung vorgezogen
hätte. Verachtung und ein seltsames Mitleid las sie im Blick des Malaien, der
sie nicht angerührt hatte, als sie sich vernichtet, keuchend, mit beflecktem
Rock erhob, nachdem die beiden anderen Männer sie aus den Händen gelassen
hatten. Man mußte annehmen, daß sie ihnen gefallen habe, denn sie kamen am
nächsten Tag gegen elf Uhr allein wieder. Diesmal ließ Sir Stephen sie gleich
in Os Zimmer hinaufgehen, wo sie nackt war. Als sie wieder gingen, schluchzte
sie. »Warum, O?« fragte Sir Stephen, aber er wußte genau, warum und wie man die
Verzweiflung verscheuchen konnte, von der O gepackt war, als sie sich in ihrem
eigenen Zimmer und vor seinen Augen so behandelt sah, wie man selten wagt, ein
Bordellmädchen zu behandeln, und vor allem so, als ob er selbst sie für ein
solches halte. Er sagte ihr, sie habe nicht darüber zu entscheiden, wo, wie und
wem sie dienen solle, und ebenso wenig stehe es ihr zu, über seine Gefühle zu
urteilen. Dann ließ er sie so grausam peitschen, daß sie im Handumdrehen
getröstet war. Nachdem die Tränen und der brennende Schmerz vorbei waren,
stellte sich trotzdem wieder das Gefühl ein, vor dem sie sich gefürchtet hatte:
daß nämlich ein anderer Grund als die Lust, die er dabei empfinden konnte -
empfand er sie noch? - ihn veranlaßte, sie zu prostituieren, daß sie ihm als
Tauschgeld diene - aber was tauschte er ein? Daß er mit ihrem, ihm
ausgelieferten Körper bezahlte, etwas kaufte, aber was? Ein abscheuliches und
groteskes Gleichnis kam ihr in den Sinn: Die Reiterei des heiligen Georg nannte
man in Frankreich das englische Geld. Ja, vielleicht war sie, ohne es zu
wissen, die am meisten erniedrigte Statistin bei der Darstellung dieser
Redensart als lebendes Bild, auf den Knien liegend, auf die Ellbogen gestützt
und von Unbekannten geritten. Und wenn er sie schlagen ließ, dann nur noch, um
sie besser zu drillen. Nun, worüber beklagte sie sich eigentlich, worüber wunderte
sie sich? Noch angebunden an die Balustrade in der Nähe ihres Bettes, nachdem
Sir Stephen offenbar beschlossen hatte, sie dort liegen zu lassen, wo er sie
dann tatsächlich fast drei Stunden liegen ließ, hörte O in ihrer Erinnerung
seine Stimme, eben seine Stimme, die sie so verwirrt hatte, als er ihr an dem
ersten Abend, an dem er sich ihrer bemächtigt, sie geohrfeigt, ihr die Lenden
zerfetzt hatte, so eingehend dargelegt hatte, er wolle von ihr und werde von
ihr schiere Unterwürfigkeit und Gehorsam erhalten, wobei sie sich einbildete,
daß sie das nur mit Liebe gewähren könne. Wessen Schuld war es, wenn nicht die
ihre, wenn es genügte, sie peitschen zu lassen, damit sie ihm gehöre? Wenn sie
vor jemandem Abscheu haben sollte, müßte sie dann nicht vor sich selbst Abscheu
haben? Und wenn er sich ihrer bediente zu anderen Zwecken als seiner Lust, was
ging sie das an? »Oh ja«, sagte sich O, »ich habe Abscheu vor mir. Werde ich
die Stirn haben, mich zu beklagen, ich sei getäuscht worden, nicht darüber
unterrichtet worden, hundertmal, tausendmal, weiß ich denn nicht, wozu ich
geschaffen bin?« Aber sie wußte nicht mehr, ob ihr davor graute, Sklavin zu
sein - oder nicht genug Sklavin zu sein. Es war weder das eine noch das andere;
ihr graute davor, nicht mehr geliebt zu werden. Was hatte sie getan, was hatte
sie zu tun unterlassen, daß sie es verdiente, nicht mehr geliebt zu werden? Wie
töricht bist du doch, O, als ob es sich um Verdienst handelte, als ob du etwas
dabei tun könntest. Auf die Eisen, die ihren Schoß beschwerten, auf die
Brandmale, die in ihre Lenden eingegraben waren, war sie stolz gewesen und war
es noch, weil sie kundtaten, daß derjenige, der sie hatte anbringen lassen, sie
genug liebte, um sie sich zu eigen zu machen. Mußte sie sich jetzt schämen, daß
sie, wenn er sie nicht mehr liebte, immer noch die Zeichen dafür waren, daß sie
ihm gehörte? Denn schließlich wollte er immer noch, daß sie ihm gehöre.
Der 15. September kam; O, Natalie und Sir Stephen waren immer noch da. Aber
jetzt war Natalie an der Reihe, in Tränen zu schwimmen: ihre Mutter forderte
sie zurück, und sie mußte Ende des Monats wieder in ihr Pensionat. Wenn O nach
Roissy gehen mußte, würde sie allein gehen. Sir Stephen fand O auf ihrem Sessel
sitzend, das kleine Mädchen weinend an ihre Knie gelehnt. O reichte ihm den
Brief, den sie erhalten hatte: Natalie sollte in zwei Tagen aufbrechen. »Sie
haben versprochen«, sagte das Kind, »Sie haben versprochen...« - »Es ist nicht
möglich, Kleines«, sagte Sir Stephen. »Wenn Sie wollten, wäre es möglich«,
beharrte Natalie. Er antwortete nicht. O streichelte die seidenweichen Haare,
die gegen ihre nackten Knie strichen. Tatsächlich, wenn Sir Stephen wirklich
gewollt hätte, wäre es O zweifellos möglich gewesen, bei Natalies Mutter zu
erreichen, sie noch vierzehn Tage bei sich zu behalten unter dem Vorwand, sie
in der Nähe von Paris mit aufs Land zu nehmen. Und in vierzehn Tagen hätte
Natalie... Also hatte Sir Stephen seine Meinung geändert. Er stand am Fenster
und blickte in den Garten. O beugte sich zu der Kleinen hinunter und küßte ihre
tränennassen Augen. Sie warf Sir Stephen einen raschen Blick zu: er rührte sich
nicht. Sie küßte Natalie auf den Mund. Erst Natalies Stöhnen veranlaßte Sir
Stephen, sich umzudrehen, aber O ließ sie nicht gleich los, glitt neben ihr auf
den Boden und legte sie auf den Teppich. Mit zwei Schritten war Sir Stephen bei
ihnen. O hörte, daß er ein Streichholz anstrich, und roch den Duft seiner
Zigarette: er rauchte schwarze wie ein Franzose. Natalie hatte die Augen
geschlossen. »Zieh sie aus, O, und streichle sie«, sagte er plötzlich. »Dann
gibst du sie mir. Aber öffne sie erst ein bißchen; ich will ihr nicht zu weh
tun.« Das war es also? Ach, wenn sie ihm nur Natalie geben mußte! War er in sie
verliebt? Es schien eher, daß er in dem Augenblick, da sie verschwinden würde,
mit irgendetwas Schluß machen, eine Schimäre zerstören wollte. Natalie war zwar
rundlich und mollig, aber dennoch grazil und kleiner als O. Sir Stephen schien
doppelt so groß zu sein wie sie. Ohne sich zu regen, ließ sie sich von O
ausziehen und auf das Bett legen, von dem O die Laken zurückgeschlagen hatte,
und sie stöhnte, als O sie berührte, und biß die Zähne zusammen, als sie sie
verletzte. Os Hand war bald voller Blut. Aber Natalie schrie nicht unter dem Gewicht
von Sir Stephen. Es war das erste Mal, daß O sah, wie Sir Stephen seine Lust
bei jemand anderem als bei ihr fand, und vor allem das erste Mal, daß sie sein
Gesicht dabei sah. Wie er auswich! Ja, er drückte Natalies Kopf gegen seinen
Leib und packte mit der ganzen Faust ihre Haare, wie er es auch mit Os Haaren
machte; O überzeugte sich, daß er das nur tat, um die Liebkosung des Mundes
besser zu spüren, der ihn umschloß bis zu dem Augenblick, da er sich in ihn
ergoß. Aber jeder Mund, vorausgesetzt, er war gelehrig genug und
leidenschaftlich genug, hätte ihn ebenso befriedigt. Natalie zählte nicht. War
O sicher, daß sie zählte? »Ich liebe Sie«, wiederholte sie ganz leise, zu
leise, als daß er es hörte, »ich liebe Sie«, und sie wagte nicht, ihn zu duzen,
nicht einmal in Gedanken. In seinem Gesicht, das sie umgekehrt sah, schimmerten
Sir Stephens graue Augen zwischen den fast geschlossenen Lidern wie zwei
leuchtende Schlitze. Zwischen seinen halbgeöffneten Lippen blitzten auch seine
Zähne. Er erschien einen Augenblick wehrlos, als er spürte, daß O ihn ansah,
und den Fluß verließ, auf dem er dahintrieb, von dem O glaubte, daß sie so oft
mit ihm dahingetrieben war, ausgestreckt neben ihm in der Barke, die die
Liebenden davonträgt. Aber es war zweifellos nicht wahr. Sie waren zweifellos
allein gewesen, jeder auf seiner Seite, und vielleicht war es kein Zufall, daß
ihr sein Gesicht, wenn er sich in sie versenkte, immer verborgen gewesen war;
vielleicht wollte er allein sein; und nur heute war es ein Zufall. O sah darin
ein unheilvolles Zeichen; das Zeichen, daß sie ihm so gleichgültig geworden
war, daß er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, sich abzuwenden. Jedenfalls
war es unmöglich, wie immer man es auch auslegte, darin nicht eine Gewähr, eine
Freiheit zu sehen, die O, wenn sie nicht daran gezweifelt hätte, geliebt zu
werden, sorglos, stolz, sanft und glücklich hätten machen müssen. Das sagte sie
sich. Als Sir Stephen ging und die kleine Natalie in ihren Armen zurückließ,
die sich an sie schmiegte, glühend und murmelnd vor Stolz, sah sie sie an, bis
sie einschlief, und zog dann das Laken und die leichte Decke über sie beide.
Nein, er war nicht in Natalie verliebt. Aber er war abwesend, vielleicht sich
selbst ebenso fern, wie er ihr fern war. Über Sir Stephens Beruf hatte O sich
niemals Gedanken gemacht, und René hatte niemals davon gesprochen. Es war
offensichtlich, daß er reich war, auf jene geheimnisvolle Weise, wie englische
Aristokraten reich sind, wenn sie es noch sind; woher kamen seine Einkünfte?
René arbeitete für eine Import- und Exportfirma, René sagte: »Ich muß nach
Algier fahren wegen Jute, nach London wegen Wolle, wegen Fayencen, ich muß nach
Spanien fahren wegen Kupfer«, René hatte ein Büro, er hatte Teilhaber und
Angestellte. Wie bedeutend seine Position eigentlich war, war nicht klar, aber
jedenfalls gab es diese Position, und die Verpflichtungen, die sie mit sich
brachte, waren augenfällig. Sir Stephen hatte vielleicht auch eine Position,
die möglicherweise der Grund für seinen Aufenthalt in Paris war, für seine
Reisen und - daran dachte O nicht ohne Schrecken - für seine Mitgliedschaft von
Roissy (eine Mitgliedschaft, die ihr bei René einfach die Folge eines Zufalls
zu sein schien - ein Freund, den ich traf, hat mich mitgenommen, sagte er - O glaubte
es). Was wußte sie von Sir Stephen? Seine Zugehörigkeit zum Clan der Campbell,
deren düsterer Tartan in Schwarz, Dunkelblau und Grün der schönste Tartan von
Schottland ist, und der verrufenste (die Campbell haben zur Zeit des jungen
Prätendenten die Stuarts verraten); die Tatsache, daß er im nordwestlichen
Hochland ein granitenes Schloß besaß, klein und gedrungen, von einem Vorfahren
des 18. Jahrhunderts im französischen Stil erbaut, und einem Haus in der Gegend
von Saint-Malo ganz ähnlich. Aber welches Haus in der Gegend von Saint-Malo
hätte als Rahmen jemals derartig von Wasser benetzte Rasenflächen gehabt, als
Mantel derartig üppigen wilden Wein? »Nächstes Jahr werde ich dich dorthin
mitnehmen, und Anne-Marie auch«, hatte Sir Stephen gesagt, als er O eines Tages
Photos zeigte. Aber wer wohnte in dem Schloß? Was für eine Familie hatte Sir
Stephen? O vermutete, daß er Berufsoffizier gewesen war oder vielleicht noch
war. Einige seiner Landsleute, die jünger waren als er, redeten ihn schlicht
mit Sir an, wie ein Untergebener einen Vorgesetzten. O wußte recht gut, daß es
auf den britischen Inseln noch ein Vorurteil oder eine eigentümliche Sitte gab:
ein Mann ist es sich schuldig, seiner Frau gegenüber weder von Geschäften noch
vom Beruf oder Geld zu sprechen. Aus Respekt, aus Verachtung? Das weiß man
nicht. Doch konnte man ihm das unmöglich vorwerfen. Auch wollte O das gar
nicht. Nur wäre sie gern sicher gewesen, daß Stephens Schweigen ihr gegenüber
keinen anderen Grund hatte. Und gleichzeitig hätte sie gewünscht, daß er es
breche, damit sie ihm versichern könne, sie sei, falls er irgendeine Sorge
habe, welcher Art auch immer, bereit, ihm zu dienen, wenn es nur einigermaßen
in ihren Kräften stünde.
Am Tag nach Natalies Abreise, für die ein Liegewagenplatz im Blauen Zug
bestellt worden war, und zwei Tage vor Os und Sir Stephens Abreise, die mit
demselben Zug fahren sollten - doch hatte Sir Stephen darauf bestanden, daß es
genau an diesem Tag und nicht an jenem sei, an dem Natalie reiste, ebenso wie
er darauf bestanden hatte, mit dem Zug zu fahren, und zwar mit diesem Zug, und
nicht mit dem Wagen -, sagte O ihm schließlich, als sie mit dem Mittagessen,
das sie allein eingenommen hatten, fertig waren und die alte Norah den Kaffee
brachte, da sagte O - dazu ermutigt, weil er ihr, als sie aufgestanden war und
dicht an ihm vorbeiging, die Lenden getätschelt hatte, mechanisch vielleicht,
wie man es bei einer Katze oder einem Hund tut - da sagte O schließlich mit
ganz leiser Stimme, sie fürchte, ihn zu verdrießen, möchte ihm aber versichern,
daß sie ihm dienen wolle, was immer er auch wünsche. Zuerst sah er sie zärtlich
an, ließ sie sich niederknien, küßte ihr die Brüste, doch als sie sich erhob
und vor ihm stand, veränderte sich sein Ausdruck. »Das weiß ich«, sagte er. »Die
beiden Männer von neulich...« - »Die Deutschen?« unterbrach ihn O. »Es sind
keine Deutschen«, sagte Sir Stephen, »aber das ist unwichtig. Ich wollte dich
nur davon unterrichten, daß einer von ihnen mit demselben Zug reist wie wir.
Wir essen zusammen im Speisewagen. Richte es so ein, daß er dich begehrt und
dich in deinem Schlafwagenabteil aufsucht.« - »Aber«, sagte O, »er weiß doch
genau, daß Sie über mich verfügen.« -»Genau«, erwiderte Sir Stephen. »Wir haben
ein Doppelabteil: um in deines zu kommen, muß er durch meins durchgehen.«
-»Gut«, sagte O und fragte nicht nach dem Grund, denn sie war überzeugt, daß es
in diesem Fall einen Grund gab, und sie war verzweifelt, weil sie den Gedanken
nicht verscheuchen konnte, daß, wenn Sir Stephen sie in den anderen Fällen ohne
Grund und sozusagen gratis prostituiert hatte, dann eigentlich weniger, um sie
daran zu gewöhnen, als vielmehr deshalb, weil er die Spuren verwischen und aus
ihr ein Werkzeug machen wollte. Aber ein blindes Werkzeug, für etwas anderes
als seine Lust.
Der blaue Zug kam gegen neun Uhr in Paris an. Um acht Uhr war O, der eine Art
Teilnahmslosigkeit, die sie überhaupt nicht verstand, gleichsam einen Panzer um
das Herz gelegt hatte, sicher auf ihren hohen Absätzen die Gänge von ihrem
Schlafwagenabteil zum Speisewagen entlanggegangen, wo sie zum Frühstück Eier
mit Speck gegessen und allzu bitteren Kaffee getrunken hatten. Sir Stephen
hatte sich ihr gegenübergesetzt. Die Eier waren fade; der Geruch von Zigaretten
und das Schlingern des Zuges bewirkten bei O eine leichte Übelkeit. Aber als
sich der vermeintliche Deutsche neben Sir Stephen setzte, war ihr weder der
Blick, den er auf Os Lippen heftete, noch die Erinnerung an die Fügsamkeit, mit
der sie ihn in der Nacht liebkost hatte, peinlich.
Sie wußte nicht, was sie schützte, was sie dazu brachte, gleichmütig aus dem
Fenster zu schauen, wo Wälder und Felder an ihr vorbeiglitten, und nach den
Namen der Bahnhöfe zu spähen. Die Bäume und der Nebel verbargen die Häuser, die
nicht unmittelbar an der Bahnstrecke lagen; große Stahlträger, fest in
Zementsockeln verankert, hatten das Land neu abgesteckt; kaum sah man die
elektrischen Drähte, die sie bis zum Horizont alle dreihundert Meter an den
nächsten weiterreichten. In Villeneuve-Saint-Georges schlug Sir Stephen O vor,
wieder in ihr Abteil zu gehen. Sein Nachbar sprang auf, schlug die Hacken
zusammen und machte eine Verbeugung vor O. Ein plötzlicher Stoß des Zuges
bewirkte, daß er das Gleichgewicht verlor und sich wieder hinsetzte, und O
lachte laut auf. War sie erstaunt, als Sir Stephen - kaum daß sie wieder im
Abteil war und nachdem er sich seit der Abreise nicht einen Augenblick um sie
gekümmert hatte - sie auf die Koffer schob, die sich auf der Bank türmten, und
ihren Plisseerock hochhob? Sie war entzückt und dankbar. Wer sie so gesehen
hätte, auf der Bank kniend, den Busen auf den Koffern plattgedrückt, ganz
angezogen und zwischen ihrer Kostümjacke und ihren Strümpfen und den schwarzen
Strumpfbändern, die sie hielten, ihren nackten Popo darbietend, genarbt wie
Kofferleder, dem konnte sie nur ridikül erscheinen, und sie wußte es. Niemals
vergaß sie, wenn man sie so hinlegte, wieviel Beschämendes, aber auch
Demütigendes und Lächerliches die Redensart »leichtgeschürzt« enthielt, aber
noch demütigender war jener andere Ausdruck, den Sir Stephen, und neulich auch
René, verwendete, zumindest jedesmal, wenn er sie einem anderen zur Verfügung
stellte. Diese Demütigung, die ihr Sir Stephens Worte jedesmal zufügten, wenn
er sie aussprach, tat ihr wohl. Aber diese Wohltat war nichts gegen das mit
Stolz, man könnte fast sagen mit Hochmut durchsetzte Glücksgefühl, wenn er sie
nahm und geruhte, ihren Körper so weit nach seinem Geschmack zu finden, daß er
in ihn einzudringen und ihm beizuwohnen wünschte, und es schien O, als sei
keine Erniedrigung, keine Demütigung ein zu hoher Preis dafür. Während der
ganzen Zeit, da er sie gleichsam aufgespießt hatte und sie durch das Schlingern
des Zuges an ihn gepreßt wurde, stöhnte sie. Erst beim letzten Ruck und der
letzten Erschütterung der aufeinanderprallenden Waggons, als sie in der Gare de
Lyon zum Stehen kamen, zog er sich aus ihr zurück und sagte ihr, sie solle
aufstehen. Am Ausgang, noch auf dem Bahngelände, wo die großen Treppen abgehen
und die Privatwagen vorfahren, richtete sich ein junger Mann in der Uniform
eines Unteroffiziers der Luftwaffe, der an einem schwarzen, geschlossenen Wagen
mit Frontantrieb gelehnt hatte, auf, als er Sir Stephen erblickte. Er grüßte,
öffnete die Tür und trat zurück. Als O auf dem Rücksitz Platz genommen hatte
und ihr Gepäck vorn verstaut war, beugte sich Sir Stephen gerade lange genug
herab, um ihr die Hand zu küssen und sie kurz anzulächeln, dann schloß er die
Tür. Er hatte nichts zu ihr gesagt, weder »Auf Wiedersehen« noch »Bis bald«
oder »Adieu«. O hatte geglaubt, er würde auch einsteigen. Der Wagen fuhr so
schnell an, daß sie nicht die Geistesgegenwart hatte, ihn zu rufen, und sie
konnte sich noch so sehr ans Fenster drücken, um ihm ein Zeichen zu geben, es
war schon zu spät: er sprach mit seinem Gepäckträger und wandte ihr den Rücken
zu. So plötzlich, als ob ihr ein Verband von einer Wunde abgerissen worden
wäre, fiel die Gleichgültigkeit, die O auf der ganzen Reise beschützt hatte,
von ihr ab, und ein einziger Satz begann ihr immer wieder und wieder durch den
Kopf zu gehen: »Er hat mir nicht Auf Wiedersehen gesagt, er hat mich nicht
angesehen.« Der Wagen fuhr in westlicher Richtung, ließ Paris hinter sich, O
sah nichts. Sie weinte. Ihr Gesicht war noch tränenüberströmt, als das Auto
eine halbe Stunde später in einen Fußweg neben der Straße einbog und auf einem
Waldweg anhielt, den große Buchen beschatteten. Es regnete, die geschlossenen
Wagenfenster beschlugen von innen. Der Fahrer klappte seine Rückenlehne um,
stieg drüber weg und legte O auf den Rücksitz. Der Wagen war so niedrig, daß Os
Füße an die Decke stießen, als er ihre Beine hochhob, um in sie einzudringen.
Fast eine Stunde verbrachte er damit, sich ihrer zu bedienen, ohne daß sie auch
nur eine Sekunde versucht hätte, sich ihm zu entziehen, denn sie war überzeugt,
daß er das Recht dazu habe, und der einzige Trost, den sie in dem Zustand der
Angst fand, in den Sir Stephens brutaler Abschied sie versetzt hatte, war das
absolute Stillschweigen, mit dem der junge Mann bis zur Erschöpfung seiner
Kräfte sie immer wieder und wieder nahm und dabei im Augenblick der Lust kaum
einen Schmerzensschrei ausstieß. Er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt,
hatte ein hageres, hartes und sensibles Gesicht und schwarze Augen. Zweimal war
er O mit dem Finger über die nasse Wange gefahren, aber in keinem Augenblick
hatte er seinen Mund dem ihren genähert. Es war klar, daß er es nicht wagte,
während er es durchaus wagte, ihr ein so dickes und langgestrecktes Glied bis
in die Kehle zu stoßen, daß jede Bewegung, durch die er mit diesem Sturmbock
den Grund ihres Gaumens berührte, O neue Tränen vergießen ließ. Als er endlich
fertig war, ließ O ihren Rock hinunter und schloß den Pullover und die
Kostümjacke, die sie aufgeknöpft hatte, damit er ihre Brüste nehmen könne; sie
hatte Zeit, sich mit dem Kamm durch die zerzausten Haare zu fahren, sich zu
pudern und die Lippen anzumalen, während er im Unterholz verschwand. Der Regen
hatte aufgehört, die Stämme der Buchen leuchteten im grauen Licht. Links neben
dem Wagen wuchs auf einer Böschung roter Fingerhut, und er war so nah, daß O
ihn hätte pflücken können, wenn sie den Arm durch das heruntergelassene Fenster
gestreckt hätte. Der junge Mann kam zurück, schloß die Tür, die er
offengelassen hatte, ließ den Wagen an, und nachdem sie wieder auf der
Hauptstraße waren, verging keine Viertelstunde, bis sie ein Dorf erreichten und
hinter sich ließen, das O nicht wiedererkannte. Aber als der Wagen langsamer an
der nicht enden wollenden Mauer eines großen Parks entlanggefahren war und dann
vor einem völlig mit wildem Wein bewachsenen Haus hielt, begriff sie es
endlich: das konnte nur der kleine Eingang von Roissy sein. Sie stieg aus; der
junge Mann in Uniform holte ihre Koffer heraus. Die Tür aus Hartholz,
dunkelgrün gestrichen und lackiert, öffnete sich, ohne daß sie geklopft oder
geklingelt hätte: man hatte sie von drinnen gesehen. Sie überschritt die
Schwelle; die fliesenbelegte Diele mit der rotweißen Perkalintapete war leer.
Genau vor ihr war ein Spiegel, der die gesamte Breite der Wand einnahm, und sie
sah sich ganz in ihm, schlank und aufrecht in ihrem grauen Kostüm, den Mantel
über dem Arm, die Koffer zu ihren Füßen, die Tür, die sich hinter ihr schloß,
und dieser Heidekrautstengel in der Hand, den sie ganz automatisch genommen
hatte, als der junge Mann ihn ihr gereicht hatte, ein kindisches und höhnisches
keep-sake, das sie nicht auf die gut gewachsten Fliesen zu werfen wagte und das
ihr lästig war, ohne daß sie wußte, warum. Doch, sie wußte es: wer war es doch,
der ihr erzählt hatte, das in den Wäldern in der Nähe von Paris gepflückte
Heidekraut bringe Unglück? Da wäre es noch besser gewesen, den Fingerhut zu
pflücken, den anzufassen ihre Großmutter ihr verboten hatte, als sie ein Kind
war, weil er giftig ist. Sie legte den Heidekrautstengel in die Nische des
Fensters, das die Diele erhellte. Im selben Augenblick kam Anne-Marie, gefolgt
von einem Mann in einem blauen Gärtneranzug. Der Gärtner nahm Os Koffer. »Na,
immerhin bist du da«, sagte Anne-Marie. »Es ist fast zwei Stunden her, daß Sir
Stephen mich angerufen hat, der Wagen würde dich direkt herbringen. Was war
denn los?« - »Nun, der Chauffeur«, sagte O. »Ich glaubte...« Anne-Marie lachte.
»Ach so«, sagte sie. »Er hat dich vergewaltigt, und du hat es dir gefallen
lassen? Nein, das war nicht vorgesehen, er hatte keineswegs das Recht dazu.
Aber das macht nichts, du bist ja dafür da.« Und sie fügte hinzu: »Du fängst
gut an, ich werde es Sir Stephen erzählen, es wird ihm Spaß machen.« -»Kommt er
her?« fragte O. - »Er hat nicht gesagt, wann«, antwortete Anne-Marie, »aber ich
glaube, ja.« Die Angst, die O die Kehle zuschnürte, löste sich, sie sah
Anne-Marie dankbar an; wie schön und charmant war sie mit ihren graumelierten
Haaren. Über einer schwarzen Hose und schwarzen Bluse trug sie eine Weste aus
scharlachrotem Tuch. Offenbar galt die Vorschrift, der die Frauen in Roissy
unterworfen waren, nicht für sie. »Heute wirst du mit mir mittagessen«, sagte
sie zu O, »und du wirst dich dafür zurechtmachen. Ich bringe dich zur kleinen
Gittertür, wenn der Gong drei Uhr schlägt.« O folgte Anne-Marie, ohne ein Wort
zu sagen, im siebenten Himmel schwebend; Sir Stephen würde kommen.
Anne-Maries Appartement nahm einen Teil des im rechten Winkel zu den
Wirtschaftsgebäuden liegenden Flügels ein, die sich zwischen den Baulichkeiten
des eigentlichen Schlosses und der Straße erstreckten. Anne-Marie hatte hier
einen Salon, durch den man in eine Art von kleinem Boudoir gelangte, ein
Schlafzimmer und ein Bad; die Tür, durch die O eingetreten war, gab Anne-Marie
die Möglichkeit, nach Belieben zu kommen und zu gehen. Ebenso wie in ihrem Haus
in Samois zum Garten, hatten hier Anne-Maries Salon und Schlafzimmer ebenerdige
Ausgänge zum Park. Der Park war sehr gepflegt und weitläufig, und seine sehr
großen Bäume hatte der nahende Herbst noch nicht berührt, während sich der
wilde Wein an den Mauern schon rot zu färben begann. O stand mitten im Salon,
betrachtete die weiße Täfelung, die hellen Nußbaummöbel in rustikalem
Directoire-Stil und das große Sofa in einem Alkoven, das ebenso wie die Sessel
einen gelb und blau gestreiften Bezug hatte. Der Boden war mit blauem Mokett
bedeckt. An den Fenstertüren hingen lange Vorhänge aus blauem Taft. »Du
träumst, O«, sagte Anne-Marie plötzlich zu ihr. »Worauf wartest du, um dich
auszuziehen? Es wird jemand kommen, der deine Sachen holt und dir das bringt,
was du brauchst. Und wenn du nackt bist, komm hierher.« Handtasche, Handschuhe,
Kostümjacke, Pullover, Rock, Strumpfbandgürtel und Strümpfe, alles legte O
zusammen auf einen Stuhl neben der Tür und stellte ihre Schuhe unter den Stuhl.
Dann ging sie auf Anne-Marie zu, die sich, nachdem sie zweimal einen
Klingelknopf gedrückt hatte, auf das Sofa gesetzt hatte. »Aber man sieht ja
jetzt deine kleinen Lippen, seit du epiliert bist«, rief Anne-Marie und zog
sanft an ihnen. »Ich war mir gar nicht darüber klar, daß du so gewölbt und so
hoch geschlitzt warst.« - »Aber«, sagte O, »das sind doch alle...« - »Nein,
mein Herzchen«, sagte Anne-Marie, »nicht alle.« Und ohne O loszulassen, wandte sie
sich an ein großes, brünettes Mädchen, das gerade hereingekommen war,
zweifellos hatte das Läuten ihr gegolten: »Schau, Monique, das ist das Mädchen,
das ich für Sir Stephen gezeichnet habe, ist es nicht gut gelungen?« O spürte,
wie Moniques Hand, die leicht und kühl war, die durch die Initialen
eingegrabenen Rillen auf ihrem Hinterteil befühlte. Dann glitt die Hand
zwischen ihre Schenkel und griff nach der Scheibe, die ihr vom Schoß herabhing.
»Sie ist also auch durchbohrt?« fragte Monique. »Natürlich, er wünschte, daß
ich sie auch mit Eisen versehe«, antwortete Anne-Marie, und O fragte sich
plötzlich, ob »natürlich« bedeutete, daß Anne-Marie es natürlich fand, es zu
tun, oder ob es eine Gewohnheit von Sir Stephen sei; hatte er, wenn das der
Fall war, es vor ihr schon bei anderen machen lassen? Sie hörte, selbst
verblüfft über ihre Kühnheit, wie sie diese letzte Frage an Anne-Marie
richtete, und war immer noch verblüfft, als Anne-Marie antwortete: »Das geht
dich nichts an, O, aber wenn du so verliebt und eifersüchtig bist, dann kann
ich dir immerhin sagen, daß er es nicht hat machen lassen. Ich habe für ihn oft
Mädchen ausgeweitet oder gepeitscht, aber du bist die erste, die ich gezeichnet
habe. Ich glaube wirklich, daß er dich ausnahmsweise liebt.« Dann schickte sie
O ins Badezimmer und sagte ihr, sie solle sich waschen, während Monique ihr ein
Halsband und Armbänder holen sollte. O ließ Wasser einlaufen, schminkte sich
ab, bürstete sich die Haare, stieg in die Badewanne und seifte sich gemächlich
ein. Sie achtete nicht darauf, was sie tat, und dachte, zwischen Neugier und
Freude hin- und hergerissen, an diese Mädchen, die vor ihr Sir Stephen gefallen
hatten. Neugier: sie hätte sie gern kennengelernt. Sie war nicht überrascht,
daß er sie alle hatte ausweiten und peitschen lassen, aber sie war
eifersüchtig, daß es nicht für ihn gewesen war, als es das erste Mal bei ihr
gemacht wurde. In der Badewanne stehend, gebeugt, den Rücken zum Spiegel
gedreht, der die Wand verkleidete, seifte sie sich mit den Fingern das Innere
des Schoßes und der Lenden ein, und nachdem sie den Schaum abgespült hatte, zog
sie sich die Pobacken auseinander, um sich im Spiegel zu betrachten: da war
das, was sie gern bei einem seiner Mädchen gesehen hätte. Wie lange hatte er
sie behalten? Sie hatte sich also nicht getäuscht, als sie das Gefühl gehabt
hatte, daß schon andere vor ihr, nackt und unterwürfig und sie fürchtend wie
sie, der alten Norah gefolgt waren. Aber daß sie die einzige gewesen war, die
seine Eisen und sein Zeichen trug, erfüllte sie mit Glück. Sie stieg aus dem
Wasser und trocknete sich ab: Anne-Marie rief sie.
Auf Anne-Maries Bett, das mit einer Steppdecke aus demselben weißen und blauen
Perkal wie die doppelten Vorhänge des Fensters bedeckt war, lag ein Haufen
Abendkleider, Korsetts, Pantoffeln mit hohem Absatz und das Kästchen mit
Armbändern. Anne-Marie saß am Fußende des Bettes und ließ O vor sich
niederknien, holte aus ihrer Hosentasche den flachen Schlüssel, der die
Schlösser der Halsbänder und Armreifen öffnete und der mit einer langen Kette
an ihrem Gürtel befestigt war. Sie probierte O verschiedene Halsbänder an, bis
sie eins fand, das ihr, ohne zu drücken, den Hals genau in der Mitte
ausreichend fest umschloß, so daß es schwierig war, den Hals zu drehen, aber
noch schwieriger, einen Finger zwischen Haut und Metall zu stecken. Ebenso an
ihren Handgelenken, genau oberhalb des Gelenks, das frei blieb, die Armreifen.
Das Halsband und die Armreifen, die O im vergangenen Jahr getragen und bei
anderen gesehen hatte, waren aus Leder und sehr viel enger gewesen: diese hier
waren aus nichtrostendem Eisen mit einzelnen Gliedern und halb starr, wie man
sie aus Gold für manche Armbanduhren herstellt. Sie waren fast zwei Fingerbreit
hoch, und an jedem war ein Ring aus demselben Metall. Niemals waren O die
Lederreifen des vergangenen Jahres so kalt vorgekommen und hatten bei ihr so
sehr das Gefühl erweckt, nun endgültig angekettet zu sein. Das Eisen hatte
dieselbe Farbe und denselben matten Glanz wie die Eisen an ihrem Schoß. Anne-Marie
sagte ihr in dem Augenblick, als der letzte Haken einschnappte, der das
Halsband schloß, sie dürfe, solange sie in Roissy sei, sie weder bei Tag noch
bei Nacht ablegen, nicht einmal zum Baden. O stand auf, und Monique nahm sie an
der Hand, führte sie vor den großen dreiteiligen Spiegel und schminkte ihr den
Mund mit einem hellen Rouge, das ein wenig flüssig war und mit dem Pinsel
aufgetragen wurde; als es trocknete, wurde es dunkler. Mit demselben Rouge
malte sie ihr den Warzenhof und die Spitzen der Brüste an, und auch die kleinen
Lippen zwischen ihren Schenkeln, und unterstrich damit die Falte ihres Schoßes.
O erfuhr niemals, welches der Trägerstoff für die Farbe war, aber es war eher
ein Färbemittel als Schminke: es verwischte nicht, wenn man darüberstrich, und
Reinigungsmilch, selbst Alkohol entfernten es nur schwer. Man ließ sie ihr
Gesicht pudern, nachdem es geschminkt war, und Pantoffeln in ihrer Größe
auswählen; als sie aber einen der Spritzflakons vom Frisiertisch nehmen wollte,
rief Anne-Marie: »O, bist du närrisch? Warum, glaubst du, hat Monique dich
geschminkt? Du weißt genau, daß du nicht das Recht hast, dich jetzt zu
berühren, da du alle Eisen hast.« Sie nahm den Flakon selbst, und im Spiegel
sah O ihre Brüste und Achselhöhlen unter den feinen, gedrängten Tröpfchen
glänzen, als ob sie mit Schweiß bedeckt seien. Dann brachte Anne-Marie sie
wieder zu der Bank am Frisiertisch und sagte ihr, sie solle ihre Schenkel heben
und öffnen, und Monique packte sie an den Kniekehlen und hielt sie gespreizt.
Die Parfumwolke, die sich in der Höhlung ihres Schoßes und zwischen ihren
Pobacken ausbreitete, brannte so stark, daß sie stöhnte und sich wand. »Halte
sie so, bis es trocken ist«, sagte Anne-Marie, »und dann suchst du ihr ein
Korsett.« O war erstaunt, welche Freude es ihr machte, wieder in das schwarze
Korsett eingezwängt zu sein. Sie hatte gehorcht und tief eingeatmet, damit ihre
Taille und ihr Bauch sich verengten, als Anne-Marie es ihr befohlen hatte,
während Monique sie schnürte. Das Korsett reichte bis unter die Brüste, und
durch ein leichtes Gestell wurden sie getrennt und von einer schmalen
Einfassung so gut gestützt, daß sie nach vorn gedrängt wurden und nun um so
natürlicher und zarter wirkten. »Deine Brüste sind wirklich sehr geeignet für
die Reitpeitsche, O«, sagte Anne-Marie, »du bist dir wohl darüber klar, nicht
wahr?« -»Ja, ich weiß«, sagte O, »aber ich flehe Sie an ...« Anne-Marie lachte.
»Ach, darüber entscheide doch nicht ich, aber wenn die Kunden Verlangen danach
haben, dann kannst du immer noch flehen.« Ohne daß es ihr richtig bewußt wurde,
war sie bestürzter über das Wort Kunde als über den plötzlichen Schrecken der
Peitsche. Warum Kunden? Aber sie hatte nicht Zeit, sich darüber den Kopf zu
zerbrechen, so erschüttert war sie von dem, was ihr Anne-Marie, ohne sich etwas
dabei zu denken, eine Minute später enthüllte. Sie stand vor dem Spiegel, hatte
ihre Pantöffelchen an den Füßen und die Taille in das Korsett eingezwängt.
Monique trat auf sie zu und hatte über dem Arm einen Rock und ein Mieder aus
schwerer gelber Seide, mit grauen Ranken durchwirkt. »Nein, nein«, rief
Anne-Marie, »erst ihre Uniform.« - »Was für eine Uniform?« fragte O. »Dieselbe,
die Monique trägt, das siehst du doch«, sagte Anne-Marie. Monique trug ein
Kleid, das deutlich denselben Schnitt hatte wie die langen Kleider, die O
kannte, das aber zweifellos durch das Material strenger wirkte, einen sehr
dunklen, blaugrauen Wollstoff, mit einem Fichu, das gleichzeitig die Schultern,
die Brust und den Kopf bedeckte. Als O ein solches Kleid angezogen worden war
und sie sich neben Monique im Spiegel sah, verstand sie, warum sie so erstaunt
gewesen war, als sie Monique gesehen hatte: es war eine Tracht, die an die
Verurteilten der Frauengefängnisse oder an die Dienerinnen in Nonnenklöstern
denken ließ. Aber nicht, wenn man genau hinschaute. Der weite, bauschige Rock,
mit Taft in derselben Farbe gefüttert, war in großen, nicht eingebügelten
Kellerfalten an einem fadengeraden Gurtband festgenäht, das auf das Korsett
aufgeknöpft wurde, genau wie bei festlichen Abendkleidern. Aber obwohl der Rock
geschlossen aussah, war er in der Mitte des Rückens von der Taille bis zu den
Füßen offen. Wenn man nicht gerade an der einen oder anderen Seite an ihm zog,
fiel es gar nicht auf. O merkte es erst, als er ihr angezogen wurde, und hatte
es bei Monique nicht gesehen. Das Mieder, das auf dem Rücken geknöpft und über
dem Rock getragen wurde, hatte kurze, ausgezackte Schöße, die den Beginn der
Falten eine Handbreit überdeckten. Durch Abnäher und zwei elastische Keile war
es eng anliegend. Die Ärmel waren angeschnitten, nicht eingesetzt, und hatten
auf der Oberseite eine Naht, die die Schulternaht verlängerte und am Ellbogen
in einem sehr breiten, ausgebauchten Schrägstreifen endete. Ein ebensolcher
Schrägstreifen umrandete das Dekollete, das genau dem Ausschnitt des Korsetts
entsprach. Aber ein großer viereckiger Schal aus schwarzer Spitze, dessen einer
Zipfel, der den Kopf bedeckte, bis zur Mitte der Stirn herabhing, und dessen
anderer Zipfel bis zu den Schulterblättern reichte, wurde mit vier Druckknöpfen
gehalten, zwei auf der Schulternaht und zwei am Schrägstreifen des Dekolletes
in Höhe des Brustansatzes, zwischen denen sich die beiden letzten Zipfel
überkreuzten und von einer langen Stahlnadel auf dem Korselett festgehalten
wurden. Die über die Haare gelegte und durch einen Kamm befestigte Spitze
umrahmte das Gesicht und verhüllte die Brüste ganz, war aber so schmiegsam und
durchsichtig, daß man den Warzenhof ahnte und begriff, daß sie unter dem Fichu
frei waren. Im übrigen brauchte man nur die Nadel herauszuziehen, damit sie
ganz nackt waren, ebenso wie man hinten bloß die beiden Seiten des Rocks
auseinanderzuschlagen brauchte, damit die Kruppe nackt war. Ehe Monique ihr die
Tracht raffte, zeigte sie O, daß zwei Bänder, die die beiden Bahnen anhoben und
die auf der Vorderseite der Taille verknotet wurden, es einfach machten, sie
offen zu halten. Das war der Augenblick, in dem Anne-Marie den Kernpunkt der
von O gestellten Frage beantwortete. »Das ist die Uniform der Gemeinschaft«,
sagte sie. »Du brauchtest sie bisher nicht, weil du durch deinen Geliebten auf
seine eigene Rechnung hierher gebracht worden warst. Damals gehörtest du nicht
zur Gemeinschaft.« -»Aber«, sagte O, »das verstehe ich nicht. Ich war doch wie
die anderen Mädchen, jeder konnte...« - »Jeder konnte mit dir schlafen?
Selbstverständlich. Aber das geschah, weil dein Geliebter dabei Lust empfand,
und es ging nur ihn etwas an. Jetzt ist es anders. Sir Stephen hat dich der
Gemeinschaft zur Verfügung gestellt; ja, jeder wird mit dir schlafen können,
doch das geht das Haus an. Du wirst dafür bezahlt.« - »Bezahlt!« unterbrach O
sie. »Aber Sir Stephen...« Anne-Marie ließ sie nicht aussprechen. »Hör mal zu,
O, das reicht jetzt. Wenn Sir Stephen will, daß du gegen Geld mit Männern
schläfst, dann steht ihm das frei, glaube ich. Dich geht das nichts an. Schlafe
und schweige. Was das übrige betrifft, was du sonst zu tun hast, so wirst du
mit Noelle zusammenarbeiten, die es dir erklären soll.«
Das Mittagessen in Anne-Maries Boudoir war seltsam. Ein Diener hatte es auf
einem Tisch mit Wärmeplatte gebracht. Monique in ihrer Uniform hatte serviert,
nachdem sie die vier Gedecke hingelegt hatte: das von Anne-Marie, das von O,
das von Noelle und das ihre. Vorher hatte O noch verschiedene Kleider
anprobiert. Anne-Marie ließ für sie das Kleid in Grau und Gelb beiseite legen,
das sie an diesem Tage tragen sollte, dann ein blaues, ein weiteres in einem
matten Blau, grünmeliert, und schließlich ein sehr enges Kleid aus Jersey-Plissee,
das vorn von der Taille an offen war. Es war dunkelviolett, und Os bleicher
Schoß, durch die Ringe beschwert und so nackt, war selbst dann zu sehen, wenn
sie sich nicht bewegte, ebenso wie ihre entblößten Brüste. In das Zimmer, das O
bewohnen sollte und das mit dem von Noelle verbunden war, hatte der Diener alle
beiseite gelegten Kleider mit Ausnahme des gelben gebracht. Die übrigen sollte
Monique wieder in der Kleiderkammer abliefern. O sah, wie Noelle, die ihr
gegenübersaß, lachte, weil das schwarze Roßhaar ihres Stuhlsitzes sie kitzelte,
sie sah Anne-Marie an, die drauf und dran war, ärgerlich zu werden, und
Monique, die ihre Aufmerksamkeit dem Servieren zuwandte; zweimal, als Monique
aufstand, sah O, daß Anne-Marie, an der sie rechts vorbeiging, mit der Hand in
den Schlitz ihres Rocks griff. Monique blieb stehen, und O erriet an der
leichten Beugung ihres Körpers, daß sie sich der Hand hingab, die in ihr
wühlte. »Warum hat er mir nichts gesagt?« wiederholte sich O immer wieder,
»warum nur?« Und einmal glaubte sie, Sir Stephen habe sie ganz einfach
aufgegeben, nach Roissy geschickt, Roissy zur Verfügung gestellt, wie
Anne-Marie sich ausdrückte, und dann wieder glaubte sie das Gegenteil, daß er
sie um so mehr begehre; also hatte Anne-Marie recht, daß das, was er wollte,
sie nichts anging, und ebenso wenig die Gründe, warum er es wollte; es genügte,
daß es sein Wille sei. Und an diesem Punkt fing alles wieder von vorn an:
»Warum hat er es nicht gesagt? Warum nur?« Und was soll man tun, um zu verhindern,
daß die Tränen wieder fließen, was soll man tun, damit es wenigstens niemand
sieht? Noelle sah es. Sie lächelte O lieb an und machte: nein, nein! mit dem
Finger. O lächelte zurück und wischte sich die Augen mit beiden Fäusten, wie
gescholtene Kinder es tun: sie hatte keine Serviette, und sie war nackt. Zum
Glück sah Anne-Marie, die Monique veranlaßt hatte, die Nadel ihres Fichus
herauszuziehen, und nun die braunen Spitzen ihrer Brüste streichelte, O nicht
an; sie erspähte in Moniques Gesicht das Aufkeimen der Lust, und während sie
sie liebkoste, fragte sie sie aus: wieviel Männer seit dem Vorabend in ihren
Körper eingedrungen seien, wer sie waren, ob sie sich ihnen ebenso gut geöffnet
habe, wie sie sich jetzt öffne? Bei diesem letzten Wort rief Anne-Marie Noelle
und O, und ohne Monique loszulassen, bedeutete sie ihnen, sie sollten die
Bahnen von Moniques Kleid hochheben und befestigen. Monique hatte gebräunte
Lenden und zarte, unversehrte Schenkel. Mit tonloser Stimme hatte sie jede
Frage beantwortet: fünf Männer hatten sie besessen, drei davon kannte sie
nicht; sie nannte die Namen der beiden anderen. Ja, sie habe sich so gut
geöffnet, wie sie konnte. Anne-Marie bog sie nach vorn und ließ die beiden
anderen Mädchen sehen, wie leicht sie abwechselnd in Moniques Schoß und in ihre
Lenden die beiden längsten Finger ihrer Hand einführte. Jedesmal verschloß sich
Monique wieder vor ihnen und stöhnte dabei: man sah, wie sich ihre Hinterbacken
zusammenzogen. Schließlich schrie sie regelrecht, die Hände vor ihren Brüsten
verkrampft, den Kopf unter dem Spitzenschleier auf die Schulter zurückgebogen,
die Augen geschlossen. Anne-Marie ließ sie gehen.
Erst nach Mitternacht wurde O am Abend ihres ersten Tages in ihr Zimmer geführt
und dort angekettet. Am Nachmittag war sie in der Bibliothek geblieben, angetan
mit ihrem schönen Kleid in Gelb und Grau, mit Taft in demselben Gelb gefüttert,
das sie in beide Arme nahm, um es hochzuheben, als man ihr sagte, sie solle
sich schürzen; Noelle, die das gleiche Kleid in Rot trug, war bei ihr, und zwei
andere blonde Mädchen, deren Namen Noelle ihr erst sagte, als sie abends allein
waren: das Schweigegebot in Gegenwart eines Mannes, was immer er auch war,
Gebieter oder Diener, galt unbedingt. Es war genau drei Uhr, als die vier Mädchen
den leeren Raum betraten, dessen Fenster weit offenstanden. Es war mild, die
Sonne schien auf die Mauer, die rechtwinklig zum Hauptgebäude verlief, der
Widerschein erhellte mit einem indirekten Licht eine der mit Efeu bewachsenen
Wände. O hatte sich getäuscht; der Raum war nicht leer: ein Diener hielt Wache
an einer Tür. O wußte, daß sie ihn nicht ansehen durfte, aber sie konnte es
sich nicht verkneifen, hütete sich allerdings, die Augen höher als bis zu
seinem Gürtel zu heben, und wurde wieder von der Panik und der Faszination
gepackt, die sie ein Jahr zuvor empfunden hatte: nein, sie hatte nichts
vergessen, und dennoch war es schlimmer als in ihrer Erinnerung, dieses
Geschlecht, so frei in einem Beutel und so sichtbar zwischen den Beinen der
schwarzen Strumpfhose, wie man es in den Archiven auf Bildern aus dem 16.
Jahrhundert sieht - und die Riemen der Peitsche, die er im Gürtel stecken
hatte. Am Fuß der Sessel standen Schemel, O saß auf einem davon nach dem
Beispiel der drei anderen Mädchen, ihr Kleid ausgebreitet um sich herum. Und
so, von unten, sah sie, genau vor sich, den reglosen Mann. Das Schweigen war so
bedrückend, daß O nicht einmal wagte, ihr Kleid zu bewegen: die Seide knisterte
so laut. Sie stieß einen Schrei aus, als sie plötzlich ein Geräusch hörte: ein
brünetter, stämmiger junger Mann im Reitanzug, einen Reitstock in der Hand,
kleine vergoldete Sporen an den Stiefeln, war hereingekommen, indem er einfach
über die Fensterbank gestiegen war. »Ein hübsches Bild«, sagte er, »ihr seid
sehr brav, habt ihr keine Liebhaber? Seit einer Viertelstunde beobachte ich
euch schon durch das Fenster. Aber die Schöne in Gelb«, fügte er hinzu und
strich mit dem Ende seines Reitstocks über Os Brüste, die erschauerte, »du bist
nicht so brav.« O stand auf. In diesem Augenblick kam Monique herein, das Kleid
aus mauve Satin bis über den Schoß geschürzt, wo ein Dreieck aus schwarzem
Vlies den Ausgangspunkt der langen Schenkel anzeigte, die O nur von hinten
gesehen hatte. Ihr folgten zwei Männer. O erkannte den ersten wieder: es war
derjenige, der ihr im vergangenen Jahr die Regeln von Roissy dargelegt hatte.
Er erkannte sie auch und lächelte ihr zu. »Sie kennen sie?« fragte der junge
Mann. »Ja«, antwortete der andere, »sie heißt O. Sie ist für Sir Stephen
gezeichnet, der sie von René R. übernommen hat. Im vorigen Jahr ist sie ein
paar Wochen hiergeblieben, Sie waren damals nicht da. Wenn Sie sie wollen,
Franck...« - »Na, ich weiß nicht«, sagte Franck. »Aber Sie wissen nicht, was
Ihre O gemacht hat in der Viertelstunde, in der ich sie beobachtet habe und sie
mich nicht sah. Ununterbrochen hat sie José angeschaut, aber nicht höher als
bis zum Gürtel.« Die drei Männer lachten. Franck packte O an der Brustspitze
und zog sie zu sich. »Antworte, du kleine Nutte, worauf hast du Lust? Auf die
Peitsche von José oder seinen Schwanz?«. Puterrot vor brennender Scham, verlor
O jeden Maßstab für das, was erlaubt und was verboten war, fuhr zurück, riß
sich von den Händen des jungen Mannes los und schrie: »Lassen Sie mich, lassen
Sie mich!« Er fing sie wieder ein, als sie gegen einen Sessel getaumelt war,
und brachte sie zurück. »Du darfst nicht weglaufen«, sagte er, »die Peitsche
wird dir José sofort verabfolgen.« Ah, nicht stöhnen, nicht flehen, nicht um
Gnade und Verzeihung bitten! Aber sie stöhnte und weinte und bat um Gnade, wand
sich, um den Schlägen auszuweichen, versuchte, Francks Hände zu küssen, der sie
hielt, während der Diener sie peitschte. Eins der blonden Mädchen und Noelle
hoben sie auf und ließen ihr den Rock wieder herunter. »Jetzt werde ich sie
mitnehmen«, sagte Franck, »meine Meinung werde ich Ihnen dann gleich sagen.«
Aber als sie ihm in sein Zimmer gefolgt war und nackt in seinem Bett lag, sah
er sie lange an, und ehe er sich neben sie legte, sagte er: »Verzeih, O, aber
hat dich dein Geliebter auch peitschen lassen?« - »Ja«, sagte O, dann zögerte
sie. »Ja, sprich«, sagte er. »Er beleidigt mich nicht«, sagte O. »Bist du
sicher?« fragte Franck. »Hat er dich niemals Nutte genannt?« O schüttelte den
Kopf, um nein zu sagen, und im selben Augenblick wußte sie, daß sie log: Sir
Stephen hatte sie sehr wohl als Nutte bezeichnet, als er in dem Séparé bei La
Pérouse von ihr sprach und sie den beiden Engländern auslieferte und verlangte,
daß sie während des Essens ihre mißhandelten Brüste entblößte. Sie schaute auf
und sah Francks Augen auf sich gerichtet, dunkelblau, sanft, fast mitleidig; er
hatte verstanden, daß sie log. Sie murmelte und antwortete damit auf das, was
er nicht gesagt hatte: »Wenn er es tut, dann hat er recht.« Er küßte sie auf
den Mund. »Liebst du ihn so sehr?« fragte er. »Ja«, antwortete O. Darauf sagte
Franck nichts mehr. Er liebkoste sie lange mit den Lippen in der Tiefe ihres
Schoßes, bis sie keuchte und ihr der Atem stockte. Nachdem er dann in sie
eingedrungen war, vertauschte er den Schoß mit den Lenden und rief sie leise:
»O.« O spürte, wie sie sich zusammenzog um diesen Pfahl aus Fleisch, der sie
ausfüllte und verbrannte. Er ergoß sich in sie und schlief dann plötzlich ein,
sie an sich drückend, die Hände auf ihren Brüsten, seine Knie in ihre
Kniekehlen gepreßt. Es war kühl. O zog das Laken und die Decke hoch und schlief
auch ein. Der Tag ging zur Neige, als sie aufwachten. Seit wieviel Monaten war
dies das erste Mal, daß O so lange in den Armen eines Mannes geschlafen hatte?
Alle, und vor allem Sir Stephen, gingen mit ihr ins Bett, dann ließen sie sie
allein oder schickten sie weg. Und dieser hier, der sie eben erst so brutal
behandelt hatte und jetzt neben ihren Knien saß, fragte sie scherzend, wie Hamlet
Ophelia (Ophelia wegen O), ob er sich in ihren Schoß betten könne. Den Kopf an
ihren Leib gelegt, betrachtete er ihre Eisen, die ihm über die Schulter fielen,
von allen Seiten. Er knipste die Nachttischlampe an, um sie besser sehen zu
können, las laut den Namen von Sir Stephen, der auf der Scheibe stand, und als
er den Reitstock und die Peitsche bemerkte, die kreuzweise über dem Namen
eingraviert waren, fragte er O, was Sir Stephen am liebsten verwende, den Stock
oder die Peitsche. O antwortete nicht. »Antworte, Kleines«, sagte er zärtlich.
»Ich weiß es nicht«, sagte O, »beide. Aber bei Norah war es immer die
Peitsche.« - »Wer ist Norah?« Seine Stimme klang so ungezwungen, so
vertraulich, er erweckte so sehr den Eindruck, daß es selbstverständlich sei,
ihm zu antworten, daß es genau so sei, als ob man sich selbst antworte, als ob
man laut mit sich selbst rede, daß O antwortete, ohne darüber nachzudenken.
»Seine Dienerin«, sagte sie. »Also war es richtig, daß ich dich durch José
peitschen ließ.« - »Ja«, sagte O dann. »Und von dir«, fragte der junge Mann,
»was hat er da am liebsten?« Er wartete, O antwortete nicht. »Ich weiß es«,
sagte er. »Liebkose mich auch mit dem Mund, O, ich bitte dich drum.« Und er
rutschte hinauf, bis er über ihr war, und sie liebkoste ihn. Dann nahm er sie
mit beiden Händen um die Taille, um ihr beim Aufstehen zu helfen, sagte »fein,
fein, fein«, küßte ihre Brüste und schnürte ihr das Korsett. O ließ es
geschehen, ohne ihm auch nur zu danken, betroffen von der Freundlichkeit,
besänftigt: er hatte von Sir Stephen gesprochen. Als er ihr schließlich sagte,
ehe er nach einem Diener klingelte, um sie zurückzubringen, nachdem sie ihr
Kleid wieder angezogen hatte: »Ich werde dich morgen wieder kommen lassen, O,
aber ich werde dich selbst schlagen«, da lächelte sie, weil er hinzufügte: »Ich
werde dich schlagen wie er.«
Abends erfuhr O von Noelle, daß die Diener zwar die Mädchen in den
Gemeinschaftsräumen nicht anrühren durften, mit Ausnahme des Refektoriums, wo
sie zu befehlen hatten, daß die Mädchen aber überall dort (doch nur dort) ihrer
Willkür preisgegeben waren, wohin ihr Dienst sie rief: in ihrem Zimmer, wenn
sie dort allein waren, in den Umkleideräumen, notfalls auf den Korridoren oder
in den Vestibülen. Der Zufall wollte es, daß es José war, der auf Francks
Klingelzeichen hin kam. Er war jung, groß und kräftig; das von Natur aus
arrogante Wesen der Spanier paßte zu seinem maurischen Gesicht. O wurde wieder
von einer entsetzlichen Scham gepackt, als sie ihm auf klappernden
Pantöffelchen den großen Korridor entlang folgte; nicht, weil er sie gepeitscht
hatte, sondern weil sie sicher war, daß er glaubte, was Franck gesagt hatte,
und er nicht daran zweifelte, daß sie ihn begehrte. Sie konnte den Gedanken an
das, was ihr eines Tages ein Kolonialoffizier von maurischen Soldaten erzählt,
nicht vertreiben: wenn sie können, dann tun sie den ganzen Tag nichts als
Frauen beschlafen. José hatte noch nicht zehn Schritte getan, als er sich
tatsächlich umdrehte, und bei der ersten besten Bank, die er an die Wand schob,
damit sie bequemer sei, O packte und auf den Rücken legte. Er besaß sie in
aller Muße, und O, wütend über sich selbst, aber aufgewühlt wie von einer
Eisenstange, konnte ihrem Stöhnen nicht Einhalt gebieten. »Du bist zufrieden«,
sagte er, »das gefällt dir wohl?« Seine weißen Zähne blitzten in dem dunklen
Gesicht. O schloß die Augen, um sein Lächeln nicht zu sehen. Aber er beugte
sich über sie und nahm ihre Zunge. Warum zitterte O bei dem Gedanken, daß
Francks Tür sich öffnen könnte?
Im Umkleideraum im Erdgeschoß, wohin José sie dann brachte, fand O Noelle, die
ihren Rock hochhielt, während ein Mädchen in Uniform, aber ohne Fichu, sie
duschte. O hockte sich wie sie auf den türkischen Sitz neben dem ihren. Als das
Wasser ganz aus ihr herausgeflossen war, wurde sie von demselben Mädchen einen
Augenblick eingeseift, dann mit dem Wasserstrahl abgespült, der durch einen
Fingerdruck auf eine Feder aus einem metallenen Spiralschlauch sprudelte; der
Schlauch endete in einer dünnen Kanüle aus Hartgummi. Der Strahl war sanft, das
Wasser aber sehr kalt, noch kälter, schien es ihr, als sie spürte, wie es sich
in die Tiefe ihrer Lenden, dann ihres Schoßes ergoß. Mußte sie denn so lange
duschen, erst die Lenden und dann das Innere der Schenkel und die Spalte ihres
Schoßes? Bei ihrem ersten Aufenthalt in Roissy hatte sie nicht einmal von der
Existenz der Umkleideräume gewußt. Außerdem war sie nie in anderen Zimmern
außer ihrem eigenen gewesen. »Ach, O, jedesmal, wenn man hinaufgeht«, sagte ihr
Noelle, als sie sie fragen konnte, »wird man geduscht, wenn man wieder
herunterkommt.« - »Aber warum so lange und so kalt?« - »Ich mag das gern«,
sagte Noelle. »Man ist ganz frisch hinterher und wieder schön eng.« Das
Mädchen, das die Aufsicht hatte, trug ihnen beiden dann Parfüm und Rouge auf.
Sie schminkten sich und bürsteten sich die Haare. Das Parfüm erwärmte O ein
bißchen. Noelle nahm sie an der Hand. Sie besaß die Schönheit der Irinnen oder
der Frauen von La Rochelle mit sehr schwarzen Haaren, weißer Haut und blauen
Augen. Sie war nicht größer als O, aber ihre Schultern waren schmal und ihr
Kopf ganz klein, ihre Brüste klein und spitz, ihre Hüften breit und rund. Ihre
Stupsnase und die schwellenden Lippen, die immer halb geöffnet waren, verliehen
ihr einen heiteren Ausdruck. Aber sie war wirklich fröhlich; wenn sie irgendwo
eintrat, hätte man immer gedacht, daß sie zu einem Fest käme. Ihre Munterkeit
hatte etwas Entwaffnendes. Sie bot sich mit einem so zauberhaften Lächeln an,
sie hob mit solcher Beflissenheit ihre Röcke, um ihr schönes, weißes Hinterteil
zu entblößen, daß sie selten ernstlich geschlagen wurde: »nur so viel, wie
nötig ist«, sagte sie zu O, »aber mir steht es nicht, gezeichnet zu werden.«
Als sie wieder in den Salon kamen, wo die Lampen angezündet waren, konnte O
sowohl Noelles Grazie als auch den Erfolg bewundern, den diese Grazie erzielte.
Die drei Männer, die auf den Ledersesseln saßen - zwei mit zwei blonden Mädchen
zu ihren Füßen, und beim dritten Monique, die die Männer gar nicht beachteten
(eins der Mädchen war die Madeleine vom vergangenen Jahr) - schauten sich um
und erkannten Noelle. Einer der beiden rief sie sofort zu sich und sagte: »Komm
und gib mir deine hübschen Brüste.« Sie beugte sich über den Sessel, die Hände
auf den Lehnen, die Brüste genau in Höhe des Mundes des Mannes, ohne die
geringste Hemmung, offenbar glücklich, ihm zu gefallen. Es war ein Mann in den
Vierzigern, kahlköpfig, Sanguiniker, O sah seinen roten Nacken, der zwei Wülste
über dem Kragen seines Jacketts bildete, und dachte an den falschen Deutschen,
dem Sir Stephen sie erst am vorigen Abend ausgeliefert hatte; er sah ihm
ähnlich. Der Mann, der bei Monique gesessen hatte, ging hinter Noelle vorbei
und fuhr ihr mit der Hand über die Lenden. »Sie erlauben, Pierre?« sagte er zu
dem ersten. »Noelle müßte man um Erlaubnis bitten«, antwortete er und fügte
hinzu: »Aber es ist nicht der Mühe wert, nicht wahr, Noelle?« -»Nein«, sagte
Noelle. O betrachtete sie: sie war hinreißend, wie sie Kopf und Hals nach
hinten bog, um ihre Brüste besser zu präsentieren, und ein hohles Kreuz machte,
um ihr Hinterteil besser darzubieten. War es wegen des Vergnügens, das es ihr
bereitete, sich ansehen zu lassen, daß sie solch Begehren erweckte? Der
Gefährte von Monique hatte ihr ein Zeichen gegeben, ihm die Kleider zu öffnen,
und O sah zu, wie er sich zwischen Noelles Schenkeln hochreckte. Schließlich
nahmen die drei Männer sie nacheinander, rosig und schwarz in der Tiefe ihrer
Schenkel, heiter und weiß wie Milch in ihrem wirbelnden roten Kleid. Und sofort
war sie es und O - »die Kleine, da sie bei ihr ist«, sagte der, der Pierre hieß
- die sie einstimmig auswählten, als ein Diener kam und fragte, ob man zwei
Mädchen entbehren könne, um sie in die Bar zu schicken. »Man darf sie nicht
arbeitslos werden lassen«, sagte Pierre.
Es gab drei Gittertüren in Roissy. Der Teil des Gebäudes, in den man nur
gelangen konnte, wenn man eine der drei Gittertüren durchschritt, wurde nicht
ohne Kinderei die große Klausur genannt. Hier hatten nur die Genossen oder,
einfacher gesagt, die Klubmitglieder, Zutritt. Hier lagen im Erdgeschoß rechter
Hand ein großes Vestibül (zu dem eine der Gittertüren führte, die größte), die
Bibliothek, ein Salon, ein Rauchzimmer, ein Umkleideraum und linker Hand das
Refektorium der Mädchen und daneben ein Zimmer, das den Dienern vorbehalten
war. Einige Zimmer im Erdgeschoß wurden von den Mädchen bewohnt, die von
Klubmitgliedern hergebracht worden waren, wie O von René. Die anderen Zimmer in
den Stockwerken waren für die Mitglieder, die sich in Roissy aufhielten.
Innerhalb der Klausur durften die Mädchen nur in Begleitung umhergehen; sie
waren zu absolutem Schweigen verpflichtet, selbst untereinander, und mußten die
Augen gesenkt halten; stets waren ihre Brüste nackt und meistens auch der Rock
vorn oder hinten hochgeschlagen. Man verfügte nach Belieben über die Mädchen.
Wie immer man sich ihrer bediente, was immer man von ihnen forderte, es kostete
nicht mehr. Man konnte dreimal im Jahr kommen oder dreimal in der Woche, eine
Stunde oder vierzehn Tage hier bleiben, ein Mädchen nur ausziehen oder es bis
aufs Blut peitschen, der jährliche Mitgliedsbeitrag war derselbe. Der
Aufenthalt wurde wie in einem Hotel berechnet. Die zweite Gittertür trennte von
diesem zentralen Teil des Gebäudes einen Flügel, der die kleine Klausur genannt
wurde. In seiner Verlängerung lagen die Wirtschaftsgebäude, wo Anne-Marie
wohnte. In der kleinen Klausur logierten die Mädchen der eigentlichen
Gemeinschaft, und zwar sozusagen in Doppelzimmern, denn sie waren durch eine
halbe Trennwand unterteilt; an diese Wand stießen zu beiden Seiten die
Kopfenden der Betten. Es waren gewöhnliche Betten, nicht ein mit Pelz bedeckter
Divan wie in dem Zimmer, in dem O das erste Mal untergebracht gewesen war. Die
beiden Zimmer hatten jeweils ein Bad und eine gemeinsame Garderobe. Die Türen
ließen sich nicht abschließen, und die Klubmitglieder konnten im Laufe der
Nacht, die die Mädchen angekettet verbrachten, jederzeit hereinkommen. Aber
abgesehen von dem Anketten gab es keine bindende Vorschrift. Jenseits der
dritten Gittertür, die, wenn man vor der Hauptgittertür stand, linker Hand lag
- die zweite rechter Hand -, befand sich der frei zugängliche und gleichsam
öffentliche Teil von Roissy: ein Restaurant, eine Bar, kleine Salons im
Erdgeschoß, und in den Stockwerken die Zimmer. Die Klubmitglieder konnten in
der Bar und im Restaurant ihre Gäste empfangen, ohne daß diese ein
Eintrittsgeld bezahlen mußten. Aber jedermann oder annähernd jedermann konnte
sich einen »vorläufigen Ausweis« ausstellen lassen, der für zwei Besuche galt
und sehr teuer war. Man erwarb damit lediglich das Recht, das auch den Gästen
eingeräumt wurde, in der Bar zu trinken, das Mittag- oder Abendessen zu
verzehren, ein Zimmer zu nehmen und sich ein Mädchen heraufkommen zu lassen,
und alles wurde gesondert in Rechnung gestellt. Im Restaurant und in der Bar
gab es einen Oberkellner und einen Barmixer und einige Kellner - die
Küchenräume lagen im Souterrain -, aber die Mädchen bedienten an den Tischen.
Im Restaurant trugen sie die Uniform. In der Bar - angetan mit seidenen
Abendkleidern, einer Spitzenmantille ähnlich der Mantille der Uniform, die das
Haar, die Schultern und die Brust bedeckte -hielten sie sich nur auf, um darauf
zu warten, daß man sie wähle. Das Restaurant und die Bar deckten normalerweise
ihre Unkosten, das Hotel auch. Das Geld, das die Mädchen verdienten, wurde nach
festgelegten Sätzen geteilt: so und so viel für Roissy, so und so viel für das
Mädchen. Der Preis war nicht für alle gleich: O erfuhr, daß sie das Doppelte bezahlt
bekommen würde, weil sie offiziell einem Klubmitglied gehörte und Eisen und ein
Zeichen trug. Bei zwei anderen Mädchen verhielt es sich genau so, eine davon
war die kleine, rundliche Rothaarige mit der weißen Haut, die sie bei
Anne-Marie gesehen hatte. Ein Mädchen peitschen kostete extra, sie durch einen
Diener peitschen lassen ebenso. Die Rechnungen wurden im Büro des Hotels
bezahlt, Trinkgelder direkt ausgehändigt. Die unmittelbare Nähe von Paris, das
fürstliche und dennoch diskrete Aussehen der Gebäude, die komfortable
Einrichtung und die Vorzüglichkeit des Restaurants, das Theatralische an der
Kostümierung der Mädchen und die Anwesenheit der Diener, die Gefahrlosigkeit
und Ungezwungenheit des Geschlechtsverkehrs, schließlich und vor allem das, was
man über die Vorgänge hinter den Gittertüren der Klausur wußte, all das trug
Roissy zahlreiche Kunden ein, die fast ausschließlich Geschäftsleute waren, und
unter ihnen ebenso viel Ausländer wie Franzosen. Das öffentliche Roissy
existierte ebenso wenig wie das heimliche Roissy: Country Club war eine
Bezeichnung, die niemanden täuschte, aber es kam häufig vor, daß der Mann mit
den grauen Schläfen, der als der Hausherr von Roissy galt, aber nur der
Verwalter war, das eine oder andere Mädchen über einen sich nur kurz hier
aufhaltenden Gast ausfragte - abgesehen davon, daß Pässe oder Ausweise
vorgelegt werden mußten (es wurde hoch und heilig versichert, daß man die
Kennummern nicht notierte), um einen »vorläufigen Ausweis« zu erhalten - kurz
und gut, Roissy wurde offiziell ignoriert, offiziös geduldet. Einer der Gründe
dafür war zweifellos (außer jenen, auf die die erwähnte Überwachung schließen
läßt), daß es niemals Beschwerden wegen venerischer Ansteckung noch Ärgernisse
mit Schwangerschaften und Abtreibungen gegeben hatte. O hatte sich immer
gefragt, wie sich die Mädchen, wenn sie manchmal mit zehn Männern pro Tag
schliefen, die keinerlei Behinderung duldeten, vor Schwangerschaften schützten.
Alle konnten nicht wie sie vom Zufall begünstigt sein; eine Verlagerung, die
das Risiko praktisch ausschloß. »Man kann dem Zufall nachhelfen, O«, sagte
Anne-Marie, als sie ihr die Frage stellte. Woraus sie schloß, daß Anne-Marie,
die Ärztin war, die Mädchen von Roissy heimlich operiert hatte. Bei keiner von
ihnen bemerkte man jemals das bange Aussehen von Frauen, bei denen sich die
Regel verspätet. »Ach, das ist gar nicht schlimm, und man ist beruhigt, weißt
du«, sagte Noelle eines Tages, »aber ich kann es dir nicht erklären, ich bin
eingeschläfert worden.« O vermutete, daß es verboten war, darüber zu sprechen.
Sich vor Ansteckung zu schützen war schwieriger: die Tabletten, die man sich
auflösen ließ, die prophylaktischen Maßnahmen, die Duschen. Die größte
Ansteckungsgefahr war am Mund: das Rouge, das das Rissigwerden der Lippen
verhinderte, trug dazu bei, diese Gefahr zu verringern. Außerdem untersuchte
Anne-Marie die Mädchen jeden Tag. Sie wurden gepflegt, notfalls isoliert - in
Zimmern, die unter ihrer Wohnung lagen, bis sie geheilt waren. Die Mädchen, die
von ihrem Geliebten hergebracht worden waren, unterlagen dieser Pflege und
diesen Zwangsmaßnahmen nicht: es ging auf ihr Risiko, und außerdem kamen sie
aus der großen Klausur nicht heraus. Was die anderen betraf, so vermochte O nie
ganz zu begreifen, wovon es abhing, in welchem Ausmaß sie innerhalb der Gitter
und in welchem Ausmaß sie außerhalb eingesetzt wurde. Einesteils gab es einen
festgelegten Dienstplan für das, was in Uniform zu erledigen war; so und so
viele Tage Dienst im Restaurant; desgleichen, in Abendkleidern, so und so viele
Nachmittage oder so und so viele Abende in der Bar anwesend zu sein. Indessen
wurden die Bar und das Restaurant sowohl von Gästen als auch von den
Klubmitgliedern aufgesucht, und nichts hinderte die letzteren, ein Mädchen zu
nehmen und wieder in den Bereich der Gittertüren zu bringen. Andererseits
schien es ganz nach Lust und Laune zu gehen: ein Beispiel dafür war die
Tatsache, daß, als ein Diener kam, um zwei Mädchen für die Bar aufzufordern,
Noelle und O dazu bestimmt wurden, und nicht Monique oder Madeleine.
Als O Noelle folgte und zum erstenmal die Bar betrat, alle beide in Mantille,
fiel ihr auf, wie ähnlich dieser Raum der Bibliothek war, aus der sie gerade
kamen: dieselben Abmessungen, dieselbe Holzverkleidung, dieselben Sessel. Die
hübsche kleine Rothaarige, die wie O Eisen trug und epiliert war und die O
einmal bei Anne-Marie mit einem so verwunderten Vergnügen gepeitscht hatte,
kauerte, in grauen Satin gekleidet, auf einem hohen Barhocker und lachte mit
zwei Männern. Als sie O sah, sprang sie herunter, um sie zu umarmen, faßte sie
um die Taille und kam mit ihr zurück. »Das ist O«, sagte sie, »wollen Sie sie
einladen? Sie werden keine bessere finden.« Und durch den schwarzen Tüll küßte
sie eine von Os Brustspitzen. »Sie verraten Ihre Namen nicht«, sagte sie zu O,
»aber sie sehen nett aus, findest du nicht?« Nett - nein, das war lächerlich.
Sie sahen zugleich verlegen und ordinär aus, und ihr dritter Aperitif hatte
nicht ausgereicht, ihnen Selbstvertrauen einzuflößen. Als O ihr Glas von der
Theke nehmen wollte, streifte ihr Arm das Knie des rechts von ihr Sitzenden: er
faßte nach ihrem beringten Handgelenk und fragte, warum sie alle eiserne
Armbänder trügen. »Als ob sie das nicht wüßten!« rief Yvonne. »Das macht
nichts. Wir erklären es ihnen beim Essen. Los, kommt.« Dann sah sie, daß sich
der Mann, der gefragt hatte, als er von seinem Hocker herunterkletterte,
bemühte, dem anderen ein Zeichen zu geben, und sagte zu O: »Gib ihm schnell die
Hand, dann kann er nicht sagen, daß du ihm nicht gefällst.« Im Restaurant
nahmen sie zu viert einen Tisch. Die drei Männer, die Noelle beschlafen hatten,
aßen zusammen an einem benachbarten Tisch. Noelle war, nachdem O sie verlassen
hatte, fünf Minuten später durch die Tür verschwunden, die zu den Zimmern führte,
gefolgt von einem Mann, der wie ein feister Syrer aussah. Franck kam gerade in
dem Augenblick, als Yvonne und O, die keinen Likör getrunken hatten, darauf
warteten, daß die Männer mit ihrem Cognac fertig würden. Er winkte O
unauffällig zu und setzte sich allein in die Nähe eines Fensters. Aber O, die
ihn etwas schräg von der Seite sah, bemerkte, daß er sofort, als das Mädchen,
das ihn bedienen sollte, an seinen Tisch trat, mit der Hand in den Schlitz
ihres Rocks gefahren war. Das war im Restaurant oder in der Bar, vorausgesetzt,
es geschah diskret, die einzige Freiheit, die man sich herausnehmen durfte.
Schließlich kam der Moment, an dem Yvonne fragte: »Wollen wir hinaufgehen?« Ein
Hotelpage öffnete die beiden nebeneinander liegenden Zimmer, wies auf das
Telefon und die Klingel hin und schloß die Tür. Ohne daß sie darum gebeten
worden wäre, nahm O ihre Mantille ab und ging auf ihren Kunden zu, um ihm ihre
Brüste darzubieten. Er saß auf einem Stuhl; der dreiteilige Spiegel, der in
allen Zimmern an einer Seitenwand befestigt war, reflektierte sein Bild, und O,
die ganz angezogen zwischen seinen Knien stand und sich vorbeugte, um es ihm
bequemer zu machen, wunderte sich, daß sie es ganz natürlich fand, diesem
Unbekannten ihre Brust hinzustrecken. Seit dem Morgen waren vier Männer, wie
Anne-Marie sich ausdrückte, in ihren Körper eingedrungen: Sir Stephen, der
Fahrer des Wagens, Franck und der Diener José. Dieser hier würde der fünfte
sein: dieselbe Zahl wie Monique. Aber dieser würde bezahlen. Er sagte ihr, sie
solle sich ausziehen, und als er sie im Korsett sah, hieß er sie innehalten.
Ihre Eisen (von denen Yvonne nicht gesprochen hatte, als sie, da sie nichts
weiter gefragt, wurde, erklärte: »unsere Armbänder sind dazu da, uns
anzuketten, wenn wir gepeitscht werden«), ihre Eisen verblüfften ihn, und
ebenso die beiden Wege, die sich ihm boten, als er O, die rücklings auf der
Bettkante lag, unterhalb der Kniekehlen packte. Kaum hatte er sich aus ihr
zurückgezogen, da sagte er: »Wenn du lieb bist, gebe ich dir ein gutes
Trinkgeld.« Sie kniete sich hin. Er ging, ehe sie wieder angezogen war, und
ließ eine Handvoll Scheine auf dem Kaminsims: ein Drittel von dem, was sie im
Monat im Studio in der Rue Royale verdiente. Sie wusch sich, zog ihr Kleid
wieder an, steckte die gefalteten Geldscheine unter ihr Korsett in die Höhlung
zwischen ihren Brüsten und ging hinunter. Im übrigen hatte sie sich getäuscht,
als sie annahm, sie habe dieselbe Zahl erreicht wie Monique: sie wurde, kaum
daß sie in die Bar gekommen war, von einem weiteren Kunden erwählt, wieder in
ein Zimmer geführt und ein sechstes Mal genommen.
Im Dunkeln, angekettet an dem Haken über ihrem Bett - wie damals in dem Zimmer
vom vergangenen Jahr, von dem sie nicht wußte, wer es jetzt bewohnte - als sie
im Dunkeln lag und nicht schlafen konnte, fragte sie sich zum hundertsten Male,
warum jeder beliebige, ob sie nun dabei Lust empfand oder nicht, durch die
Tatsache, daß er in sie eindrang oder sie nur mit der Hand öffnete oder sie
schlug oder sogar bloß nackt auszog, die Macht hatte, sie sich Untertan zu
machen. Von der anderen Seite der Trennwand, die dünn wie eine spanische Wand
war und nicht länger als die Breite des Betts und der Nachttische, hörte sie,
wie Noelle sich bewegte, die auch nicht schlief. Sie rief sie. Ob Noelle sich
auch so unterworfen vorkomme, so besiegt und geknechtet wie sie, sobald man sie
berühre? Noelle war entrüstet. Unterworfen, geknechtet? Sie tat, was nötig war,
das war alles. Und besiegt? Warum besiegt? O sei sehr schwierig. Noelle fand es
schmeichelhaft, wie Männer vor ihr steif wurden, manchmal fand sie es angenehm
und immer amüsant, für sie die Beine oder den Mund zu öffnen. »Selbst bei dem
Syrer heute abend?« fragte O. »Welchem Syrer?« sagte Noelle. »Diesem
schwarzhaarigen, krausköpfigen mit dem gewaltigen Bauch, mit dem du
hinaufgegangen bist, als wir in die Bar kamen.« Man kann es also vergessen,
sagte sich O. Aber nein, Noelle antwortete: »Oh, wenn du den nackt gesehen
hättest: ein fettes Schwein.« - »Siehst du wohl«, sagte O. - »Ach nein«,
erwiderte Noelle, »was macht das schon. Er hat mich eine halbe Stunde lang
geleckt, weil er in meinen Hintern wollte, ich auf allen Vieren natürlich. Er
bezahlt gut, weißt du.« Auch O war gut bezahlt worden, das Geld lag in der
Schublade eines der Nachttische. »Noelle«, sagte O, »wenn man dich peitscht,
findest du das auch noch amüsant?« - »Ja, ein bißchen, und ich werde immer nur
ein bißchen gepeitscht.« O hätte fast gesagt: »Du hast Glück«, aber dann merkte
sie, daß sie ganz und gar nicht glaubte, daß das Glück sei. Sie wollte Noelle
fragen, warum sie immer nur ein bißchen gepeitscht werde, und was sie von den
Ketten halte, und ob die Diener - aber Noelle drehte sich im Bett um und
ächzte: »Ach, bin ich müde! Mach nicht so viel Gerede, O, schlafe.« Sie sagte
nichts mehr.
Am Morgen kam um zehn Uhr ein Diener, um ihnen die Ketten abzunehmen. Wenn das
Bad genommen, die Toilette gemacht, die Untersuchung durch Anne-Marie vorbei
war, sofern man nicht Dienst in den Zimmern der großen Klausur hatte, und in
diesem Fall mußten die Mädchen sofort ihre Uniform anziehen, stand es den
Mädchen frei, sich anzuziehen oder nicht, bis es Zeit war, daß diejenigen, die
an der Reihe waren, ins Restaurant oder in die Bar gingen und die anderen ins
Refektorium. Aber diejenigen, die ins Refektorium gingen, zogen sich nicht an:
wozu, wenn man dort ja doch nackt sein mußte? In einer Anrichte auf der Etage
konnte man frühstücken. Die Türen blieben zum Korridor offen, und es war
erlaubt, von einem zum anderen zu gehen. Nur O, Yvonne und das dritte Mädchen,
das wie sie Eisen trug, Julienne, wurden vormittags gerufen, um gepeitscht zu
werden. Die Peitsche wurde ihnen der Reihe nach auf dem Etagenpodest
verabfolgt, über das Treppengeländer gebeugt und angebunden, niemals heftig genug,
um sie zu zeichnen, immer lange genug, um ihnen Schreie, Flehen und manchmal
Tränen zu entlocken.
Am ersten Morgen fiel O, nachdem sie losgebunden worden war, stöhnend auf ihr
Bett, so brannten ihre Lenden noch. Noelle nahm sie in den Arm, um sie zu trösten.
Ihre Freundlichkeit enthielt eine Spur Verachtung. Warum hatte sie sich
bereitgefunden, die Eisen zu tragen? O gab bereitwillig zu, daß sie glücklich
darüber sei, und daß ihr Geliebter sie jeden Tag peitsche. »Dann bist du ja
dran gewöhnt«, sagte Noelle. »Beklage dich nicht, es würde dir fehlen.« -
»Vielleicht«, sagte O. »Und ich beklage mich auch nicht. Aber gewöhnen, ach
nein, gewöhnen kann ich mich nicht daran ...«. »Na, du wirst es müssen, denn es
wäre seltsam, wenn du hier nur einmal am Tag gepeitscht würdest. Bei Mädchen
wie dir sehen die Männer sofort, daß es darum gemacht wird. Deine Ringe am
Schoß, deine Brandzeichen ... ganz zu schweigen von dem, was auf deiner
Karteikarte stehen wird.« - »Auf meiner Karteikarte?« fragte O. »Was für eine Karteikarte,
was willst du damit sagen?« - »Du hast deine Karteikarte noch nicht, aber
beruhige dich, das wird draufstehen, wenn du sie bekommst.«
Als O drei Tage später bei Anne-Marie zum Mittagessen war, fragte sie sie nach
der Karteikarte, und Anne-Marie erklärte ihr die Sache bereitwillig. »Ich warte
noch auf deine Photos; auf die Rückseite der Karteikarte, die mir Sir Stephen
schicken wird, werden nicht Auskünfte über dich persönlich eingetragen, ich
meine, nicht deine Maße, deine Personenbeschreibung, dein Alter, nein, sondern
deine Besonderheiten und deine Verwendung ... Ach, das läßt sich immer in zwei
Zeilen zusammenfassen, und ich weiß, was er sagen wird.« Die Photos von O waren
eines Vormittags im Dachgeschoß des rechten Flügels aufgenommen worden in einem
Studio, das demjenigen ganz ähnlich war, in dem sie gearbeitet hatte. O war
geschminkt worden, wie sie die Mannequins in jener Zeit geschminkt hatte, die
ihr weiter zurückzuliegen schien als ihre Kindheit. Sie war in ihrer Uniform
photographiert worden, in ihrem langen gelben Kleid, sie war mit hochgerafftem
Kleid photographiert worden, sie war nackt, von vorn, von hinten und im Profil
photographiert worden: stehend, liegend, halb rücklings auf einem Tisch und die
Beine geöffnet, gebückt und die Kruppe gespannt, auf den Knien und mit
gefesselten Händen. Ob alle diese Bilder aufgehoben werden? »Ja«, sagte
Anne-Marie. »Sie kommen in dein Dossier. Von den besten werden Abzüge für die
Kunden gemacht.« Als Anne-Marie sie ihr am übernächsten Tag zeigte, war sie
entsetzt; dabei waren sie hübsch; nicht eins, das nicht in den Alben hätte
aufgenommen werden können, die mehr oder weniger verstohlen an den Kiosken
verkauft wurden. Aber das einzige, von dem O den Eindruck hatte, daß man sie
darauf erkennen könne, war ein Photo, auf dem sie nackt war, von vorn
aufgenommen, an eine Tischkante gelehnt, die Hände unter den Lenden, die Knie
gespreizt, ihre Eisen gut sichtbar zwischen den Schenkeln und die Spalte ihres
Schoßes ebenso deutlich wie ihr leicht geöffneter Mund. Sie blickte geradeaus,
das Gesicht versunken und verstört. Sie täuschte sich wohl nicht, wenn sie sich
wiedererkannte. »Vor allem dieses«, sagte Anne-Marie, »wird weitergegeben. Du
kannst dir die Rückseite ansehen, oder lieber nicht, ich werde dir erst die
Karteikarte von Sir Stephen zeigen.« Sie stand auf, öffnete die Schublade eines
Sekretärs und reichte O eine kleine Karte, auf der in roter Tinte in Sir
Stephens Handschrift ihr Name stand: O, und der Vermerk: »Eisen, Brandmale.
Mund gut gedrillt.« Darunter und unterstrichen: »Zu peitschen.« - »Dreh jetzt
das Photo um«, sagte Anne-Marie. Der ganze Text war auf die Rückseite des
Photos übertragen worden. Was dort stand, hatte Sir Stephen jedesmal vor O
ausgesprochen, in noch gröberen Ausdrücken, wenn er sie einem anderen zur
Verfügung stellte, und er hatte es auch nicht vor ihr verheimlicht, wenn er
einfach mit seinen Freunden über sie sprach. O erfuhr, daß die Photos, zwei
oder drei von jedem Mädchen, in den Alben mit losen Blättern waren, in die
jeder in der Bar oder im Restaurant Einblick nehmen konnte. »Das ist auch das
Bild, das Sir Stephen am besten gefällt«, sagte Anne-Marie, »und dann dieses«
(auf dem O mit geschürztem Rock kniete). »Aber hat er sie denn gesehen?« rief
O. - »Ja, er ist gestern gekommen, er hat die Karteikarte hier ausgestellt.« -
»Aber wann denn gestern?« fragte O, ganz bleich, und sie spürte, wie sich ihr
die Kehle zuschnürte und die Tränen aufstiegen. »Wann denn, und warum hat er
mich nicht gesehen?« - »Oh, er hat dich gesehen«, sagte Anne-Marie. »Ich bin
gestern mit ihm in die Bibliothek gegangen, als du da warst. Du warst bei dem
Kommandeur. Nur er und du waren im Raum, aber wir wollten nicht stören.«
Gestern, gestern nachmittag in der Bibliothek, O auf den Knien, ihr grün-blaues
Kleid über die Lenden gerafft... Sie hatte sich nicht gerührt, als sich die Tür
öffnete: sie hatte das Geschlecht des Kommandeurs im Mund. »Warum weinst du?«
fragte Anne-Marie. »Er hat dich sehr hübsch gefunden. Weine doch nicht, du
kleine Närrin.« Doch O konnte ihre Tränen nicht aufhalten. »Warum hat er mich
nicht gerufen? Ist er gleich wieder abgefahren, was hat er gemacht, warum hat
er mir nichts gesagt?« stöhnte sie. - »Ach, er muß dir wohl Rechenschaft
ablegen. Ich dachte, er hätte dich besser erzogen. Du verdientest ...«
Anne-Marie unterbrach sich: es wurde an ihre Tür geklopft. Es war jener, der
Hausherr von Roissy genannt wurde. Bisher hatte er von O keine Notiz genommen
und sie nicht angerührt. Aber zweifellos war sie besonders rührend oder aufreizend,
so niedergeschlagen, bleich und nackt, mit feuchtem Mund und zitternd. Als
Anne-Marie sie wegschickte und ihr befahl, sich anzuziehen, berichtigte er
diese Anweisung: »Nein, sie soll im Flur auf mich warten.«
Als ihr Kummer am größten war, wurde O ein wenig besänftigt durch einen
Umstand, bei dem es schien, als könne ihr im Grunde nichts davon angenehm sein:
es war die Ankunft des vermeintlichen Deutschen, dem sie schon in Gegenwart von
Sir Stephen mehrmals angehört hatte. Gewiß, er hatte nichts Einnehmendes: er
sah brutal, lüstern und verachtungsvoll aus und hatte die Hände und die Sprache
eines Kutschers. Aber er sagte O, die er hatte rufen lassen und in der Bar
erwartete, daß er im Auftrag von Sir Stephen komme, und lud sie zum Essen ein.
Gleichzeitig überreichte er ihr einen Briefumschlag. O erinnerte sich, und das
Herz krampfte sich ihr bei diesem Gedanken zusammen, an den Briefumschlag, den
sie an dem Morgen auf dem Tisch in Sir Stephens Salon gefunden hatte, als sie
die erste Nacht bei ihm verbracht hatte. Sie öffnete den Umschlag: es war
tatsächlich ein Briefchen von Sir Stephen, der ihr schrieb, sie solle dafür
sorgen, daß Carl Lust verspüre, wiederzukommen, ebenso wie er ihr auf der Reise
eingeschärft hatte, ihn in ihr Abteil zu locken. Und er dankte ihr dafür. Carl
kannte offenbar den Inhalt des Briefes nicht. Sir Stephen mußte ihm etwas
anderes gesagt haben. O steckte den Bogen wieder in den Umschlag; als sie ihn
ansah - er saß auf einem Barhocker (sie stand vor ihm) - sagte er mit seiner
rauhen und schleppenden Stimme, die durch die Schwierigkeit, sich auf
Französisch auszudrücken, und seinen germanischen Akzent noch bedächtiger
klang: »Sie werden also gehorchen?« - »Ja«, sagte O. Oh ja, sie würde
gehorchen! Er sollte ruhig glauben, daß sie ihm gehorchen würde. An Carl lag
ihr gar nichts, aber daran, daß Sir Stephen, auf welche Weise auch immer, sich
ihrer für seine Zwecke bediente, was diese Zwecke auch sein mochten! Sie sah
Carl voll Sanftmut an: wenn sie es fertigbrächte, daß er Lust verspürt,
wiederzukommen - daß Sir Stephen ihn in Paris festhalten wollte, das zumindest
begriff sie, warum, das war ihr gleichgültig - wenn sie es fertigbrächte, würde
Sir Stephen sie vielleicht belohnen, und vielleicht käme er sogar her.
Sie raffte die raschelnde Seide ihres Kleides zusammen, lächelte dem Deutschen
zu und ging ihm voran ins Restaurant. Lag es an ihrer Sanftmut, die, wenn sie
es wollte, sehr anmutig war, lag es an ihrem Lächeln, jedenfalls war sie
überrascht, wie schnell das Eis schmolz, unter dem Carls Gesicht erstarrt war.
Er bemühte sich während des Essens, höflich mit ihr zu plaudern. In einer
halben Stunde erfuhr O mehr über ihn, als Sir Stephen ihr je erzählt hatte: daß
er Flame sei, Geschäftsanteile im belgischen Kongo besitze, daß er drei- oder
viermal im Jahr nach Afrika fliege und die Minen sehr viel Geld abwerfen. »Was
für Minen?« fragte O. Aber er antwortete nicht. Er trank viel und hatte den
Blick bald auf Os Lippen, bald auf ihre Brüste gerichtet, die sich unter der
Spitze bewegten und von denen man manchmal durch eine Masche - so groß waren
die Maschen - die geschminkte Spitze sah. Im Büro, in das O ihn dann führte,
damit er ein Zimmer bestelle, sagte er: »Lassen Sie mir einen Whisky
hinaufbringen und einen Stock.« Nachdem er sie genommen hatte, wie der Syrer
Noelle genommen hatte und wie ja O selbst schon in Gegenwart von Sir Stephen
von ihm genommen worden war, nachdem er sich von ihr hatte streicheln lassen
und als er zum dritten Mal den Reitstock hob und Os Hände ergriff, die wider Willen
flehentlich versuchte, seinen Arm aufzuhalten, da las O in seinen Augen eine so
unbändige Lust, daß sie wußte, sie habe nicht das mindeste Mitleid von ihm zu
erwarten (was sie auch niemals erhofft hatte), aber sie wußte auch und vor
allem, daß er wiederkommen würde.
Es geschah selten, daß Klubmitglieder oder Gäste, von einer Frau begleitet, ins
Restaurant oder in die Bar gingen, aber dann und wann geschah es doch.
Vorausgesetzt, sie waren in Begleitung eines Mannes, war Frauen der Eintritt
nicht verboten, nicht einmal das Betreten der Zimmer. Der Mann, der sie
mitbrachte, brauchte auch nicht extra zu bezahlen, nur ihre Getränke und die
Mahlzeiten; auch ihren Namen brauchte er nicht anzugeben. Der einzige
Unterschied, der in dieser Beziehung zwischen Roissy und einem gewöhnlichen
Stundenhotel bestand, war, daß man zugleich mit dem Zimmer ein Mädchen nehmen
mußte. In dem großen, überheizten Saal, wo gewaltige Philodendren und Farne an
einer der Wände einen Treibhausgeruch verbreiteten, legten sie ihre Pelzmäntel
und manchmal sogar ihre Kostümjacken ab. Ihr sicheres Auftreten, das vielleicht
ihre Verlegenheit verbarg, ihre Neugier, die sie mit Unverschämtheit zu
bemänteln trachteten, ihr Lächeln, das sie recht verächtlich zu machen
versuchten und das gewiß oft mit wirklicher Verachtung gepaart war, erregten
den Groll der Mädchen und amüsierten diejenigen der anwesenden Männer, die
Stammgäste in Roissy waren, Mitglieder oder Kunden.
Während der acht Tage, an denen O mittags Dienst im Restaurant hatte, kamen drei
Frauen an verschiedenen Tagen. Die dritte, die O sah, eine große, blonde, war
in Begleitung eines jungen Mannes, der O schon an der Bar aufgefallen war. Sie
setzten sich an einen der Tische, die von ihr betreut wurden, in einer Nische
in der Nähe des Fensters. Fast sofort gesellte sich ein Klubmitglied mit Namen
Michel zu ihnen und gab O ein Zeichen, sie solle kommen. Michel hatte einmal
mit O geschlafen. Als der Mann ihn der jungen Frau vorstellte, hörte O, wie er
hinzufügte: »meine Frau«. Sie trug einen Ehering, mit kleinen Diamanten
besetzt, und einen fast schwarzen Saphir. Michel verbeugte sich und nahm Platz,
und als der Oberkellner die Bestellung entgegengenommen hatte, sagte er zu O,
die wartete: »Bring Madame das Album.« Die junge Frau blätterte mit
gleichgültiger Miene in dem Album und wollte zweifellos Os Bild übergehen und
so tun, als erkenne sie sie nicht, als ihr Mann sagte: »Ach, sieh mal, da ist
ja diese hier, sie ist sehr ähnlich.« Die junge Frau sah O an, ohne zu lächeln.
»Wirklich?« fragte sie. »Blättern Sie die nächste Seite um«, sagte Michel.
»Hast du die Bemerkung gelesen?« fragte ihr Mann. Sie klappte das Album zu und
gab keine Antwort. Aber als O, die den ersten Gang geholt hatte, zum Tisch
zurückkam, sah sie, daß sich die junge Frau angeregt unterhielt und Michel
lachte. Dann schwiegen sie jedesmal, wenn O in der Nähe war, indes nicht rasch
genug, als sie den Kaffee brachte, denn sie hörte, wie der Ehemann drängte:
»Nun los, entscheide dich.« Michel fügte etwas hinzu, was O nicht verstand, und
die junge Frau zuckte die Schultern. Im Zimmer zog sie sich nicht aus, mit
ihren knöchernen Händen berührte sie O leicht, die die Klauen eines großen
Vogels auf ihrer Haut zu spüren glaubte, dann sah sie zu, wie O ihren Mann
streichelte und sich ihm hingab. Als sie gingen und O nackt zurückließen,
hatten sie sie nicht geschlagen, nicht mißhandelt, nicht beleidigt. Sie hatten
höflich mit ihr gesprochen. Niemals hatte sie sich mehr gedemütigt gefühlt.
»Diese Weiber«, sagte Noelle, die O mit dem Ehepaar hatte weggehen sehen, sie
darüber befragte und dann erfuhr, was vorgegangen sei und welchen Eindruck O
gehabt habe, »diese Weiber sind ebensolche Nutten wie wir, das kannst du mir
glauben, sonst würden sie nicht herkommen, aber sie bilden sich ein, wer weiß
was zu sein! Wenn ich könnte, würde ich sie ohrfeigen.« Diese Ansicht über die
Frauen, die als Gäste hier waren, war beharrlich und einhellig. Wenn indessen
Noelle - und übrigens auch alle anderen Mädchen und O - diejenigen Mädchen
beneideten, die durch ihren Geliebten nach Roissy gebracht worden waren, dann
einzig und allein um des Interesses willen, das ihr Geliebter ihnen
entgegenbrachte, und ohne den geringsten Groll oder wirkliche Eifersucht. O
hatte bei ihrem ersten Aufenthalt nicht geahnt, welches Verlangen sie bei
diesen Mädchen erweckt haben mußte, das Verlangen, mit ihr zu reden, ihr zu
helfen, zu erfahren, wer sie sei, sie zu umarmen, diese Mädchen, die sie bei
ihrer Ankunft ausgezogen, gewaschen, frisiert, geschminkt und ihr das Korsett und
das Kleid wieder angezogen hatten, die sich dann Tag für Tag um sie gekümmert
und so vergeblich versucht hatten, mit ihr zu sprechen, wenn sie sich nicht
überwacht glaubten; um so vergeblicher, als sie niemals versucht hatte, ihnen
zu antworten. Als sie an der Reihe war, den sogenannten Zimmerdienst zu
versehen, das heißt, daß sie sich in Begleitung von Noelle in die Zimmer der
großen Klausur zu begeben hatte, um den dort untergebrachten Mädchen bei der
Toilette zu helfen, war O dermaßen verwirrt durch diese Art von
vervielfältigtem Abklatsch, durch diese in mehreren Exemplaren vorhandene
Inkarnation dessen, was sie selbst gewesen war und das man ihr jetzt wieder in
die Hände gab, daß sie die Schwelle der roten Zimmer nie ohne Zittern
überschritt. Denn alle diese Zimmer waren rot. Was sie am meisten betrübte,
war, daß es ihr nie gelang, mit Sicherheit dasjenige wiederzufinden, das einst
das ihre gewesen war. Das dritte? Die große Pappel rauschte vor dem Fenster.
Die bleichen Astern, die sich den ganzen Herbst über halten würden, blühten,
wie es sich gehörte. Es war September, Tag- und Nachtgleiche. Aber das fünfte
Zimmer hatte auch seine Pappel und seine Astern. O war mit einem zierlichen
Mädchen beschäftigt, weiß vor der scharlachroten Tapete, zitternd, ihre
Schenkel trugen zum ersten Mal die violetten Striemen des Reitstocks. Sie hieß
Claude. Ihr Geliebter war ein magerer junger Mann in den Dreißigern, der die
Ligende an den Schultern hielt, wie René O gehalten hatte, und sie voll
Leidenschaft anblickte, als sie ihren flaumigen, brennenden Schoß einem Mann
öffnete, den sie noch nie gesehen hatte und unter dem sie stöhnte. Noelle wusch
sie. O schminkte sie, schnürte ihr das Korsett, zog ihr das Kleid an. Sie hatte
zarte Brüste mit rosigen Spitzen und runde Knie. Und war stumm und verstört.
Sie und die Mädchen, die gleich ihr den Mitgliedern gehörten, die sich allein
in sie teilten, diese Mädchen, die sich schweigend hingaben und, sobald man sie
als ausreichend bereit und gedrillt ansah, Roissy verlassen würden, den
eisernen Ring am Finger, um außerhalb von Roissy durch ihren Geliebten
prostituiert zu werden, allein zu seiner Lust, diese Mädchen waren für die
Mädchen, die in Roissy selbst innerhalb der Gittertüren prostituiert wurden,
für Geld und zu Nutz und Frommen und zum Vergnügen der Klubmitglieder statt
eines einzigen Mannes, der sie liebte - für diese Mädchen waren jene in den
roten Zimmern ein Gegenstand der Neugier und nicht enden wollender Mutmaßungen.
Würden sie nach Roissy zurückkehren? Würden sie, wenn sie zurückkehrten, in der
großen Klausur eingeschlossen oder, und sei es auch nur für einige Tage, vom
Schweigegebot entbunden und in die Gemeinschaft aufgenommen werden? Einmal war
es vorgekommen, daß ein Mädchen von ihrem Geliebten sechs Monate in der Klausur
gelassen, dann mitgenommen und niemals wieder zurückgebracht worden war. O fand
aber Jeanne wieder, die ein Jahr in der Gemeinschaft geblieben, dann
fortgegangen und später wiedergekommen war, Jeanne, die René vor ihren Augen
liebkost hatte und die O so voller Bewunderung und Neid betrachtet hatte.
Geschlagen und angekettet wie die anderen, waren die Mädchen der Gemeinschaft
dennoch frei. Nicht insofern frei, als sie nicht geschlagen würden, wenn sie da
waren, aber insofern, als es ihnen freistand, wegzugehen, wenn sie wollten.
Jene, die am seltensten weggingen, wurden am grausamsten behandelt. Noelle
blieb zwei Monate, war drei Monate fort und kam wieder, als sie kein Geld mehr
hatte. Aber Yvonne und Julienne, die wie O jeden Tag gepeitscht wurden und
zwar, wie Noelle es vorausgesagt hatte, oft mehrmals an einem Tage, Yvonne,
Julienne und O waren ebenso freiwillige Gefangene wie die Mädchen in der großen
Klausur.
Nachdem sechs Wochen vergangen waren, während derer sie trotz der tagtäglichen
Enttäuschung nicht aufgehört hatte zu hoffen, daß Sir Stephen kommen werde,
merkte O, daß, wenn die Zahl der Mitglieder, die mehrere Tage hintereinander
nach Roissy kamen oder hier blieben, nicht klein war, etwas Entsprechendes bei
den Kunden vorging. Infolgedessen bürgerten sich Vorlieben oder Gewohnheiten
ein (wie sie sich auch bei den Dienern einbürgerten, so daß es häufig dasselbe
Mädchen war, das derselbe Diener im Refektorium nahm: O etwa: sie mußte sich
rittlings auf José setzen, der sie mit den Händen an der Taille und den Lenden
hielt, und sie ähnelte, da sie sich kaum zurücklehnte, der ohnmächtigen Frau
der hinduistischen Statuetten, die der Gott Siva nahm), und O bemerkte, daß
Carl häufig wiederkam: nicht so sehr deswegen fiel es ihr auf, weil er manchmal
vier Tage hintereinander kam und sie immer für den Abend und gegen neun Uhr
anforderte, sondern deswegen, weil sie jedesmal versuchte, ihn dazu zu bringen,
von Sir Stephen zu sprechen. Er war selten dazu bereit und erzählte immer eher
das, was er, Carl, zu Sir Stephen (in bezug auf O) gesagt hatte, als was Sir
Stephen geantwortet hatte. Nicht ein einziges Mal ließ er Geld für O da. Nicht,
daß ihm etwa der Brauch unbekannt war. Eines Abends hatte er zusammen mit O
noch ein Mädchen hinaufkommen lassen, das zufällig Jeanne war. Er schickte sie
sehr rasch wieder weg und behielt O, aber er schickte sie mit einer Handvoll
Geldscheine weg. Für O nichts. Auch verstand sie nicht, was an einem
Oktoberabend geschah, als er, statt, wie es seine Gewohnheit war, wegzugehen,
ihr sagte, sie solle sich wieder anziehen, wartete, bis sie fertig war, und ihr
ein langes Etui aus blauem Leder überreichte. O öffnete es: es enthielt einen
Ring, ein Halsband und zwei Armreifen aus Diamanten. »Du wirst sie an Stelle
derjenigen tragen, die du jetzt hast«, sagte er, »wenn ich dich mitnehme.« -
»Mich mitnehmen?« fragte O. »Wohin? Sie können mich doch gar nicht mitnehmen.«
- »Zuerst werde ich dich nach Afrika mitnehmen«, sagte er, »und dann nach
Amerika.« - »Aber das können Sie doch nicht«, wiederholte O. Carl machte eine
Handbewegung, als wolle er sie zum Schweigen bringen: »Ich werde mich mit Sir
Stephen einigen und dich mitnehmen.« - »Aber ich will nicht«, rief O, plötzlich
von Panik ergriffen, »ich will nicht, ich will nicht.« - »Doch, du wirst
wollen«, sagte Carl. Und O dachte: »Ich werde weglaufen, ach nein, er nicht,
ich werde weglaufen.« Das Etui lag offen auf dem verwühlten Bett, die
Schmuckstücke, die O nicht tragen konnte, schimmerten zwischen den
unordentlichen Laken, ein Vermögen. »Ich werde mit den Diamanten weglaufen«,
sagte sich O und lächelte ihm zu.
Er kam nicht wieder. Zehn Tage später, als sie am frühen Nachmittag in ihrem
gelbgrauen Kleid des ersten Tages darauf wartete, daß ihr ein Diener die kleine
Gittertür aufschließe, damit sie in die Bibliothek gehen könne, hörte sie
jemanden hinter sich rennen und drehte sich um: es war Anne-Marie, die eine
Zeitung in der Hand hielt und sie ihr hinstreckte, so bleich, wie O sie nie
gesehen hatte. »Sieh dir das an«, sagte sie. Os Herz krampfte sich in der Brust
zusammen: auf der ersten Seite ein verstörtes Gesicht, der Mund halboffen,
Augen, die starr geradeaus sehen: sein Gesicht. Eine Balkenüberschrift: »Wer
ist die nackte Frau des Verbrechens von Franchard?« - »Alpinisten«, hieß es in
dem Artikel, »die in den Schluchten von Franchard im Wald von Fontainebleau
trainierten, haben, durch das Bellen eines Hundes aufmerksam geworden, im
Unterholz die Leiche eines durch einen Genickschuß getöteten Mannes entdeckt.
Der Unbekannte, der Ausländer zu sein scheint, war seiner sämtlichen Papiere
beraubt worden. Nur eine durch eine schadhafte Tasche in das Jackenfutter
gerutschte Photographie einer völlig nackten Frau ist bei ihm gefunden worden,
nach gewissen Anzeichen wahrscheinlich eine Prostituierte, die die Polizei
sucht.« Die nachfolgende Personenbeschreibung nahm O jeden Zweifel; es war
Carl. »Du verstehst, wer das sein kann?« fragte Anne-Marie. »Oh ja«, sagte O.
»Sir Stephen ... Man darf nichts sagen.« - »Doch«, sagte Anne-Marie, »aber du
brauchst nicht zu sagen, daß Sir Stephen dich hierher geschickt hat. Immerhin
kann es sein, daß es bekannt wird.« Als die Polizei nach Roissy kam, war Carl
an Hand der Etiketten in seinem Anzug und seiner Wäsche durch seinen Schneider
und die Kellner seines Hotels identifiziert worden. O wurde nur vernommen, um
die Ermittlung zu ergänzen, und eigentlich mehr über Sir Stephen. Man wußte,
daß er mit Carl in Verbindung stand. Was für Beziehungen waren das? O wußte es
nicht. Nach dreistündiger Vernehmung hatte O immer noch nichts gesagt und nur
versichert, daß sie Sir Stephen seit zwei Monaten nicht gesehen habe. »Aber
fragen Sie ihn doch selbst«, rief sie schließlich, »und was geht Sie das
überhaupt an?« - »Du hast wohl nicht begriffen, daß dein schöner Freund
wahrscheinlich den Belgier liquidiert hat und darum verschwunden ist. Aber wenn
man es ihm erst nachweist ...« Man wies es ihm nicht nach. Man wußte, daß Carl
mit Bergwerken in Zentralafrika zu tun hatte, in denen seltene Metalle abgebaut
wurden, und nachdem er, ohne dazu berechtigt zu sein, und gegen beträchtliche
Summen (deren Spuren man auf seinen Bankkonten fand, aber die Beträge waren
abgehoben), die Konzessionen oder ihren Ertrag an ausländische Interessenten -
vielleicht englische, vielleicht Sir Stephen -verkauft hatte, nahm man an, daß
er im Begriff war, Europa zu verlassen, und daß sich diese Interessenten, da
sie sich betrogen sahen und ihn nicht gerichtlich belangen konnten, gerächt
hatten. Ob man Sir Stephen die Hand auf die Schulter werde legen können ... das
hänge davon ab, ob er wiederkommt ...
»Du bist jetzt frei, O«, sagte Anne-Marie. »Man kann dir deine Eisen, das
Halsband und die Armreifen abnehmen, die Male entfernen. Du hast Diamanten, du
kannst nach Hause zurückkehren.« O weinte nicht, sie klagte nicht. Sie gab
Anne-Marie keine Antwort. »Aber wenn du willst«, sagte Anne-Marie noch, »kannst
du hier bleiben.«
Pauline Réage
Geschichte der O
Rückkehr nach Roissy
Herbig
"Geschichte der O"
Originaltitel: Histoire d'O
Übertragen aus dem Französischen von
Simon Saint Honoré
"Rückkehr nach Roissy"
Originaltitel: Retour à Roissy
Übertragen aus dem Französischen von
Margaret Carroux
8. Auflage 2000
"Geschichte der O" (c) 1954 by Jean Jacques Pauvert éditeur, Paris
"Rückkehr nach Roissy" (c) 1969 by Jean Jacques Pauvert éditeur,
Paris
Alle deutschen Rechte bei
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Gesamtherstellung: Wiener Verlag, Himberg
Printed in Austria
ISBN 3-7766-0747-5
Pauline Réage
Rückkehr nach Roissy
mit dem Vorwort
Ein verliebtes Mädchen
JOSEPH MELZER VERLAG DARMSTADT
Originaltitel: Retour à Roissy
Aus dem Französischen von Margaret Carroux
REVERS
Der Käufer dieses Buches hat auf einem beigelegten Verpflichtungsschein
versichert, daß er das 21. Lebensjahr vollendet hat, auf den Inhalt des Buches
vorbereitet war und daran keinen Anstoß nimmt. Er hat sich weiterhin
verpflichtet, es vor Jugendlichen unter 21 Jahren unter Verschluß zu halten und
solchen Personen vorzuenthalten, die mit Wahrscheinlichkeit zu einer objektiven
Kenntnisnahme nicht in der Lage sind.
(c) 1969 by Jean Jacques Pauvert
éditeur, Paris.
Alle deutschen Rechte Joseph Melzer Verlag, Darmstadt